Der verlorene Himmel

cover-grossbölting

Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Vandenhoeck&Ruprecht 2013. [320 S.]

Religionsgeschichte Deutschlands seit 1945:
Religion hat ihren Ort nicht mehr im Himmel

Hier liegt eine erste Gesamtdarstellung der Religionsgeschichte Deutsch­lands seit 1945 bis in die Gegenwart vor. Aus vielen, aber disparaten Einzelstudien unter verschie­den­sten Fragestellungen eine Synthese mit einem roten Faden zu verfassen, das er­fordert Mut. Geschichte der je einzelnen Kirchen gibt es in Stücken und als Ganze, aber diese Religionsgeschichte will mehr und etwas anderes: sie will vor allem die Bedeutung von Religion und religiösen Institu­tionen als Teil der Gesamtgeschichte integrativ beschreiben, nicht als geteilte Geschichte. Thomas Nipperdey zitierend „Das Phäno­men Religion bietet eine umfassende Per­spektive auf die allge­meine Geschichte“.[1] Thomas Großbölting ist Professor für Geschichte (nicht Kirchen­geschichte) in Münster.[2]

In der Einleitung formuliert TG eine Fragestellung, die die sog. Säkularisierungthese aufnimmt: Während weltweit die Bedeutung von Religion eher zunimmt, ist in Europa innerhalb einer kurzen Zeitspanne ein enormer Schwund zu verzeichnen. Aber ist es ein Schwund an Religion? Oder bilden sich Privatchristentümer jenseits der kirchensteuerpflichtigen Kirchen-Mitglied­schaft (believing without belonging[3])? Hat sich Religion nun außerhalb der Instituti­onen etabliert? Welches sind die Gründe für diesen großen Wandel?

Die Aufgabe ist also, Religion („Glaube“ im Titel) so zu fassen, dass sie nicht nur in ihrer instituti­o­nalisierten Form begriffen wird,  damit ihre Veränderung verständlich wird. „Das wesentliche Merkmal von Religion ist der Bezug auf einen Unterscheid zwi­schen Himmel und Erde, zwischen Gott und Welt, zwischen Transzendenz und Im­manenz, rückbezogen auf etwas Unverfügbares.“ (15 f) TG begründet seine Entscheidung, indem er sagt: „das Verständnis der Zeitgenossen ist damit stark gewichtet“. Er zählt zugleich auf, was  nicht mehr von seiner Definition umfasst wird: „Politische Ideologien, soziale Bewegungen, Life-Style-Erscheinungen haben zwar religioide Formen ausgebildet, ohne sich aber in dem hier beschriebenen Sinne als Religion zu qualifizieren.“ (16) Es ist hier nicht der Ort, den religionswissen­schaft­­lichen Begriff der Transformation von Religion in andere Formen zu erläutern, es genüge der Verweis auf Volkhard Krechs Buch Wo bleibt die Religion?[4] TG hält sich dann auch (zum Vorteil der Fragestellung) nur locker an diese Definition. Die von Soziologen gerne angesprochene Funktion von Religion zur Kontingenzbewältigung (Unglück, Tod) beschreibt die alltäglich praktizierte (Kulturpraxis) Religion nicht ausreichend. Ebenso wenig kann man aber Religion auf das reduzieren, was die Menschen als Religion bezeichnen („Verständnis der Zeitgenossen“). Manchmal lässt es TG bei den Einschätzung der Zeitgenossen bewenden, auch wenn man sie heute eher als Fehleinschätzungen bewerten muss.

Die eigentliche Darstellung ist in drei Kapitel gegliedert. Kapitel 1 beschäftigt sich mit der Religionsgeschichte nach der Katastrophe des Weltkrieges und Völkermordes, der Religionsgeschichte nach der Shoah: Ein christliches Deutschland? Selbstverortungen und Illusionen nach 1945 (21-94). Die Kirchen galten als wichtige Träger und Garanten der Kon­tinuität der deutschen Gesellschaft jenseits des NS in den westlichen Zonen, wäh­rend die von der Sowjetunion besetzte östliche Besatzungszone das „andere Deutschland“ von der sozia­listischen und kommunistischen Opposition zur NS-Diktatur getragen sah. TG zeigt, dass das eine Illusion war, die die Kirchen gerne aufgriffen, aber womit sie  keine längerfristigen Erfolge davontrugen.

Kapitel 2 Vom Aufbruch und Absturz in die Nachmoderne: Das religiöse Feld in den sechziger und siebziger Jahren (95-180). TG macht den Wandel der Kirchen als mora­lische Normgeber an den Lebensformen deutlich; Ende der Sechziger Jahre werden traditionelle (bürgerliche) Regeln aufgebrochen, die von der Kirche verteidigt wer­den (110-117 treffend zu Absicht und Reaktion auf die Enzyklika Humanae vitae). Einen Punkt sehe ich unterschätzt: Die Bedeutung des Deutschen Evangelischen Kir­chentages (DEKT). Der steht nicht auf einer Ebene mit dem Katholischen Kirchentag (zu die­sem der Eklat von Essen 1968, wo der „häusliche Dialog“ auf einmal um­schlug in scharfe Konfrontation mit der Klerikerkirche 163 f). Was aus katholischer Sicht wie „Zerrissenheit“ der evangelischen Kirchen aussieht (163), kann man auch als Aus­druck der „institutionalisierten Dauerreflexion“ (J. Matthes) verstehen. Der DEKT hat das Forum, die Öffentlichkeit für die Demokratisierung der BRD eröffnet, die das Parlament oder politische Wahlkämpfe nicht leisteten. Juden werden zu Subj­ekten des Dialogs (fehlt 227), die Frauenbewegung, die Umweltbewegung, Grenzen des Wachstums, die Grünen, Antiatomkraft, Alternativen zur „repräsentativen“ Demo­kratie, Frauenbewegung, Entwicklungszusammenarbeit  u.v.m. konnten auf dem DEKT in Ruhe kontrovers  vorgestellt und diskutiert werden. Ohne dieses Forum wäre der Wandel von der Kanzlerdemokratie zur Partizipation der Bürger an der Demokratie nicht möglich gewesen. Richtig auch, dass die religiösen Wurzeln oft nicht mehr erkennbar sind.[5] Und richtig auch, dass sich in der evangelischen Kirche eine – nicht weniger politische – Gegen­position von ‚Pietismus‘ und evangelikalen „Parallelstrukturen“ aufbaute.

Kapitel 3 „Aus Kirche wird Religion: Brüche und Veränderungen im religiösen Feld bis heute“ (181-256) beschreibt den rapiden Prozess der Entkirchlichung. „Mit Beginn der 1970er Jahre endete eine Phase der Religionsgeschichte, in der gelebter Glaube und Kirchlichkeit in hohem Maße deckungsgleich waren.“ (186) Das endet aber nicht in einer Jeremiade, sondern TGs Urteil lautet „Nicht Religion an sich, wohl aber eine ihrer Sozialformen war an ihr Ende gelangt.“ Hinzu setzen muss man folgendes: es rächt sich, dass Glaube und Pflicht zur Kirchensteuer eine verhängnisvolle Verknüpfung darstellen. Das ist im Übrigen auch ein zentrales Motiv für die Kirchen(steuer)flucht nach der Wende in den neue Bundesländern. Dass das wahrscheinlich kein Nullsummenspiel ist (freie Religiosität tritt an die Stelle kirchlichen Glaubens), hält GT für wahrscheinlich; aber sicher ist es auch anders als in Großbritannien[6] oder in Frankreich. Sehr umsichtig angelegt sind die Abschnitte über den Islam und das Judentum in Deutschland; der Hinduismus fehlt.[7]

Der Text ist in einem erstaunlich breiten Satzspiegel mit einer kleinen Type gesetzt, er ist deshalb nicht sehr lesefreundlich. Die Anmerkungen, nur Seitenzahlen für nachgewiesene Zitate, stehen hinter dem Text in einem Anhang, das reiche Literaturver­zeich­nis hat über 500 Einträge, ebenso ist ein Register von Personen und Orten (keines syste­matisch nach Themen) vorhanden.

Die Aufgabe, eine erste Religionsgeschichte Deutschlands in dieser Differenziertheit, in dieser Dichtheit zu konzipieren und in einer Monographie in einem großen Bogen zu schreiben, und die Herausforderung, die ganz unterschiedlichen und in ihrer Fragestellung begrenz­ten For­schungsbeiträge einzuarbeiten, sind Thomas Großbölting sehr gut gelungen, An die­sem Referenzwerk muss sich und kann sich jede weitere Arbeit auf dem Gebiet orientie­ren und messen. Wichtige Einschätzungen einer Religionsgeschichte sind weitge­hend behutsam beschrieben. In der Bewertung ist nicht zu übersehen, dass der Autor katho­lisch sozialisiert ist und ihm vielleicht deshalb protestantisches Selbstverständnis manchmal fremd bleibt.

 

Im November 2013                                                                                 Christoph Auffarth,
Professor für Religionswissenschaft
(Geschichte und Theologien des Christentums)
Universität Bremen


[1] Im Wesentlichen ist das auch die Absicht von Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Fröm­mig­keit in Deutschland. München: Beck 2005, die den ganzen langen Weg seit der Reformation sich vor­nimmt, aber bislang nur bis zum Ersten Weltkrieg gelangt ist.

[2] Im Folgenden der Kürze halber mit den Initialen abgekürzt TG.

[3] Für die USA ist zwar eine boomende Religiosität zu beobachten, aber die Großkirchen verlieren dort auch Mitglieder. Vgl. Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. (Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung 5). Göttingen: Wallstein 2004. – Der Begriff stammt von Grace Davie: Religion in Britain since 1945. Believing without belonging. Oxford: Blackwell 1994.

[4] Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion? Bielefeld: Transcript 2010, Rez. von Christoph Auffarth auf dieser Internetseite http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2012/02/22/wo-bleibt-die-religion-von-volkhard-krech/.

[5] Wie Volkhard Krechs Frage offenbleibt: Wo bleibt die Religion?

[6] Steve Bruce: God is dead. Secularization in the West. Oxford: Blackwell 2002. Callum G.Brown: The death of Christian Britain. Understanding secularisation 1800 – 2000. London: Routledge 2001 (auf letzteres nimmt GT Bezug).

[7] Dazu die guten Arbeiten von Brigitte Luchesi, Martin Baumann und Annette Wilke, u.a. in dem von ihnen hrsg. Band Tempel und Tamilen in zweiter Heimat. Würzburg: Ergon 2003.

Schreibe einen Kommentar