Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit

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Sholomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit.
Aus dem Hebr. von Markus Lemke.
[Hebräisches Original Matai ve-ekh humtzea Erez Israel? Tel Aviv 2012] Berlin: Propyläen 2012.

 

 

Israel – ein Staat ohne Volk? Eine Provokation

Sholomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel: Mythos und Wahrheit. Aus dem Hebr. von Markus Lemke. [Hebräisches Original Matai veekh humtzea Erez Israel? Tel Aviv 2012] Berlin: Propyläen 2012.

Kurz: Ein provokatives Buch. Es will den Mythos entlarven, auf dem der Staat Israel beruht. Es kommt aber dem allgemeinen Problem des Nationalstaates nicht auf die Spur, wenn er Israel als Einzelfall behandelt. Am interessantesten sind die Teile über den christlichen Zionismus und das Schlusskapitel über einen konkreten Ort.

Ausführlich: Die Bildung der Nationalstaaten (in Europa und Südamerika) im Laufe des 19. Jahrhunderts forderten von den Historikern die Vor-Geschichte zu dem moder­nen Zusammenschluss. Die Bildung des Deutschen Reiches etwa sei das natürliche Ergebnis eines im Kern schon immer vorhandenen „Volkes“ (Nation von lat. natus est er ist geboren worden): aus den Germanen wurden die Franken, wurden die Deutschen, wurde das preußisch-protestantische Kaiserreich von 1871. Ein Volk, eine Sprache,[1] ein durch natürliche Grenzen abgetrenntes Staatsgebiet, eine Religion, ein Staat (mit einem König). Weit von den gewachsenen Realitäten entfernt, die Minderheiten im Land missachtend, die Gruppen außerhalb des Landes samt ihrer Gebiete begehrend, entstand ein militantes und aggressives Geschichtsbild. In der neueren Geschichtswissenschaft wurde deutlich, dass „Völker“ Zusammenschlüsse von in der Nähe wohnenden Gruppen sind, die sich – in Situationen, die sie nicht alleine bestehen können, wie Hungersnöte oder Kriege – verbünden, ihre Sprache, Lebensgewohnheiten angleichen, untereinander heiraten und so zu lang haltenden Gesellschaften werden können. Den Vorgang nennt man Ethnogenese (Entstehung von Ethnien, um das Wort ‚Volk‘ und ‚Stamm‘ zu vermeiden).[2] In der deutschen Gesetzgebung galt lange ein Einbürgerungsgesetz, das deutsche Vorfahren verlang­te, während heute wie in Frankreich lange schon, die kulturelle Verbundenheit aus­schlaggebend ist.[3] Dabei ist schon lange klar, dass eine biologische Definition von Nation nicht möglich ist. Sand beruft sich auf ein Buch von Benedict Anderson Imagined communities – Die Erfindung der Nation.[4] Dass ein und dasselbe Volk von den Römern in die Diaspora vertrieben, unter fremden Völkern gelebt, wieder ver­trie­ben aus England, Frankreich, Deutschland nach Osteuropa (Aschkenaz) und aus Spanien ins Mittelmeergebiet (Sephardim), durch die Nationalsozialisten dezimiert, sich nun im Nationalstaat Israel sammelt, ist sicher nicht einfach der historische Vorgang. Aber auf diesen Mythos gründet der Staat Israel und seine Politik gegen die Palästinenser.

Wenn man allerdings diesen Wandel des Geschichtsbildes auf die Juden und den Staat Israel anwendet, sticht man in ein Wespennest. Das tat Sand in einem ersten Buch, Die Erfindung des jüdischen Volkes,[5] und bohrt nach mit Die Erfindung des Landes Israel. Der Mythos verlangt, es gebe nur das eine Volk, kontinuierlich über die Jahr­tausende (S. 24 die These). Sands historische Widerlegung ist meist nicht weniger einseitig und argumentiert mit vielen Unbekannten. Der Staat Israel ist ein Viel­völker­staat, seine Staatsraison verlangt, ihn als jüdischen Staat zu behaupten. Sand reduziert das vielschichtige Problem auf die Identi­tät als Religion.[6]

Seine Eltern waren der Shoa[7] entronnen, als Shlomo Sand 1946 in einem Übergangs­lager zur Welt kam. Als Zweijähriger kam er nach Israel. Gerade ist er emeritiert als Historiker der Universität Tel Aviv.[8] Sehr eindrücklich ist in der Einleitung erzählt: der junge Soldat, der im Sechstagekrieg 1967 die in den UN vereinbarte Waffenstill­standslinie überschreitet, Kameraden von Tretminen zerfetzt, das Land ihres Volkes einzuneh­men, während Sand vor Angst fast stirbt und gar nicht ‚sein‘ Land ‚rück’er­obert. Nach einer Rückschau auf die Kritik an seinem ersten Buch (Volk) widmet sich Sand der modernen Rhetorik der Bezeichnung Erez Israel „Land Israel“. Die funda­men­tale Beobach­tung müsste der Historiker voranstellen, dass Nationalstaaten mit ihrem Gebiet und Grenzen in der Moderne völlig anders denken als in der Antike über Siedlungsgebiete gesprochen wurde, Israel keine geographische Bezeichnung darstellt, sondern ein religiöses und politisches Programm. Ein paar gute Beispiele hätten dem Kapitel Tiefenschärfe gegeben.[9] – Kapitel 1 „Ein Vaterland erschaffen“ (47-89). Nach einer Kritik an der Sicht der Soziobiologen und politischen Geographen auf Tier und Menschen, die ein Territorium markieren und verteidigen, geht Sand dem Begriff ‚Vaterland/patria‘ nach griechisch – römisch – Aufklärung, um dann die „Territori­alisierung des nationalen Körpers“ und Die Bedeutung der „Grenze“ seit der Franzö­sischen Revolution zu besprechen. Das stellt Sand vor ohne Bezug auf Israel. Auf dieses geht er im zweiten Kapitel ein, das er „Mytherritorium“ (91-151) nennt. Eine eingehende Diskussion, wie sie die Gräzistik zur Fremdheit und Ethni­zität der antiken Griechen führt,[10] fehlt; die Darstellung bleibt einseitig und ungenau im Detail. Kapitel 3 (153-220) zeigt, wie die Verortung des Heiligen im Lande der Urväter ganz wesentlich eine christliche Projektion war, und der Protestant Balfour am Ende des Ersten Weltkrieg 1917 in seiner Erklärung dem jüdischen Volk eine Heimat im britischen Mandatsgebiet zusicherte: die Protestanten erfanden das Land Israel! Kapitel 4 schildert jüdische Wissenschaftler am Werk, das weitgehend noch geträumte Israel in die geographischen Gegebenheiten einzubauen. Bald wurde aber das Erobern von Siedlungsraum zur bitteren Notwendigkeit und damit die Vertrei­bung der Palästinenser aus ihren Dörfern in die Flüchtlingslager. Die ‚Erlösung‘ des Bodens, wie ‚die Wüste blüht‘ dank der Tröpfchenbewässerung, das ist mehr Wunsch als Realität (284-287). Als Schlusskapitel beschreibt Sand noch seine heutige Nachbarschaft, die auf einem Ort liegt, Al-Scheich Muwanni. Wie dieser Palästinen­ser­ort erobert, enteignet und dann mit biblischer Erinnerung über­schüttet wurde in die Vergessenheit. Ein Buch, das wichtige Fragen stellt, das sich mit christlichen Pro­jek­tionen und Konstruktionen des Judentums auseinandersetzt, aber auch ein einsei­ti­ges Buch, das zu viel Meinung macht und zu wenig verantwortliche Geschichts­wissen­schaft bietet.

In der Tat braucht es in der deutschen Wahrnehmung Bücher israelischer Historiker, die nicht den alten Mythos vom David gegen Goliath weiterspinnen. Aber da gibt es bessere, wirklich historische Bücher, wie das jüngst übersetzte von Idith Zertal[11] oder noch nicht übersetzt etwas von Benny Morris.[12] Nach den vielen Geschichten der Legi­timation haben israelische Historiker eine Geschichte von Bomben­atten­taten, Exzessen, Enteignung und Täuschung aufgedeckt. Sands Buch ist mehr Provokation, sehr einseitig; es zeigt aber viel von der Art, wie in Israel – jenseits der Regierungs­position – sehr erbittert gestritten wird.

März 2013                                                                                         Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen


[1] Die Sprachwissenschaft hat vor dem Imperialismus schon Träume vom Herrenvolk als historische Tatsachen behauptet, wie Ruth Römer belegt Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München : Fink 1985, ² 1989.

[2] Grundlegend Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. Köln: Böhlau 1961

[3] Das sog. ius sanguinis (Recht des Bluts [Verwandtschaft]) hat historische Gründe, weil bei der Natio­nengründung viele Deutsche (Schweizer, Österreicher, Siebenbürgen, …) außerhalb der Grenzen lebten. Das ius soli (Recht des Bodens) setzt auf Wohnung, Sprache, Vertrautheit mit der Lebenswelt.

[4]  Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 1983; deutsche Übesetzung Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts.  Frankfurt am Main: Campus 1988; .

[5] Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin: Propyläen 2010; das Original:  [Matai ve ‘ekh humtza ha cam ha-yehudi? Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?]. Tel Aviv: Kinneret Zmora-Bitan 2008. Engl. 2010. Franz. 2008.

[6] 25 „Eine Gruppe von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die nicht ein einziger kulturell-säku­la­rer, alle ihre Mitglieder einender Inhalt zu eigen ist, der man, bis auf den heutigen Tag, allein durch Konversion beitreten kann, nicht aber durch Aneignung der Sprache oder einer Alltagskultur, kann nach allen geltenden Maßstäben nicht als Volk oder ethnische Gruppe gelten (ein Begriff, der zu wissenschaftlicher Blüte gelangt ist, nachdem der Begriff Rasse aus naheliegenden Gründen obsolet geworden war.“ – Das widerspricht Andersons Konzept, denn der „jüdische Staat“ ist zweifellos eine imagined community. Das Fehlen eines faktischen Identitätskerns, der allen Bürgern eines Staates vor­handen sei, tappt in die Falle einer mythischen, hier einer religiösen Herkunft.

[7] Anstelle des in der Öffentlichkeit üblichen Wortes Holocaust verwenden Juden meist das Wort Schoa, was ohne eine religiöse Bedeutung (Holokaust = Ganzopfer) „die Katastrophe“ bedeutet (besser ha-Schoa: die Katastrophe schlechthin).

[8] Sholomo Sand kürze ich im Folgenden ab mit dem Nachnamen.

[9] Sand verweist für die Umbennung (parallel zur Enteignung) von Orten auf Meron Benvenisti: Sacred landscape. The buried history of the Holy Land since 1948. Berkeley: California UP 2000.

[10] Ausgehend von der provokativen  Studie Black Athena: the Afroasiatic roots of classical civilization von Martin Bernal (bislang 3 Bände 1987; 1991; 2006) Wim M. J. van Binsbergen: Black Athena comes of age. Berlin: LIT 2011. Jonathan Hall: Hellenicity: Between Ethnicity and Culture. Chicago 2002. Ders.: Ethnic Identity in Greek Antiquity. Cambridge: UP 1997.

[11] Idith Zertal: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit. Göttingen.Wallstein 2011.

[12] Berichtigung eines Irrtums. Juden und Araber im Lande Israel 1936-1956. Tel Aviv 2000 [hebräisch].

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