Die Ursprünge der jüdischen Mystik. Von Peter Schäfer


Peter Schäfer

Die Ursprünge der Jüdischen Mystik

Verlag der Weltreligi­onen, 2011
671 S.
ISBN: 978-3-458-71037-0
Gebunden 38 €
zuvor auf englisch
The origins of Jewish mysticism.
Tübingen: Mohr Siebeck 2009

 

Die Ursprünge der jüdischen Mystik

Kurz: Mystik ist religionswissenschaftlich ein aufregendes Thema. Jüdische Mystik ist nicht die  jüdische Religion nach der Zerstörung des Tempels. Peter Schäfer arbeitet die Differenz heraus und zeigt die Grundlagen der Mystik, nicht nur der jüdischen Mystik. Ein Buch ganz oben auf der Liste meiner Lieblingsbücher.

Ausführlich: Jüdische Mystik ist ein großes Thema, das viele bearbeitet haben: Gershom Scholem,[1] vor allem und Moshe Idel;[2] angekündigt ist von Moshe Barasch ein Buch über jüdi­sche Mystik in der Moderne.[3] Fast könnte man den Eindruck haben, dass jüdische Religion in der Diaspora nur noch Mystik gewesen sei, lauter idiosynkratische[4] Ein­zelgänger und Sonderlinge. Esoterisch in dem Sinn, dass diese Art zu denken weit entfernt ist von der gewöhnlichen Lebenswelt und dem Sinn für das Gestalten des alltäglichen Lebens.

Das hier in einer deutschen Bearbeitung (äußerst kompetent in der Sprache und Sache von Claus-Jürgen Thorn­ton) veröffentlichte Buch von Peter Schäfer stellt die Jüdische Mystik wieder in den Zusammenhang der Religion. Zuvor hatte PS in den großzügigen Möglichkeiten des Historischen Kollegs in München mit internationalen Spezialisten darüber konferiert.[5] Ja, es ist wohl das Exil, hier das babylonische Exil, das die ersten Visionen kreativ werden ließ, die zum Grundbestand der Bilder der Mystik wurden. Die Vision des Propheten Ezechiel vom fahrbaren Thron merkava Gottes, der blitzschnell zwischen Wüste, wo der verschleppte Teil des Volkes woh­nen muss, und dem Tempel in Jerusalem sich bewegt, automatisch angetrieben von den vier Lebewesen. Eine fulminante Interpretation dieses einzig­arti­gen Textes in dessen Übersetzung PS die wichtigen Wörter und Begriffe des Hebräischen (in Um­schrift) einstreut und erklärt – und mit der Begegnung des Mose am Sinai kontrastiert. So wird der Kosmos zum Haus Gottes, während der Jerusalemer Tempel zerstört wird (59-82). Denn aus dem Jerusalemer Tempel muss er ausziehen, weniger wegen der Feinde als vielmehr, weil sein eigenes Volk ihn ver­ach­tet, weil der Umgang untereinander von Mensch zu Mensch die Gottesver­ach­tung zeigt. Selbst aus einer Priesterfamilie stammend, muss Ezechiel gelitten haben unter diesem Auszug aus dem alten Tempel, in den er in einer Schlussvision dann als Neues Jerusalem Gottes Anwesenheit wieder einziehen erschaut. Allerdings widerspreche ich in dem Punkt, dass es sich dabei um einen eschatologischen Neubau am Ende der Geschichte handle (S. 81), sondern um einen ‚Verfas­sungs­entwurf‘ oder Utopie für die Zeit nach der Umkehr.[6] Die ungeheuer kühnen Bilder Ezechiels nimmt später, nach der Zerstö­rung des Zweiten Tempels die Merka­va-Mystik auf und überträgt sie auf die Diaspora-Situation (296-335 und die Merka­va-Mystiker 336-446).

Eine zweite Wurzel der spekulativen  Frömmigkeit verbindet sich mit der Person des Henoch (83-126), der ohne zu sterben von Gott die Geheimnisse des Kosmos gezeigt bekam – so in dem kurzen Abschnitt in Gen 4. Während Ezechiel von der Erde aus in den geöffneten Himmel schauen kann, wird Henoch in die Nähe Gottes aufgenom­men und schaut von oben auf den Kosmos, der für die Menschen sonst unsichtbar ist. Die Henoch-Tradition ist wohl die wich­tig­ste parallel zum biblischen Kanon, so­wohl im Judentum, Christentum, Manichäis­mus wie im Islam.[7] Die ganze Bilder von Hölle und Himmelsstockwerken sind in den ‚apokryphen‘ Henochbüchern ausge­malt. PS macht deutlich, wie die esoterischen Kenntnisse über Was die Welt im Inner­sten zusammenhält, von der Gemeinde weg und zum besonderen Individualis­mus hin führt.

Nach PS‘ eingehender Darstellung eignen sich die Texte der Qumran-Gemeinde (163-216) wenig als Anknüpfung für eine indviduell gedachte Mystik, verstehen sich doch die Mitglieder der Gemeinde (besonders in den Sabbatopferliedern) als Priester, die gemeinsam mit den Engeln den Gottesdienst (den der Jerusalemer Tempeldienst nicht leistet) feiern. Wenn überhaupt, dann wäre von einer unio angelica zu sprechen; eine unio mystica mit Gott ist undenkbar.

Das Kapitel über den alexandrinischen spekulativen jüdischen Philosophen Philon zeigt dessen platonischen Bildung und der Erfahrung der zeitgenössischen Myste­rienkulte[8] – der Aufstieg der Seele durch Ekstase, Heraustreten der Seele aus dem Körper (243).[9]

Mit Spannung lese ich die Kapitel über die Rabbinen, ist doch PS der beste Kenner dieser komplexen und komplizierten, oft aus dem Anekdotischen ins Grundsätzliche kippenden  Texte. Das erste nennt PS Annäherung an Gott durch Exegese (245-295). Wieder ist Ezechiels Vision der Leittext. Wie die Schöpfung Genesis 1 schauen die beiden Texte Gott gewissermaßen über die Schulter. Ein gefährliches Unterfangen, von dem die Rabbinen abraten. Über die sichtbare Welt darf man reden und den verborgenen Gott suchen, aber schon die beiden Texte bleiben ausgeprochenen Meistern vorbehalten, also eine esoterische Disziplin. Von einer eigenen mystischen Erfahrung ist gar nicht die Rede. Interessant der Abschnitt über Origenes (256f), wo deutlich wird, wie der christliche Kommentator des Hohen Liedes die Praxis der zeit­genös­sischen Rabbinen und ihres Ausbildungscurriculums genau kennt. Und Ori­genes‘ Kommentar lasen wieder die großen Mystiker des 12. Jahrhunderts für ihre ‚Brautmystik‘, Wilhelm von St.Thierry und Bernhard von Clairvaux.[10] Das andere Kapitel über den Jerusalemer und den Babylonischen Talmud macht deutlich, dass die Thronwagen-Vision mit höchstem Respekt umgangen wird; man vermeidet die großen, die mystischen Themen.

Eine Einleitung öffnet den größeren Zusammenhang, bleibt aber abhängig von ande­ren Meinungen in den anderen Wissenschaften. Gerade beim Thema ‚Mystik‘ bewegt sich die Wissenschaft immer auf der Kippe: zwischen rationaler Analyse und zustim­mender Erfahrung. PS lässt sich nicht beeindrucken, sondern fragt kluge Fragen auch für die  anderen Wissenschaften. Für das jüdische Material ist die unio mystica nicht brauchbar, folglich braucht es noch andere Kennzeichen. Ich kenne keine andere Ein­leitung zu Mystik, die das Thema so analytisch befragt.

Wieder hat Peter Schäfer seine Fragen sehr klug und scharf gestellt und mit hervor­ragenden Einzelbeispielen und umfassenden Überblicken argumentiert. Es lohnt für alle, auch die nicht sich speziell für Judentum interessieren, dieses Buch zu lesen. Ein großartiges Buch!

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[1] Gershom Scholem: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin: de Gruyter 1962. Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Zürich: Rhein-Verlag 1962. Dazu viele weitere Bücher und Aufsätze.

[2] Kabbalah and Eros, New Haven: Yale UP 2005;  dt. Kabbala und Eros. Frankfurt am Main; Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2009 (meine Rezension auf dieser Seite). Auch er mit weiteren Büchern zur Kabbala.

[3] Moshe Idel 1920-2004.

[4] Ihre eigene (Religion) zusammenbasteln.

[5] Wege mystischer Gotteserfahrung. Judentum, Christentum und Islam = Mystical approa­ches to God, hrsg. von Peter Schäfer, unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 65) München: Oldenbourg 2006.

[6] Mit Hartmut Gese (1957), Jürgen Ebach (1972) s. Rez. Der drohende Untergang 1991, 78-118.

[7] Christoph Auffarth; Loren Stuckenbruck (eds.) The Fall of the Angels. Leiden: Brill 2004.

[8] Da würde ich ein Fragezeichen machen, denn Platon verwendet für den Aufstieg der Seele zwar ein Bild aus den Mysterien von Eleusis, aber dort ist nicht vom Aufstieg der Seele die Rede; dazu – bei PS nicht genannt – die Untersuchung von Christoph Riedweg: Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien. Berlin: de Gruyter 1987 und im Erscheinen der Artikel vom Rez. „Mysterien“ im Reallexikon für Antike und Christentum.

[9] Aus einer Rezension zur englischen Ausgabe (2009) von Mark Verman entnehme ich den Hinweis, dass PS Philos Zeitgenossen Paulus und seine mystische Entführung in den dritten Himmel (2 Kor 2, 1-4) nicht behandelt, dafür aber in einem älteren Aufsatz http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.php?id=32796

[10] Eine religionswissenschaftlich innovative Arbeit zur Mystik Bernhards in ihrem klösterlichen Kon­text Marvin Döbler: Die Mystik und die Sinne. (BERG 2) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2012.

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Christoph Auffarth,
Professor für Religionswissenschaft,
Universität Bremen

 

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