Kaufmann Luthers Judenschriften

 

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Thomas Kaufmann: Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung.
Tübingen: Mohr Siebeck 2011.

[XI, 231 S. ISBN 978-3-16-150772-4 fadengeheftete Broschur, 29 €]

Kurz: Kein Ausrutscher, sondern grundlegend für die Reformation sind das frühe judenwerbende Buch Martin Luthers Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1524) und die späten judenfeindlichen Werke wie Von den Juden und ihren Lügen (1544). Kaufmann stellt mit klugen Fragen und sorgfältigen Belegen heraus, wie beide Positionen Programme der Reformation darstellen. Ein umstrittenes Thema ist hier exzellent historisch bearbeitet und zeigt die „Grenzen der Reforma­tion“.

Ausführlich: Heiko A. Oberman hat in einem Büchlein Die Wurzeln des Anti­semitis­mus die These aufgestellt, die evangelischen Reformatoren seien verantwort­lich ge­wesen für einen neuen Schub des Antisemitismus.[1] Seither sind wichtige neue Bücher zu dem Thema erschienen.[2] Das Thema wurde über die lutherische Position und über die Reformation hinaus untersucht:[3] Wie ist das Abstoßen von ‚den‘ Juden, allem ‚Jüdischen‘, die Politik der Vertreibung und Entrechtung auf der einen, die Entdeckung der fundamentalen Bedeutung der Hebräischen Bibel für das Evan­ge­li­sche auf der anderen Seite zu verstehen? Beides sind in ihrer Widersprüchlichkeit für die Reformation grundlegende und andauernde Vorgänge. Hier zeigen sich „die Grenzen der Reformation“, so Kaufmann S. 146-155.[4]

Gerade in Luthers Positionen ist dieser Widerspruch zu erkennen. Ganz früh, 1524, unter den programmatischen Schriften für die Reformation, schreibt Martin Luther Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, am Ende seines Lebens und Werkes die vier Schriften Wider die Sabbather 1539, Von den Juden und ihren Lügen 1544, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi  1544 und Von den letzten Worten Davids 1543. Alle diese Schriften gehören zu den – nach den Schulbüchern wie Katechismus etc. – am weitesten verbreiteten Werken Luthers (S. 4; 139). Dabei war immer aufge­fallen, dass die erste und die vier letzten Schriften kaum gegensätzlicher sein könnten: Im ersten Buch stellt er Jesus, den Stifter des Evangelischen, ganz in die jüdische Tradition. Das Ziel „zurück zu den Quellen“ ad fontes bedeutet mehr als nur die Quellen in ihrer Originalsprache und ohne Zusätze aus der Tradition zu lesen. Luther hat die Hebräische Bibel, die Propheten, die Verheißung des Messias, die Psalmen entdeckt und die hebräische Wahrheit[5] durch neue Übersetzung einge­deutscht. Von dort sei es doch nur ein kleiner Schritt für die Juden, evangelisch zu werden: Sie haben die Prophezeiung, so Luther, jetzt brauchen sie nur die Erfüllung annehmen. Sein frühes Buch ist revolutionär. Die Idee ist naiv. Allerdings, so TK, ist das Büchlein nicht die Aufforderung zur Missionierung der Juden, sondern „eine binnenreformatorische Selbstverständigung über Judenbekehrung im Lichte antirö­mischer Kritik bisheriger Missions- und Bekehrungspraxis“. Maria ist der Stein des Anstoßes,[6] der auch Luther selbst genau in der Zeit vorgeworfen wird: Er leugne die Jungfräulichkeit Mariens. Es geht Luther eher um die getauften Juden (die auch nach der Taufe noch als Juden gelten).[7] Weitgehend neu bei TK ist die Untersuchung, wie die zeitgenössische Literatur Luthers Büchlein aufnahm (13-80).

Ganz umstritten ist die Frage, ob Luther sich zum Ende seines Lebens verändert, verhärtet hat oder ob die theologische Grundhaltung schon in der frühen Schrift zu finden sei. Zunächst einmal findet er die nach der ersten Schrift zunehmende Dul­dungspolitik gefährlich, mit der die Obrigkeit die Ansiedlung von Juden wieder zögerlich zulässt. Die anti-jüdischen Schriften gehören ‚zu den letzten Schlachten‘, in denen Luther die Refor­mation sichern will gegen die – in seinen Augen – immer ge­fährlicher und dämonischer anstürmenden Gegner: gegen Papisten, Türken,[8] Täufer und Juden; die Auseinandersetzung mit dem Judentum ist ein Lebensthema Luthers. Richtig verweist TK darauf, dass ein gut Teil der späten Schriften seine christologi­sche Exegese des Alten Testaments vertei­digen und bestätigen will. Was er da an ‚jüdischer‘ Polemik widerlegt, hat er von zum Christentum konvertierten Insidern, die aber nur die Angriffe gegen das Chris­tentum – also einen sehr engen Ausschnitt – vermittelten. Mit Juden hat Luther nicht gesprochen. Sondern sich ihnen verweigert. Denn die andere Position der lutherischen Schriften gegen die Juden betrifft harte Diskriminierungs- oder Vertreibungspolitik. Dem Vertreter der deutschen Judenheit, Rosel von Rosheim, der Luther um Unterstützung gebeten hatte, hat Luther nicht geantwortet, vielmehr diese brutalen Gesetzesvorschläge eingebracht. Das hat TK nicht genügend herausgearbeitet. Hier spricht nicht mehr der Theologe, sondern der Berater des Landesherrn.

TK fragt weniger, was wir heute mit Luthers Schriften noch anfangen können (das war Obermans Frage), da ein grundlegendes Verständnis der Gemeinsamkeit des Christentums als einer jüdischen Reformbewegung und nicht einer anti-jüdischen Religionsstiftung das Verhältnis bestimmt – im Bewusstsein des Verbrechens an den Juden. Das Kapitel über die Rezeption spricht das kurz und kompetent an, bis hin zu dem berüchtigten Satz von Julius Streicher im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, „Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank …“ (133 A. 36). Kaufmann will Luther im historischen Kontext seiner Zeit und der Adversus-Iudaeos-Literatur[9] einordnen. In den Anhängen (156-182) bespricht TK die Haltung anderer Reformatoren zur Judenheit, d.h. zu den zeitgenössischen Juden.

Die Haltung Luthers zu den lebenden Juden steht in den Argumenten und den Ratschlägen zur Politik der Vertreibung ganz in der zeitgenössischen Tradition des Spätmittelal­ters, in der apokalyptischen Stimmung nach der großen Pest. Da ist nichts von der Freiheit der Reformation zu erkennen; TK hat die Grenzen der Reformation deutlich angesprochen. – Ein großartiges Buch, das TKs Darstellung der Reformation (2009)[10] in einem wichtigen Detail erweitert.

 

Christoph Auffarth,
Prof. für Religionswissenschaft
(Geschichte und Theologien des Christentums)

Universität Bremen, 10. Januar 2012


[1] Heiko A[Augustinus] Oberman: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter des Humanismus und Reformation. Berlin: Siedler ²1981.

[2] Johannes Heil: »Gottesfeinde« – »Menschenfeinde«. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung, 13. ‑ 16. Jahrhundert. (Antisemitismus 3) Essen 2006. Rez. Auffarth in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), 294.

[3] Achim Detmers: Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin. (Judentum und Christentum 7) Stuttgart: Kohlhammer 2001.

[4] Das Buch führt einen Aufsatz und eine Akademieschrift etwas ausgebaut zu einem Buch zusammen, die für das Studium schon unverzichtbare Grundlagen bildeten. In dieser Form sind TKs Untersu­chun­gen leichter zugänglich.

[5] Hieronymus hat für seine Übersetzung der hebräischen Bibel ins Lateinische (Vulgata) festgestellt, dass er, um die Veritas Hebraica (hebräische Wahrheit) nicht zu verfälschen, ganz nah am hebräischen Wort­laut bleiben müsse, ein barbarisches Latein.

[6] Johannes Heil; Rainer Kampling (Hg.): Maria – Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmigkeit und Juden­feindschaft. Paderborn: Schöningh 2001. Dass Maria aber nicht immer im Mittelalter anti-jüdische Züge darstellte, zeigt Peter Schäfer: Weibliche Gottesbilder im Judentum und Christentum. Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen 2008.  Rez. Auffarth auf dieser Web-Seite.

[7] Zum Judenbild des 16. Jh.s die wichtigen Beiträge von Winfried Frey u.a. in Christoph Auffarth: Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religions­geschichte. Mit Beiträgen von Ulrich Berner; Winfried Frey; Kocku von Stuckrad und Nicole Zeddies. (Religionen in der pluralen Welt 1) Münster: LIT 2007, 143-166.

[8] Kaufmann hat diesem vermeintlichen Gegner der Reformation ein weiteres gelehrtes Buch gewid­met: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Refor­mation. (FKD 97) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

[9] Eine Literaturgattung, die die Argumente und Vorurteile gegen Juden sammelt für polmische Streit­gespräche. Eine Übersicht bei Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus-Iudaeos-Texte … 3 Bände, Frankfurt u.a. 1982; 1988; zur Reformation Band 3, 1994, 573-647.

[10] Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt (Main): Verlag der Weltreligionen 2009. Rez. Auffarth auf dieser Webseite.

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