Geschichte der Reformation. Von Thomas Kaufmann

Geschichte der Reformation

Thomas Kaufmann
Verlag der Weltreligionen
Frankfurt am Main (September) 2009
954 Seiten, Gebunden
48,00 €
ISBN: 978‐3‐458‐71024‐0

Zwei Generationen gab es kein Buch mehr über die Reformation (von einer Übersetzung aus dem Englischen und zahlreichen Examensvorbereitungsbüchern abgesehen). Das hat vor allem darin seine Ursache, dass uns „die Reformation abhanden gekommen ist“ (Johannes Schilling). In der überaus lebendigen Forschung zur frühen Neuzeit ist die Bedeutung von Religion immer gewürdigt worden, aber das Paradigma „Konfessionalisierung“ hat den evangelischen Aufbruch zu einem Anlass, nicht mehr aber zum Motor der Bewegung werden lassen. Die drei Konfessionen Altgläubige (Katholiken), Evangelische (Lutheraner) und Reformierte (Zwingli, Calvin) standen im Streit; die lachenden Vierten waren die Fürsten. Die wichtigste Veränderung der Zeit war nämlich, dass die zahllosen Herrschaftsrechte in jedem Dorf und jeder Stadt – dort eine Mühle des Klosters, dort ein Hof, der dem Herzog Abgaben pflichtig war, da ein Weg mit Zoll an den Bischof – in einem einheitlichen Herrschaftsgebiet zusammengekauft, erheiratet, geraubt, erobert wurden zu den frühabsolutistischen Flächenstaaten. Die Revolution von 1525 (früher fälschlich „Bauernkrieg“ genannt) brachte dem ‚gemeinen Mann’ die Chance eines sozialgeschichtlichen Umbruchs, aber er wurde blutig und brutal niedergeschlagen, Sieger waren die Fürsten. Luther rechtfertigt deren Vorgehen aus „ordnungstheologischem Konservativismus“ (499 f).

Was bleibt dann noch, das man „Reformation“ nennen könnte? Vor einer Generation hat Berndt Hamm einen theologischen Quell der Reformen benannt: die „normative Zentrierung“ mit der Bibel als geschriebene Verfassung, unter die sich Herrschende wie Beherrschte stellen mussten. Reformation als eine Bewegung von innen heraus mit einem klaren Ziel. Nicht zuletzt Thomas Kaufmann hat aber deutlich gemacht, dass die äußeren Faktoren äußerst wichtig waren, wie die Türkengefahr: Die Belagerung Wiens 1529, war nur das Spitzenereignis (T.K.: Das Türckenbüchlein, 2008). Zuletzt (2006) hat Volker Leppin Luther nicht als einen charismatischen Anführer der Bewegung, sondern als Getriebenen, einen spätmittelalterlichen Apokalyptiker dargestellt, der im Nachhinein Veränderungen einordnete und kommentierte, nicht aber sie vorantrieb. Mehr Opfer als Täter. Bei Kaufmann ist Luther wieder der Kopf der Bewegung; auf 175 Seiten allein über den frühen Luther, seine programmatischen Schriften, aber auch seine Fehler und Schwächen. Doch ist es gut, dass TK sich nicht zu einer, noch einer Luther‐Biographie verleiten ließ, sondern die ganze Bewegung sich zum Thema vorgenommen hat.

Jetzt also endlich die große Darstellung, in der Reformation wieder im Mittelpunkt steht. Autor ist der Göttinger Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann. All den angeschnittenen Fragen hat er sich gestellt, bereits die Einleitung ist ein Muster an präziser Problemdarstellung der augenblicklichen Forschungsdiskussionen und kluger, nie einseitiger Antworten. Das zieht sich in der großen Darstellung durch. Auch in den Themen, zu denen er selbst dicke Bücher geschrieben hat, bleibt er knapp. Der Darstellung auf mehr als 700 Seiten schließt sich separat auf 230 Seiten ein Anmerkungs‐ und Belegteil an, kurze pointierte biographische Lexikoneinträge, ein Glossar zu historischen Begriffen, eine Zeittafel, ausführliche Bibliographie (gut 50 Seiten) und gründliche Register.

Die Anmerkungen sind nicht leicht nachzuschlagen, weil nach Kapitel und Unterkapitel unterteilt, die auf den Kolumnentiteln der Seiten nicht erscheinen. ‐ 41 Bilder und Karten sind gut ausgewählt, aber einen der vorzüglich illustrierten Kataloge zum Luther‐Jubiläum 1983 sollte man sich dazu legen.

Auch wenn dies Buch eine großartige Leistung darstellt, die neue Maßstäbe setzt und die neueren Forschungen integriert, will der Rezensent (als Religionswissenschaftler und Mediävist) auf die (pointiert gesagt) lutherisch‐deutsche Begrenztheit hinweisen. Das eine ist: Europa wird im Schlusskapitel zwar angesprochen, aber diese europäische Perspektive ist nur ein Ausblick (S. 711‐719); von einer Globalperspektive (im Zeitalter der ‚Entdeckungen’) ganz zu schweigen. So bleibt etwa der Calvinismus in Holland, Schottland und Frankreich, dann die Puritaner, oder die anglikanische Kirche ein marginales Phänomen der Reformation. Ein nächstes grundlegendes Problem: Die Reformationsgeschichtsschreibung hat kein Verständnis gefunden für die nicht‐apokalyptische Eschatologie, insbesondere den Chiliasmus. Müntzers Kampf und das Täuferreich von Münster (als Höhe‐ und Katastrophenpunkt) ist mit „im Lichte gleißender apokalyptischer Hoffnungen“ nicht richtig beschrieben. Die Monographie über Melchior Hofman von Klaus Deppermann (1979) hat die Unterscheidung von Apokalypse und Chiliasmus, von Luthers Gnadenlehre und Täuferischer Heiligung nicht begriffen als den zentralen Punkt. Die Bedeutung der Prophetie Joachims von Fiore auf eine innerweltlich geheiligte Gemeinschaft der bedingungslosen christlich‐politischen Gemeinde (das Dritte Reich) ist die große Alternative. Sieger bleibt (auch mit diesem kleinen Tadel) der Ordnungstheologe Luther (499 f). Weiter: Für Zürich hat Franziska Loetz (2002) auf ein häufig geahndetes Vergehen hingewiesen: angesehene Bürger werden der Blasphemie (Gotteslästerung) bezichtigt. Die Stadt will sich christlich reformieren, steht damit aber unter dem Primat theologischer Bestimmung der Lebensführung. Wer sich dem nicht unterwirft, lehnt sich auf gegen die Pfaffen, die das wiederum als Gotteslästerung hochstilisieren. Wenn der Rat diesen Ungehorsam betraft, milde bestraft, ermöglicht er den Bürgern, ihr Ansehen wieder zu gewinnen. Und in Maßen den Widerstand zu ermöglichen. – Schließlich: Ob die Hexenverfolgung nur marginal und auf anderthalb Seiten behandelt werden kann, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass eine Religionsgeschichte der Epoche anders aussehen würde. Hier ist Kirchengeschichte dargestellt, das aber auf dem höchsten Niveau. Das Buch ist sowohl lesbar und kann von vorne bis hinten als Darstellung gelesen werden als auch ein Handbuch von einer Qualität, die lange zu vermissen war und wohl auch lange nicht wieder erreicht werden wird. Ein großartiges Werk, das zu einem vernünftigen Preis auch in die Hand jeder und jedes Studierenden und Lehrenden zu empfehlen ist.

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Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
(Geschichte und Theologien des Christentums)
Universität Bremen, 10. Januar 2010

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