Wo bleibt die Religion? Von Volkhard Krech

Wo bleibt die Religion?

Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft
Volkhard Krech
Bielefeld: transcript 2011
293 Seiten. Broschur
EUR 28,80
ISBN 978-3837618501

Zusammenfassend: „Die Rückkehr der Religion“ und „das post-säkulare Zeitalter“ waren die großen Thesen des vergangenen Jahrzehnts. Auf der anderen Seite stehen Beobachtungen der Entkirchlichung und der unsichtbaren Religion. Ist da immer irgendwie Religion enthalten oder verschwindet Religion doch? Wo also bleibt die Religion? Volkhard Krech versucht darauf in enger Verzahnung mit den theoretischen Debatten empiriegesättigte Antworten zu geben. Es seien je besondere Bereiche, die in ihrer Verknüpfung das Problem des Religiösen (hier nicht der Begriff Religion!, d.h. hier wird von den „Nutzern“ her gedacht) in der moder­nen Gesell­schaft, den westlichen Gesellschaften mit einigen Ausflügen nach dem Nahen Osten und Ostasien, ausmachten. Das sind faszinierende Einblicke und Überblicke zu aktu­ellen Theoriedebatten und feine Werkstücke, die zeigen, wie man methodisch etwa mit Inter­views umgeht. Thema­tisch geht es um Konversion, Organisation von Religion, Individuen-Religion, Religion in der Politik, Sakrali­sierung und Säkularisierung, zudem Kunst. Ein Schlusskapitel fragt: Hat die moderne Gesellschaft Phantomschmerzen? Interessante Frage, interessante Antworten. Höchstes Niveau! Es lohnt sehr, das Buch durchzuarbeiten. Eher etwas für Fortgeschrittene, aber die finden Zusammenfas­sungen des schon Gelernten, die jeden weiterführen.

 

Im Einzelnen:

Der Autor dieses Buches hat im letzten Jahrzehnt wichtige Impulse gegeben: einerseits durch zur Diskussion anregende Vorträge und Aufsätze, andererseits durch große Forschungsprojek­te und Kollegs, die er an der Universität Bochum aufgebaut hat. Nachdem er sich in zwei großen Monographien mit der Entstehung und den Klassikern der Religionssoziologie und der  ‚Religionsforschung’[1] um die Jahrhundertwende 1900 beschäftigt hatte,[2] gilt seine Forschung vor allem gegenwärtigen Entwicklungen. Gleichzeitig organisiert er aber in den großen Kol­legs auch die Religionsgeschichte in den Dynamiken zwischen und in den Religionen im Kon­takt zwischen Asien und Europa. Der Attitüde vieler Religionssoziologen, mit der Religi­on in der Moderne behandelten sie einen einzigartigen Gegenstand, der sich von der Tradition grundsätzlich unterscheide, steuert VK also entgegen. Wichtige Studien, auf denen die Groß­projekte aufbauen und theoretisch weiterarbeiten können, hat VK in seiner Bielefelder Habili­tationsschrift als Religionssoziologe erarbeitet. Jetzt nach zehn Jahren veröffentlicht er sie in überarbeiteter Form.[3] Ein grundlegendes Buch zu den Debatten über Religion in den unter­schiedlichen Fächern.

(1) Einleitung  (13-24)

„Die Rückkehr der Religion“ und „das post-säkulare Zeitalter“ waren die großen Thesen des vergangenen Jahrzehnts. Auf der anderen Seite stehen Beobachtungen der Entkirchlichung und der unsichtbaren Religion. Ist da immer irgendwie Religion enthalten oder erodiert Reli­gi­on doch? Wo also bleibt die Religion? Volkhard Krech versucht darauf in enger Verzah­nung mit den theoretischen Debatten empiriegesättigte Antworten.

(2) Paradigmen religionssoziologischer  Theoriebildung (25-43). Sehr knapp, aber klug zugeschnitten und kommentiert, behandelt VK:

Die Individualisierung von Religion, d.h. gegenüber der vorgeschriebenen Religion der Institutionen sucht sich das Individuum seine Religion. VK argumentiert gegen die These von der Auflö­sung von Religion, vielmehr handele es sich um eine Transformation. Dabei behält sie aber häufig nicht den Namen ‚Religion‘. Ein zentraler Begriff ist „das religiöse Feld“: Religion wird nicht definiert und damit normiert durch den Definierenden, sondern sie ist Teil von Kultur und damit verwoben (engl. embedded ‚eingebettet‘) mit Kunst, Musik, Recht, Wirtschaft, Herrschaft der jeweiligen Kultur; wo das Feld endet und ein anderes beginnt, bestimmen nicht die Forscher (oder normierend die Theologen), sondern wird „von der Praxis selbst festgelegt“ (16). Das ist etwas anderes als der Nominalismus, dass Religion sei, was die Leute so benennen. Dennoch bleibt die Frage, wer das Recht hat, Spieler in dem Feld zu definieren, die sich selbst als nicht religiös bezeichnen oder die von anderen Spielern nicht anerkannt werden.[4] Wenn das Verfassungsgericht den Islam in Deutschland nicht als Religionsgemein­schaft anerkennt oder Scientology den Charakter einer Religion aberkennt: Ist die wissen­schaft­liche Analyse davon abhängig, was diese – in dem Fall die juristische – Praxis festlegt? Oder muss man sich eher auf einen ‚Diskurs‘ beziehen, wie Kippenberg/von Stuckrad das darge­legt haben? Aufbauend auf Niklas Luhmann und Ulrich Oevermann bestimmt VK Religion als Kommu­nikation; sie verändert sich laufend im Prozess der Kommunikation. Die Kommu­ni­­ka­tion ist aber festgelegt durch beteiligte Institutionen und Individuen, das heißt, sie kann sich nicht plötzlich ändern, sondern Änderungen durchlaufen einen Prozess. Religionen mit hoher Professionalität von Spezialisten können kurzfristig Revolutionen durchsetzen (Refor­mation; Zweites Vatikanisches Konzil in der katholischen Kirche); tradi­tionelle Religionen brauchen dazu lange Zeit. Pierre Bourdieu hat das klar erkannt mit seinem Begriff des Habitus: Soziale Herkunft bestimmt den langsamen Prozess. Luhmann hat die Bedeutung der ’vertikalen’ Kommunikation hervorgehoben, d.h. die Hierarchien in Institutio­nen verhindern schnelle Änderungen. Hier wünschte man sich mehr Kritik an den Prämissen der Luhmannschen Theorie; denn seine Erfahrung des katholischen Christentums, der Tod als letzter Kern von Religion, der Begriff der Transzendenz gelten bei weitem nicht für jede Religion und man kann sie auch nicht als den letzten Kern der christ­lichen Religion sehen.

(3) Religiöse Erfahrung als ein kommunikativer Sachverhalt: Semantische Aspekte (45-72) Bei Kommunikation spielt das Erlernen und der kompetente Umgang mit„Sprache“ die zen­trale Rolle, die Semantik der religiösen Sprache allerdings hat keine Entsprechung von „rich­tig/falsch“ auf einer erfahrbaren Realebene, sondern sei immer metaphorisch bzw. tropisch. Religiöse Erfahrung ist eigentlich nicht mitteilbar. Als ein Beispiel dafür hat VK das beste Thema dieses Problembereichs gewählt: die Konversion (50-71). Es geht nicht um ein an­thro­pologisches Grundmuster der Erfahrung von Krise der alten Identität – Konversionser­leb­nis – Anschließen an die neue Gruppe der Konvertiten. Vielmehr ist das Konversions­erleb­nis eine Konversionserzählung, die sprachliche Darstellung einer neuen religiösen Identität. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Die Konversionserzählung ist das Ritual der ständigen Wiederholung der Konversion, die – hoffentlich, etwa beim Alkoholiker – vor dem Rückfall bewahrt. VK klärt, es geht nicht um die Erfahrung, sondern um die Erzählung von einer ‚Erfahrung’. Das ist ein schlagendes Ergebnis der Theorie!

(4) Entwicklungen organisierter Religion (73-113) als sozialstruktureller Aspekt. Zwischen der individualisierten Religion und der organisierten findet sich das Dilemma, dass die Mitglieder durchaus unterschiedliche Motive bewegt, dass man sich auf verbindliche Sym­bole einigen muss, dass Ämter Bürokratie und Finanzbedarf hervorbringen, die Begren­zung von Einmischung und Finger verbrennen und das Dilemma der Macht. (S. 74). Unter den Formen und Beispielen sind wichtig, wie die Diakonie das betriebswirtschaftliche Rech­nen lernen musste, das Organisieren, und damit in Konflikte mit professionell-ökonomischem Handeln kommt. – Das andere wichtige Argument des Kapitels ist der unausweichliche, aber auch oft produk­tive Austausch von Individuen in der organisierten Religion.

(5) Transformations- und Diffundierungsmodelle von Religion (115-240), der gesell­schafts­strukturelle Aspekt: Hier muss die Frage nach der Säkularisierung wieder aufgegrif­fen werden. VK spitzt ihn zu auf: Ist die Entwicklung unumkehrbar? Und findet dann Beispie­le für Resakralisierung und vor allem Transformation. Der Horizont ist nicht begrenzt auf Eu­ropa des 20. Jh.s, sondern bewertet den Vorgang in historischem Bewusstsein (wozu Sozio­logen häufig nicht fähig sind). Kon­kre­tion sind Austrittsbewegungen und Teil­nahme am Abendmahl. Zu dem deutlichen Anstieg nach 1945 (Graphik 123) gehört aber auch die grund­legende Veränderung im Verständnis des Abendmahls: es wird eher als Gemein­schaftsmahl und nicht mehr als ein Sündenvergebungsritual gefeiert. Wichtig ist die Überlegung, dass man Reli­giosität gegenüber dem harten Fakt Mitgliedschaft in der Kirche (143-151) durchaus messen könne. Unter Individuen-Religion ist eine Konkretion extremer Leistungssport (166-182), unter Politik und Religion geht es um religiöse Symbole und Begründung von Werten, bes. in der Europäischen Einigung. Unter Kunstreligion bespricht VK ein Triptychon von Francis Bacon (1965): „Kreuzi­gung“ mit Nazi-Zuschau­ern.

(6) Epilog (241-260)  Religion kann sich in der modernen Gesellschaft nur unter den Beding­ungen der Ausdifferenzierung bewegen und transformieren. Daher sind vor allem die funk­tio­nalen Äquivalente ein Bereich, in dem Religion sich transformiert hat. Leistungssport, Fit­ness, Askese etwa, Musik. Nicht nur, aber auch existenzielle Fragen.

Im Anhang die Bibliographie, Transskriptionsregeln, die farbige Abbildung des Triptychons Crucifixion und Verzeichnisse, allerdings kein Index.

Ein wichtiges Buch, das Theoretisches auf einer breiten Basis sozialwissenschaft­licher und historischer Forschung vermittelt. Es zeigt, warum die Religionswissenschaft bzw. die unter­schiedlichen Wissenschaften, die Religionsforschung betreiben, viel breiter ansetzen müssen, als das, was gemeinhin sich Religion nennt oder als Religion gilt, vermuten lässt.

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[1] VK verwendet gerne den Begriff statt Religionswissenschaft. Er begründet das damit, dass über Religion viele Fächer arbeiten. Religion ist also nicht der Gegenstand, über den nur Religionswissenschaftler, erst recht nicht Theologen allein sich wissenschaftlich äußern dürfen. Andererseits fehle dem Fach Religionswissenschaft die kritische Masse und das Forum der Theorie-Debatte, um eine eigene Wissenschaft zu bilden.

[2] Religionsforschung 1870-1933 (1998).  Simmels Religionstheorie (2002).

[3] Teile daraus hat VK schon in Thesen seiner Kapitel anderswo vorgestellt; dennoch ist die Veröffentlichung als Monographie im Zusammenhang neu und vieles in den Diskussionen im Internationalen Kolleg noch gereift.

[4] Dazu Krech S. 246 „Im Kommunikationskontext eines bestimmten gesellschaftlichen Bereichs kann mit Rekurs auf die ihm externe Religion erkannt werden, dass die Welt nicht nur im jeweils Benannten und Benennbaren nicht zu erfassen ist, sondern überhaupt im Bestimm- und Verfügbaren nicht aufgeht.“

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Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
an der Universität Bremen.
Bremen, 22. Februar 2012

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