Niederländische Religionsgeschichte

Joris van Eijnatten; Fred van Lieburg
Niederländische Religionsgeschichte.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011.
[Übersetzt von Kerstin Hedemann.
486 S. ISBN: 978-3-525-54004-6
gebunden € 79,95]

 

Religion in den Niederlanden: Das Modell einer Europäischen Religionsgeschichte

Zusammengefasst: Lange ein Modell der Integration, stehen die Niederlande für das Aus­­einanderfallen der scheinbar am besten integrierten Europäer: Mord an einem Regisseur, der die Wahrnehmung des Islam auf die Spitze trieb, Wahl eines Rassisten in die Regierung. Misslingt das Modell Europa?

Eine Religionsgeschichte ist mehr und anderes als eine Kirchengeschichte; die Nie­der­­lande sind mehr und anderes als Europa: Besonders die intensive und radikale Reformation, die besondere Erfahrung als Kolonial-Nation, die Mischung und Plura­lität des Erbes des Kolonialismus und die Programme der Apartheid. Die beiden Au­toren sind sich immer bewusst, dass sie nicht einfach Geschichte schreiben, sondern ihre Geschichte ein Argument darstellt in einer Debatte über die besondere Entwick­lung der Niederlande im Kontext der Europäischen Religionsgeschichte.

Im Einzelnen: Schon das Vorwort verspricht kluge Analyse, Problemgeschichte, nicht Erzählung einer von den Kirchen finanzierten ‚eigenen‘ Geschichte. Wann beginnt eine niederländische Identität? Als 1734 Gerüchte umliefen, dass die Katho­liken die Calvinisten ermorden würden, eine niederländische Bartholomäusnacht,[1] da wurde deutlich, dass die Niederländer ihre Identität bewusst als konfessionell geprägt wahrnahmen (241). Die Republik Niederlande war 1588 entstanden, als sich die Niederländer als Reformierte (Calvinisten) lossagten von der katholischen spani­schen Herrschaft; der Süden blieb allerdings katholisch (bis er sich 1830 als  König­reich Belgien selbständig machte). Die Karte 23 (S. 289) zeigt das an­schau­lich. Über­haupt sind die Karten im Buch didaktisch klug begrenzt auf eine Informa­tion und nicht zu detailreich. Im Text finden die Parteiungen innerhalb der großen Kirchen wie die Minderheiten außerhalb immer die nötige Beachtung, die Remonstranten, die Mennoniten, die Zigeuner (S. 237 f), Freimaurer (282). Bewusst verlassen die Autoren die Perspektive der Mehrheitskirche.

Aber eine spezifisch niederländische Religion beginnt früher. Schon die Besonderhei­ten in der römischen Provinz sind zusammengefasst in einer Tabelle der vorzügli­ch­sten Götter­kulte (S. 34). Dann bilden die Heiligen und die Wallfahrtsorte eine eigene religiöse Region (zusammengefasst in den Tabellen S. 81 und 135). Mit der Reforma­tion verstärkt sich die Eigenentwicklung als Calvinistische Republik und dann als prote­s­­tantische Nation. Die strenge Selbstkontrolle, die sich die Bürger in der calvinisti­schen Kirchenzucht auferlegt hatten, die Ausrichtung der Politik nach Regeln der Bibel weicht allmählich ab etwa 1850 bis heute einem „Vari­ierten Bürgertum“ (307-450). Die Entwicklungen in den Nachbarländern werden interessiert aufgenommen. Der englische Puritanismus erscheint dem (pietistischen) Calvinismus geistesver­wandt, sogar die Kat­ho­liken zeigen puritanische Charakterzüge (S. 255 f: Jansenis­mus), der holländische Katholizismus entsteht, der sich immer große Eigenständig­keit gegen­über der römischen Hierarchie bewahrte (390-393). Ein Grundzug aber ist trotz der strengen Selbstzucht die staatliche Toleranz, die vor allem in Amsterdam eine ansehnliche sefardische und aschkenasische Gemeinde entstehen ließ. Auf einen Blick sieht man den Pluralismus (im Jahre 1809) auf der Tabelle 290 f – dazu dann die Tabellen 388 f mit der Abnahme der Christlichkeit und dem Einwandern hinduisti­scher und musli­mischer Religion, in den Niederlanden besonders aus den ehemali­gen Kolonien. Die Gegenwart ist immer klar im Blick.

Besonders hervorzuheben ist, wie die beiden Autoren Stile des religiösen Lebens der einzelnen Gruppen zu charakterisieren versuchen. Die einzelnen Rituale sind be­schrie­ben, auch welche neuen Rituale die ‚rituallosen‘ Calvinisten einführen. Wie kam es zur Blüte der holländischen Malerei trotz der reformierten Bilderfeindlich­keit?[2] Die Medi­en der neuen religiösen ‚Sprache‘ finden sich in Schule und Ausbil­dung, in Familienandachten. Die Auflö­sung der Konfessionsschulen (ab 1806, s.S. 326) bildet für die Autoren eine entschei­dende Institutionalisierung sowohl der Gleich­berechtigung aller Religionen wie auch für den Rückgang der Bedeutung der Religionen als sozialer Rang. Gleich­zeitig wuss­te Abraham Kuyper die einfachen Leute im Rückgriff auf calvinistische Bürgertugenden zu selbstbewussten Wählern zu mobili­sieren (327-333; 353); die Innere Mis­si­on sorgte sich in zahlreichen Vereinen um die Benachteiligten der Indu­strialisie­rung (Tabelle 346-352). Der soziale Protes­tan­tismus entsteht, aus dem der „Wohl­fahrts­staat“ sich entwickelt: nicht mehr religi­ös begründet, aber aus religiösen Wur­zeln. Zu den religiösen Dynamiken traten jetzt neben Prote­stanten und Katholiken die bewusst nicht religiös auftretenden Liberalen und Sozialdemokraten in die Öffent­lichkeit, die so genannten vier ‚Säulen‘ der nieder­ländischen Gesellschaft. Ebenso knapp wie kritisch sind die Beschreibungen von national­sozialistischem Einfluss (nicht einfach als Fremdherrschaft entschuldigt: S. 374-378) oder von ethnischer Vielfalt und islamophoben Bewegungen (Islam 405-420). Zu den Evangelikalen und Funda­men­talisten (421-427). Die Regeln der Verfas­sung S. 438-443. Trotzdem warnen die Autoren, das Eigene einer niederländischen Religions­geschichte zu einem unver­änderlichen Wesen zu erklären (449).

 

Ein großartiges Buch, dicht in der Information (gut erschlossen durch das Register), immer auf das Argument bedacht! Das Modell für eine Religionsgeschichte, die sich nicht in den Dienst einer Kirchen­geschichte stellt. Dem Verlag gebührt der Dank dafür, dieses Buch dem deutschen Publikum zugänglich zu machen.[3] Wer sich für Religion und Geschichte in Europa (nicht nur in den Niederlanden) interessiert, muss dieses Buch lesen, auch wenn es ziemlich teuer ist.

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[1] Das Massaker der Katholiken an den Protestanten in der Bartholomäusnacht 1572 war die gewalt­same Explosion der konfessionellen Spannungen in Frankreich aus Anlass der Hochzeit Hein­richs IV. mit Margarete von Valois, für die Heinrich zum Katholizismus konvertierte („Paris ist eine [katholi­sche] Messe wert“). Heinrich verkündete später das Recht auf Toleranz (Edikt von Nantes 1598). Sein Enkel Ludwig XIV. hob es 1685 auf, und es begann die Vertreibung der sog. ‚Hugenotten‘, die dem Tod durch Flucht v.a. nach Brandenburg-Preußen und in die Niederlande entgingen.

[2] Ein Beispiel (Bilder auf den Weltkarten aus Holland) habe ich vorgestellt: Neue Welt und Neue Zeit. Weltkarten und Säkularisierung in der Frühen Neuzeit. in: Renate Dürr/ Gisela Engel/ Johannes Süßmann (Hrsg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit. (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 34) Berlin 2005, 43-68.

[3] Das Buch ist nicht ganz so liebevoll ausgestattet wie das niederländische Original (z.B. zweifarbiger Druck). Die Übersetzung von Kerstin Hedemann ist gut lesbar. Bei den Namen gibt es manchmal andere deutsche Regeln, wie König Josia (S. 73), das ägyptische Damiette (91), die devotio moderna heißt auch im Deutschen so, nicht ‚moderne Frömmigkeit‘ 133. Confessio Tridentinum passt nicht zusammen (194): concilium Tridentinum oder professio Tridentina. Hugo de Groot wird im Deut­schen immer Hugo Grotius genannt. ‚Randzone‘ (218) muss heißen Marginalien. Das makedonische Castorie (257) ist Kastoriá. Die Karte S. 57 ist nicht vollständig eingedeutscht, usf. Druckfehler nenne ich hier nicht, sie erklären sich von selbst.

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7. Januar 2012
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

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