Meditation zur Weihnachtsikone des Hl. A. Rubljow

Rubljow zugeschrieben, Weihnachtsikone, 1405 (Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml)
Weihnachtsikone, 1405 in der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml, Rubljow zugeschrieben

Ikonen sind Fenster zum Himmel. Sie sind untrennbarer Bestandteil
orthodoxer Liturgie und Spiritualität.

Die Theologin Maria Duffner leitet uns in einer Meditation zu spirituellen Einsichten
an Hand dieser Weihnachtsikone aus dem Jahre 1405,
die als Bild des Monats Dezember 2009 ausgewählt wurde.
Um die Ikone in ihrer Tiefe lesen zu können,
sollte der entsprechende liturgische Text
unbedingt mitgelesen werden.

Eine Ikone lesen

Um eine Ikone „lesen“ zu können (Ikonen werden ja geschrieben – Ikono-graphie!), benötigt man den dazugehörenden liturgischen Text.

Weihnachtskontakion des Romanos Melodos
Die Jungfrau gebiert heute den über alle Wesen Seienden
und die Erde bietet dem Unzugänglichen eine Höhle dar.
Engel lobsingen mit Hirten,
die Weisen aber ziehen mit dem Stern.
Denn für uns wurde geboren
ein kleines Kind, der urewige Gott.

Ein Kontakion ist ein frühe Hymnenform (4.-6. Jh.) mit rhythmischen Strophen, die der Verkündigung dienen (mehr).
Romanos Melodos gilt als überragender Vertreter dieser Hymnenform und der bedeutendste Dichter der byzantinischen Literatur (mehr).

Elemente der Ikone

  1. Im Zentrum liegt das neugeborene Kind, unser Herr und Erlöser Jesus Christus.
  2. Das Kind liegt in einem sargähnlichen Trog, gewickelt wie eine Mumie.
  3. Das Neugeborene liegt in einer Höhle, in einem Berg.
  4. Die Muttergottes liegt abgewandt vor ihrem Kind, aber sie ist die größte Figur auf dieser Ikone und liegt auf einem roten Tuch
  5. In der Mitte des oberen Bildrandes ist ein blauer Halbkreis sichtbar, aus dem ein Strahl zum Kind geht. Auf diesem Strahl befindet sich über der Höhle eine Kugel mit einem Stern (hier nicht gut zu erkennen). Von dieser Kugel teilt sich der Strahl in drei.
  6. Rechts unten sind die Hebammen zu sehen, die das Neugeborene baden, links unten ist der hl. Josef mit einer Gestalte.
  7. Darüber sind die Hirten, denen ein Engel die frohe Botschaft verkündet.
  8. Links und rechts des Berges Engelscharen.
  9. Oben am linken Rand sind die Weisen aus dem Morgenland, die dem Stern folgen.

Weihnachtskontakion und Ikone in Wechselwirkung

Der Text ist die Beschreibung der Weihnachtsikone – wie an allen anderen Festen auch beschreiben und erklären
die liturgischen Texte die Festikonen, die Ikonen ihrerseits aber illustrieren die Texte. Und so prägen sich durch Bild und Wort die Inhalte tief dem Menschen ein.

Was sehe ich auf der Ikone?
In der Mitte die Frau und Mutter, dahinter, in einer dunklen Höhle, unscheinbar und klein, das neugeborene Kind.

Die Muttergottes erhält ihre große Würde (und damit Verehrung, nicht Anbetung) dadurch, das sie, nach reiflicher Überlegung, ihr „ja“ gesprochen hat, und den in die Welt gebracht hat, der „Himmel und Erde gemacht hat“ (Zitat aus der Liturgie). Daher darf die Muttergottes auch auf dem kaiserlichen Purpur liegen! Denn das rote Tuch ist das Tuch der byzantinischen Kaiser – das Kind, so armselig es ist, ist größer als jeder Kaiser!

Links vor dem Eingang der Höhle die Engel, die das „Ehre sei Gott“ singen und rechts Hirten, denen ein Engel die Frohe Botschaft von der Geburt des Herrn bringt. In der Mitte ist, ausgehend von der dunklen Herrlichkeit Gottes am oberen Bildrand, der
Stern, dem die Weisen auf der linken Seite folgen und der sie direkt zum Kind in der Höhle bringt. Und wer ist dieses Kind, das da geboren wurde?
Der urewige Gott! Es ist faszinierend, wie wenige Worte Romanos benötigte, um das Weihnachtsgeheimnis zu skizzieren.

Meditation:  Einige Schlaglichter zu wichtigen Aussagen im Hymnus

  • Die Jungfrau gebiert heute den über alle Wesen Seienden
    Mit zwei Widersprüchen in einer Zeile führt uns Romanos in die Tiefe des Weihnachtsgeschehens:„Die Jungfrau gebiert…“
    In einer Zeit, in der vieles möglich (wenn auch nicht alles machbar) geworden ist, hat die „Jungfrauengeburt“ viel von ihrer Unmöglichkeit eingebüßt. Oft und oft wurden mehr oder weniger schlechte Witze darüber erzählt – ein Zeichen, dass dieses Thema für Einige unannehmbar, ja unglaubwürdig ist.„… heute …“ Wie aktuell ist für uns die Geburt des Herrn? Warum
    betont Romanos, warum betont die Kirche bis heute, dass hier, jetzt, heute das Heil geschieht?
    Wie aktuell das Geschehen auch heute noch ist, kann in der Ikone ebenso wie im Kontakion erahnt werden, denn sowohl im Bild als auch im Text kann sich der Betrachter wiederfinden. Hier, jetzt, heute geschieht unser Heil, wenn wir uns einlassen!
    Auffallend ist aber, dass im Griechischen das Wörtchen „heute“ zwischen dem Wort „Jungfrau“ und dem Wort  Yperousion“ (umständlich übersetzt „über alle Wesen Seienden“) steht.Es handelt sich um kein Märchen („es war einmal“) sondern um die Wirklichkeit, um ein reales Geschehen!„… den über alle Wesen Seienden …“
    Welch ein Widerspruch: Der Schöpfer aller, der unfassbar, unnahbar ist, Er, der „nicht gezeugt und nicht geschaffen ist“, wird Mensch, wird geboren. In den Texten der Heiligen Schrift des Neuen Testaments, vor allem im Johannesevangelium, wird immer wieder darauf hingewiesen: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Im
    Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. …“ (Joh 1,1-3)
  • „Die Erde bietet dem Unzugänglichen eine Höhle dar …“
    Wieder ein Widerspruch, wieder eine Anspielung auf das NT: Gott wohnt im unzugänglichen Licht, kein Mensch hat
    ihn gesehen noch vermag ihn je sehen… (1 Tim 6,16)
    Er ist es, der auf die Erde kommt. Und die Erde öffnet sich ihm: Sie hat Höhlen, die nach Innen, in die Tiefe führen.
    Ist die Erde, die ja ebenso geschaffen ist wie auch der Mensch, hier nicht sogar ein Vorbild für den Menschen? Nur wer sich
    öffnet, kann aufnehmen, kann bergen, kann in die Tiefe geführt werden!Weitergedacht: Auch die Jungfrau und  Gottesmutter Maria hat sich geöffnet und hat Christus, der Gott und Mensch zugleich ist, empfangen, geborgen und
    geboren.Und wir?
    Die Höhle steht für die Wege nach Innen, für das Tiefe und Dunkle, auch für das Abgründige. Wenn Gott in die Welt kommt, bleibt er nicht an der Oberfläche, sondern geht in die tiefsten Tiefen seiner Schöpfung, auch in die Abgründe und bringt das Licht! Er nimmt auch den Abgrund an und verachtet ihn nicht.
  • „Engel lobsingen mit Hirten, die Weisen aber ziehen mit dem Stern …“
    Wie an anderer Stelle genauer ausgeführt wird, finden wir bei diesen beiden Verszeilen den sogenannten „Parallelismus membrorum“.
    Allerdings sind die einzelnen Glieder gegenläufig zugeordnet: Die Engel entsprechen dem Stern, die Hirten den Weisen.
    Worum geht es aber da? Hirten und Weise, Gläubige (die Hirten gehören zum Gottesvolk) und „Ungläubige“ (die Weisen zählen – als Bewohner Chaldäas – zu den Heiden, den Ungläubigen) reagieren auf ihre Weise auf die Botschaft Gottes, die sie in ihrer Sprache und Ausdrucksweise erhalten.Denn weder hätten die Hirten die Sterne deuten können, noch hätten die Weisen die Botschaft des Engels verstanden. In diesem Sinne wird der Stern ebenso wie der Engel zu einem Boten Gottes, der den Menschen Kunde bringt.Daher steht der Stern auch in dem Strahl, der von Gott (Symbol: der Halbkreis, denn niemand hat Gott gesehen, er kann nicht dargestellt werden) ausgeht. Hirten und Weise verstehen jeweils die Botschaft und können Antwort geben – indem sie aufbrechen, sich auf den Weg machen, den suchen, auf den sie gewartet haben.
  • „… denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott“
    Das ist die wesentliche Aussage, die im Menschen Wurzeln fassen soll:Gott ist nicht nur der ganz Ferne, sondern auch der ganz Nahe. Gott ist uns näher als wir uns selbst sind! Er kommt in die Welt, er wird Mensch: ein kleines Kind, der urewige
    Gott!Dass das Neugeborene in einem sargähnlichen Trog liegt, kommt nicht von ungefähr: Die ganze Heilsgeschichte, die Erlösung durch unseren Herrn und Heiland Jesus Christus, findet sich hier wieder – was mit der Geburt begann wird durch seinen Tod vollendet.Die Muttergottes liegt abgewandt auf königlichem Purpur. Weil sie den Sohn des Allerhöchsten geboren hat, deshalb steht ihr diese kaiserliche Auszeichnung zu (nur der Kaiser und die Kaiserin durften Purpurgewänder tragen). Sie liegt abgewandt,
    nachdenklich – denn auch für sie war es zu unfassbar, was da geschehen war. Lk 2,51: Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.Der hl. Josef links unten sitzt sinnend da und sieht nicht unbedingt glücklich drein. Der Evangelist Mattäus beschreibt in seinem Evangelium die Fragen und Zweifel, die Josef plagen: Hat ihn seine Verlobte nicht doch betrogen? Ist dieses Kind wirklich der Sohn des Allerhöchsten?Vor ihm stehen, je nach Ikone, eine oder zwei Gestalten. Üblicherweise werden sie als Versucher gedeutet. Dass Josef abgewandt sitzt unterstreicht den Zweifel. Aber diese beiden stehen für die Überlieferung, für die Hl. Schriften des Ersten Testamentes. Auf sie weisen die beiden (meistens ist es nur einer, der den Propheten Jesaja symbolisiert) hin.Und Josef hört sich alles an, und findet den Weg, dass er dann Maria und das Neugeborene in sein Haus nehmen kann. (Heiligenschein!)Die Hebammen baden das Kind – sie gehen mit ihm selbstverständlich um und machen das, was ein Neugeborenes braucht.
    Ein Bild für die Theologen und/oder alle, die im Dienste der Kirche stehen? Sie tun auch das, was nötig ist. Aber besteht nicht die Gefahr, dass sie das Staunen verlernen? Dass Badebecken erinnert (nicht ganz zufällig) in seiner Form an ein Taufbecken – eintauchen, untertauchen, gereinigt werden – ein neuer Mensch werden!

Maria H. Duffner
Theologin, mit Schwerpunkt Ostkirchenkunde

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Maria H. Duffner: Romanos der Melode … denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott.
Gedanken zu einem alten griechischen Weihnachtshymnus und Einführung zum Mysterium um Weihnachten mittels
Meditationen über das Weihnachtskontakion es Romanos‘ des Meloden. Mit zahlreichen Weihnachtsikonen und den dazugehörigen liturgischen Gesängen.
Gersau 2001, 190 S., geb., farbige Illustr., Notenbeispiele
ISBN 3-909103-18-9 / 978-3-909103-18-8 / CHF 42.-, € 24,50

Bezug:
– Buchhandel.de – mehr
– Orthodoxie-Versand – mehr
– Verlag Fluhegg, Basel, bzw. Verein für Ostkirchliche Musik – mehr