Ein früher Midrasch zum Buch Exodus

Mekhilta de-Rabbi Jishma’el
Ein früher Midrasch zum Buch Exodus

Hrsg.: Günter Stemberger.
Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2010
644 S.
ISBN 978-3-458-70027-2

Der Verlag der Weltreligionen hat in seinem Almanach ein ehrgeiziges Programm an Editionen angekündigt mit vielen neuen Texten. Dieser Midrasch gehört zu den neu erschlossenen Texten des Judentums. Unter Kennern viel zitiert, hat nun einer der besten deutschsprachigen Judaisten, der Wiener Günter Stem­berger, nicht nur eine lesbare Übersetzung des voraus­setzungs­reichen Textes sorgfältig erarbeitet, sondern auch ausführlich kommentiert. Rund 420 Seiten Text, 200 Seiten Kommentar mit Einleitung, einem Stellenkommentar, Glossar, Literatur, Register mit Bibelstellen, rabbinische Quellen, Sach- und Personen­ver­zeich­nis.

Rabbi Jischmael ben Elischa gehört zu den frühen Rabbinen, die nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n.Chr., was jüdisch sei, neu definieren mussten. Aber die Gesetze – als Verpflichtung wie als Rechte – haben Geltung auch für Nicht-Juden, beanspruchen universale Geltung (Pischa 15, S. 76). Jischmael gehört in die Gene­ra­tion vor dem Bar Kochba-Aufstand (132-135), nach dessen Niederlage das Verbot Hadrians ausgesprochen wurde, Juden dürften nicht mehr Jerusalem betreten und in 100 Meilen Umkreis siedeln: die Generation der Tannaiten mit den „Häusern“ oder Schulen des Rabbi Akiva[1] (Schwerpunkt Palästina) und eben des Rabbi Jischmael (Schwerpunkt Babylon). Grundlage ist die Tora, das unveränderliche und klare Wort Gottes. Aber Gott hat so reichhaltig gesprochen, dass man darin vielfältige Bedeutungen finden kann.  Nicht also nur die eine richtige Bedeutung, wie sie im Christentum dann lehramtlich durchgesetzt wird, sondern jeder Forscher und seine Schüler können, ja sollen eine Bedeutung für seine Zeit und seine Lebenswelt finden. Ein Beispiel: Im Hohen Lied ist vom „verschlossenen Garten“ und „vom versiegelten Quell“ die Rede. Die mittelalterlichen christlichen Theologen nehmen das als Metapher für Maria, die im verschlossenen Garten (hortus conclusus) sitzt. Die Rabbinen – und Jischmael zitiert insgesamt aus 90 verschiedenen Inter­pretatoren – verstehen die beiden Metaphern als Mann und Frau, als verheiratete und verlobte Frau, oder gar zwei sexuelle Stellungen (Pischa 1, 25 f).  Die Logik der Rabbinen ist nicht leicht zu verstehen.[2]  Stembergers (sehr gut aufgeschlüsselter) Zeilenkommentar erklärt die Eigenheiten jüdisch-rabbinischen Denkens, wie die (hermeneutische) Regel Mechilta des Rabbi Jischmael die Normen des täglichen Lebens (Halacha) aus der Tora ableitet, hier zu Exodus 12-23, mit dem Mittelpunkt in den Zehn Geboten.

Für eines der Grundprobleme der Tora-Auslegung hat Rabbi Jischmael Regeln aufgestellt: Was tun, wenn zwei Bibelstellen sich widersprechen? Das Beispiel ist Melkhita, Pischa 4 (S. 24): Dtn 16,2 fordert für das Pesach-Opfer „Kleinvieh oder Rinder“; Exodus 12,5 widerspricht: „Von den Schafen und von den Ziegen müsst ihr nehmen!“ also keine Rinder. Ein Widerspruch. Der lässt sich auflösen, wenn ein dritter Bibelvers dazu genommen wird: Exodus 12,21 „Holt Kleinvieh für Pesach!“. Aber nicht zwei zu eins, die Mehrheit gewinnt. Vielmehr: Wie kann der Widerspruch geklärt werden? Der Rabbi findet eine plausible Erklärung: Zu Pesach (wie es seit der Zerstörung des Tempels nur noch in den Familien gefeiert wird), nur die kleinen Haustiere; wenn aber wieder Frieden sein wird und im Tempel wieder geopfert wird, für das dann gefeierte Friedensfest Rinder. – Weitere Regeln sind der Analogieschluss, insbesondere dass eine Allgemeinaussage für die Detailaussage bestimmend ist, aber auch umgekehrt (Pischa 16 zu Ex 13, 1-4; hier S. 76).

Auffällig ist, dass noch wie selbstverständlich vom Tempel in Jerusalem gesprochen wird, obwohl der nicht mehr steht und das sakrale Opfer verboten ist. Und das an Texten, die der Sache nach vor dem Bau des Tempels im Exodus, der Wüstenexistenz Israels gesprochen wurden, etwa Exodus 15, 12-17 (S. 188 f) oder der Mythos, der Berg des ‚Opfers’ Isaaks durch seinen Vater Abraham, sei der Tempelberg Morija (126 f).

Die Textgrundlage hat sich dadurch verändert, dass neben den ganzen Handschrif­ten sich einige Fragmente in der Geniza in Kairo gefunden haben (vgl. S. 432). Stemberger übersetzt einen Text, der über die gedruckten  Ausgaben hinausgeht (im Kommentar angesprochen), einige Begriffe hat er in Umschrift beigegeben. Die Gliederung der Mechilta ist S.  438 genannt.

Bisher waren – außer dem Talmud – im deutschsprachigen Bereich vor allem Auszüge, Bruchstücke, zu christlichen Texten kommentierende Auszüge zur Ver­fügung. Jetzt hat Günter Stemberger einen ganzen Kommentar nach der Aus­legung­s­regel (Mechilta) des Rabbi Jischmael übersetzt, die nicht leicht zu durchschauende Logik der Rabbinen im Kommentar erklärt, eingeführt in den zeitlichen Kontext und durch Register zugänglich gemacht. Ein lohnendes Stück jüdischen Denkens – ohne den Filter, dass es zu einem christlichen Text passen (passend gemacht werden) muss. Einmal mehr ein gelungenes Wagnis des Verlags der Weltreligionen.

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[1] Ich schätze weiterhin die zweisprachige Auswahl und Kommentierung von Pierre Lenhart; Peter von der Osten-Sacken. Rabbi Akiva. Berlin: Institut für Kirche und Judentum 1987.

[2] Günter Stemberger: Der Talmud. München [1982] ²1987, 55-69 über „die Logik der Rabbinen“.

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22. Januar 2011
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

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