Ehrensperger Reformation

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Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Bern im 16. und 17. Jahrhundert. Zürich: TVZ 2011. 356 S.

Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in der Stadt St. Gallen, im Kloster und in den fürstäbtischen Gebieten vor, während und nach der Reformation. Zürich: TVZ  2012. 502 S.

Alfred Ehrensperger: Der Gottesdienst in Stadt und Landschaft Basel im 16. und 17. Jahrhundert. Zürich: TVZ 2010.

[Geschichte des Gottesdienstes in den evangelisch-reformierten Kirchen der Deutschschweiz 1-3]

Kurz: Alfred Ehrensperger,[1] erschließt detailliert und mit vielen neuen Quellen, wie die Schweizer Reformierten die Lebenswelt umgestalteten von der Zerstörung der Bilder in den Kirchen zur Sinnstiftung der Sakramente als ‚Zeichen‘ (und nicht mehr als magische Heilmittel) bis in viele Lebensprozesse der Ehe, Bildung, Feste. Eine gewichtige Grundlage für die Religionsästhetik.

Ausführlich: Vor wenigen  Jahren fand man in Bern bei Renovierungsarbeiten eine große Zahl von zerschmetterten Steinfiguren, die einmal das Münster zierten, von den Reformierten aber zerstört und als Geröll für die Pflasterung der Terrasse vor der Kirche verwendet wurden. Wahnsinn oder Gottes Wille? fragten die Kunst­histori­ker und Museumsleute, die die ausgezeichnete Ausstellung dazu aufbauten.[2] Aber die Entfernung und Verbrennung der Bilder aus den Kirchen, das Weißeln der Fresken, das Einschmelzen der Reliquienschätze ist nur das spektakulärste Zeichen einer umfassenden Veränderung der Sinnlichkeit zunächst im Bereich der Religion aber mit Folgen für die Kultur insgesamt.[3] Religionswissenschaftlich sprechen wir von der Aisthesis oder Religionsästhetik und untersuchen sowohl die Wahrneh­mung, ihr kulturelle Kodierung wie auch damit korrespondierend ihre Darstellung und die Repräsentation des Heiligen.[4] Dabei handelt es sich um einen großen und längerfristigen Transformationsprozess,[5] der protestantisch in der Epoche der Auf­klä­rung einen weiteren Schub der Rationalität erfuhr,[6] katholisch zunächst noch ver­stärkt wurde in der Barockfrömmigkeit und erst im Zweiten Vatikanischen Konzil eine Reform von oben erfuhr.

In großer Zahl haben die Reformatoren im 16. Jahrhundert Ordnungen aufgeschrie­ben und begründet, wie ein Gottesdienst nach dem Evangelium aussehen müsste. Radikaler als Luther waren in den deutschen Reformationen einige, die sich aber nicht durchsetzen konnten. Es mag genügen auf Andreas Karlstadt zu verwei­sen, der in Wittenberg die Zerstörung der Bilder als notwendigen Schritt der Refor­mation ansah, Luther aber in der Gewaltanwendung und Revolution das Werk in Gefahr sah und deshalb sogar sein Asyl aufgab, um in den Invokavit-Predigten den Bildersturm zu verhindern.[7] Ungleich prinzipieller ging die Reform des Kultes in der Schweiz vor sich.

Der jetzt 80-jährige Schweizer Pfarrer und Liturgiewissenschaftler AE (geboren 1933) hat die Funde seiner wissenschaftliche Arbeit in klar aufgebauten Werken umfassend dargestellt für die Städte und umgebenden Landschaften (in ihren historischen Zuge­hörigkeiten, nicht nach den heutigen Kantonen) Basel, Bern und St. Gallen. Obwohl man daraus unter heute modischen Begriffen kulturwissenschaftliche Bücher hätte schreiben können, sieht AE seine Aufgabe in der vollständigen  Dokumentation. Damit hat er Fundamente für Arbeiten geschaffen, auf die sich weitere Arbeiten mit weiterführenden Fragen stützen, die aber ohne dieses Fundament auf Sand gebaut wären.

Bern (Band 2; Basel lag mir nicht zur Besprechung vor) stellt AE zunächst den Zu­stand vor der Reformation vor: Welche Klöster und Wallfahrten, das Berner Münster und seine Reliquien des Hl.  Vinzenz, die Sakramente, Feiertage und die Geistlichen. Das vertieft das zweite Kapitel über die Gottesdienstverhältnisse bis zur Einführung der Reformation 1528: Neben der Volksfrömmigkeit kommen die Mandate des Rats zur Sprache, der eigentlich nicht zuständig ist, aber an den zuständigen Bischöfen von Konstanz und Lausanne vorbei Regeln einführt.  Sodann die ‚Wegbereiter“, wie u.a. der Maler Niklaus Manuel, und die öffentlichen Diskussionen (Disputationes) mit ihrer Berufung auf die Bibel – herausgefordert auch von den Radikaleren, den Täu­fern. Dass es schon eine Gärung und Krisenbewusstsein gab, kommt schon im „Jet­zer Handel“, einem Ketzer-Prozess 1507-09, zum Ausdruck. Mehrfache Disputatio­nen, Theaterstücke, Provokationen und Gegendemonstrationen tragen Fragen der Religi­on in die öffentliche Diskussion. Besonders die Frage der Priesterehe und das Recht der Laien in der Kirche sind Forderungen. Gotteslästerungen werden zu einem Problem.[8] Kapitel 3 schildert die sich überstürzenden Ereignisse von der Disputation in Bern 1528, die zum Beschluss des Rates führte, dass sich die Stadt Bern der Refo­r­ma­tion anschließt und die Maßnahmen der Umsetzung in den folgenden vier Jahren. Abgeschlossen wird der Vorgang mit dem Berner Synodus. Diese Ordnung erschien vielen anderen Städten zu konziliant gegenüber Altgläubigen und Täufern. Kapitel 4 fragt, wie sich die Reformation im neuen Gottesdienst niederschlägt: Die neuen Formen mit der Predigt im Zentrum, die Begleitung des Lebenslaufs von der Geburt über die Bildung der Kinder bis zur Pubertät, die Familiengründung und Erbrecht, die Ämter, das Sterben. Die Kirchenzucht, Buße, Ausschluss aus der Gemeinde und die Aufgaben und Rechte der Geistlichen. Das Festjahr und die Frage nach dem Fest, in dem das über die Stränge Schlagen Festinhalt ist, Karneval. Im anschließenden Kapitel werden die Reformprogramme und Liturgiebücher und Agenden vorgestellt, also Taufbüchlein, Abendmahlsordnungen, Ehebüchlein etc. Am Schluss gibt es noch eine Bibliographie der Gesangbücher.

Band 3: Reformation in Sankt Gallen Stadt, Kloster  und fürstäbtischen Gebieten. Angesichts der Bedeutung des Klosters des St. Gallus (südliches Ufer des Bodensees; gegründet 719) ist die Überlieferung vor der Reformation außergewöhnlich dicht. AE beginnt in diesem Band die Beschreibung des  vorreformatorischen Kultes im Hoch­mittelalter wieder mit den Herrschaftsverhältnissen, dann den Klöstern und Kirchen mit ihren Einrichtungen für die Gläubigen: Friedhöfen, Wallfahrten, Sakramentver­teilung, Ausführlich AE zu Fegfeuer und Ablass (51-56) und zur klostereigenen St. Galler Liturgietradition (68-82). Die Berichte zu den Benediktinern, Franziskanern u.a. betreffen das Mönchsleben, kaum die Laien und wenig städtische Religion; sie sind aber interessant, insoweit sie bis weit in die Reformationszeit gehen mit ihrer Forderung, kein Mönchtum mehr als Idealform christlichen Lebens auszusondern (vielmehr jedem Christen einige Regeln mönchischer Lebensführung zuzumuten). Teil 2 behandelt die Kontro­versen in den Reformationsjahren (141-266). Hier tritt sofort die Gestalt des Arztes und Ratsherren Dr. Joachim Vadian (von Watt) in den Mittelpunkt, kein Theologe, aber ein wichtiger Reformator mit Augenmaß. Eine sehr wichtige Grup­pe stellen die Prediger (Prädikanten) dar. Einerseits bringen sie die evangelische Lehre von ihrem Studium und Erfahrungen an anderen reformierten Orten mit, andererseits stellen die von außen kommenden Prediger oft sehr radikal Regeln auf, ohne Rück­sicht auf gewachsene lokale Verhältnisse. Im Extremfall war eine geist­liche Diktatur zu befürchten in der berüchtigten „Kirchenzucht“.[9] Vadian vermag es, Balthasar Hubmaier zu bändigen. Aber in der Bilderfrage sind die Schweizer sehr radikal, auch in St. Gallen 206-214. Und die Nonnen von St. Katharina werden be­schimpft und in ihrem geistlichen Leben angegriffen. Einen gewichtigen Abschnitt widmet AE der Selbstdarstellung in den Chroniken der Städte. Auffällig ist, dass Beerdi­gungs­gottesdienste (Schweizerisch: Abdankung) und Bestattungen lange nicht oder kaum ‚reformiert‘ werden.[10]
Teil 3 beschreibt AE die Konfessionalisierung. Dass AE weiter den Begriff ‚Gegenre­formation‘ – neben ‚Konfessionalisierung‘ und ‚Katholischer Reform‘ – verwendet, hat er bedenkenswert gegenüber allzu viel Harmonie gut begründet (443-446). Gera­de in St. Gallen kann AE beobachten, wie nach der Niederlage im Kappeler Krieg 1531 die Reformierten massiven Maßnahmen ausgesetzt sehen, die mehr als nur Re-Katholi­sierung darstellen, so 376-389 in Toggenburg. Auch die katholische Reform stellt AE dar (443-461). Ein interessanter Abschnitt gilt der Reform des Kalenders der als Gregorianischer Kalender päpstlich und daher in vielen protestantischen Gebie­ten nicht akzeptabel war, obwohl er einen Missstand besserte (310-314; 440).

Man kann nur dankbar anerkennen, dass Alfred Ehrensperger sein Lebenswerk um­fassend und mit vielen ausführlichen Quellenzitaten aus seinen Bibliotheksfunden in gut geordneter Form dargestellt und durch Literaturver­zeichnisse (vor allem wert­voll die gedruckten Quellen) und durch Namens- und Sachverzeichnisse erschlossen hat. Was ‚Reformation‘ bedeutet in der umfassenden Veränderung des Lebens – weit über den im Titel genannten Gottesdienst hinaus – lässt sich dank dieser Mono­gra­phien nun gut in Detail und im Ganzen erfassen.

März 2013                                                                                         Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen


[1] Im Folgenden abgekürzt mit ihren Initialen AE.

[2] Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Hrsg. von Cécile Dupeux; Peter Jezler; Jean Wirth. Zürich: Neue Zürcher Zeitung; München: Fink 2000. [Ausstellungskatalog Bern und Straßburg]. Zu Bern Franz-Josef Sladeczek: Bern 1528, dort S. 97-103. Katalog 316-323. – Ehrensperger 2011,  196 f erreicht nicht diese Dar­stellung.

[3] Werner Hofmann nannte eine Ausstellung Luther und die Folgen für die Kunst. [Hamburg 1983].

[4] Hubert Cancik; Hubert Mohr: Religionsästhetik. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 1. Stuttgart 1988, 121-156.

[5] Der Berner Katalog spricht von „Ersatzkultur der Protestanten“ (370-377). Das trifft aber den um­fassenden Prozess nicht.

[6] Alfred Ehrensperger: Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung 1770 – 1815. Zürich: TVZ 1971. Berühmt das Werk von Paul Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottes­dienst­lichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. 2 Bände, Göttingen: Vandenhoeck&Rup­recht 1921-1939.  Band 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus. 1921; ²1937. Band 2: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. 1939.

[7] Zum Konflikt zwischen Karlstadt und Luther, s. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 217-221; 474-480; 522-528 (meine Rezension auf dieser Seite). – Eine moderne kulturwissenschaftliche Darstellung Joris van Eijnatten; Fred van Lieburg:.Niederländische Religionsgeschichte. [Hilversum 2006] Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. (ebenfalls von CA auf dieser Seite besprochen).

[8] Die Einschränkung der Laien in ihren Äußerungen zur Religion hat für Zürich grundlegend unter­sucht Francisca Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kultur­geschichte des Religiösen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002

[9] Für Zürich das in Anm. 8 genannte Buch. AE spricht das Problem an neben Vadian/Hubmaier 165-188. 289 wird vom Rat bestimmt, dass nur Bürger der Stadt Prädikanten werden sollen.

[10] AE 219; 366; keine Grabkreuze auf evangelischen Gräbern. 383 f. – Das ist ein aufregendes Ergebnis der Auswertung der Kirchen-Statistiken Lucian Hölscher (Hrsg.): Datenatlas, dass im 19. Jahrhundert Bestattungen zur kirchlichen Aufgabe werden und in dem Bereich gegen den Säkularisierungstrend die Kirchlichkeit enorm zunimmt. Dazu ist eine Dissertation zu erwarten von Franziska Rehlinghaus.

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