Martin Mulsow: Prekäres Wissen

radikalufklcover-mulsowMartin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin: Suhrkamp 2012. [556 S. – ISBN 978-3-518-58583-2 EUR 39.95]

Jonathan I. Israel; Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. (stw 2053) Berlin: Suhrkamp 2014.

 

Martin Mulsow[1] ist Professor an der Universität Erfurt und leitet die benachbarte Bibliothek auf Schloss Friedensstein in Gotha, eine Bibliothek voll alter und seltener Bücher v.a. der Aufklärungszeit. Mit seinem neuen Buch hat er nicht nur geradezu detektivisch eine Reihe von Autoren und Büchern aufgespürt, von denen es nur ganz wenige Exemplare in Bibliotheken noch gibt. Oder gar die „Bibliothek der verbrann­ten Bücher“ (142-167); dort auch die für das gesamt Buch wichtige Zwischenbilanz zur „Transformation der Aufklärungsforschung“ (165-167). Vielmehr, was dieses Buch so aufregend macht, MM schreibt eine andere Ideengeschichte: was „Wissen“ in der Frühen Neuzeit ausmacht. Nein, es geht ihm nicht um die Dissidenten. Die vor der Zeit die Wahrheit zu veröffentlichen wagten: „… und sie bewegt sich doch!“ Nicht Dissidenten oder freethinkers. „Andernfalls läuft man Gefahr, isolierte Indivi­duen oder kleine Gruppen, die aus ganz verschiedenen Gründen ins Abseits oder in den Protest geraten sind, zu einer Großgruppe zu stilisieren und eine Homogenität zu suggerieren, die es faktisch nicht gegeben hat.“ (33 f) MM fragt weniger sozialge­schichtlich, erst recht nicht sozial­romantisch. Es geht ihm um Wissen, um prekäres Wissen. Nicht das Wissen, das als Lernstoff weitergegeben wird, abgeschrieben von abgeschrie­benem Wissen.[2] Das Wissen, auf dem die Ordnung der Gesellschaft beruht. Für die Begründung der Ordnung der Gesellschaft spielt Religion eine wichtige Rolle, aber eine Frontstellung, Aufklärung will Religion aufklären (also durch Wissenschaft erledigen), trifft nur für einen kleinen Teil der Aufklärer zu. „Das Buch der drei Betrüger“, d.h. der Betrug der drei Religionsstifter, zuerst 1719 – das Gegen­teil zu Lessings Ringparabel (1779) – oder der Pantheismus des Spinoza[3] sind nicht der Normalfall, aber gehören in das Bild. Auch religiöses Wissen gehört zu dieser Ideengeschichte (sehr knapp 278-287). Etwa der Streit um die „Wolfenbüttler Fragmente“ des Samuel Reimarus (283-287), die Lessing veröffentlichte. Die göttliche Trinität ist ein gerne beschwore­nes Ordnungsprinzip, aber es steht mit vielen Aus­sagen des biblischen Textes im Widerspruch. Das prekäre Wissen ist wagemutig. Es kann, es wird immer wieder auch Irrtümliches behaupten. Es geht nicht um die Eine Wahr­heit und um dem Sieg der Rationalität (was auch in Thomas Kuhns Paradigmen­wechsel das Leitziel bleibt[4]). MMs neue Kulturge­schichte des Wissens schließt auch die Irrtümer ein; wohlgemerkt auf beiden Seiten, sowohl beim etablierten Wissen wie beim expe­ri­mentellen. Oder ein Bisschen frivol ausgedruckt: „Die Wahrheit zeigt viele Gesichter“ (S. 195), Aufklärung verlangt „Pluralitätsbereitschaft“ (S. 167). Aber “prekär“ meint MM anders: Die Veröffentlichung der Erkenntnisse gefährdet den, der sie ausspricht: seinen Lebensunterhalt, und für manche sogar das Leben. Das pre­käre Wissen zu schützen, gibt es verschiedene Strategien: Zum einen ist die Antike ein Freiraum, antike Wissenschaft, Philosophie, Religion, auch antiker Sex („die nackte Wahrheit“, sexuelle Symbole rund um Harpokrates 168-219). Dann aber die versteckte Botschaft, die nur die Wissenden entschlüsseln können, das nie gedruck­te Buch, das nach dem Tod gedruckte Buch. Der kleine Zirkel derer, die ein clandestines[5] Buch zu lesen bekommen, der Brief, die Grafik. Das Buch der Natur als Alchemie.
Das Buch ist so voller Überraschungen und großartigen Beobachtungen, dass man sie nicht einmal andeuten kann, besser das Buch lesen!
Jetzt hat Martin Mulsow gemeinsam mit Jonathan Israel einige Aufsätze ausgewählt und übersetzt, die eine Strömung in der Epoche der Aufklärung als Radikalauf­klärung benennen. Margaret Jacob hat 1981 den Begriff eingeführt,[6] Jonathan Israel hat ihn im Buch dieses Titels Radical Enlightenment zugespitzt. [7] Die Diskussion macht deutlich, dass das Lob der Radikalität gegenüber dem moderate mainstream Kriterien und Ideale der Gegenwart einer Zeit unterstellt, die sich noch nicht auf die Erfolgsge­schichte historisch-kritischer Wissenschaft, Naturwissenschaft und demokratischer Gleichheit berufen konnte.[8] MM erklärt den anglo-amerikanischen Kontext dieser Fortschrittsgeschichte und die Aufgaben des Historikers angesichts der Vielfältigkeit des Materials. (MM: in Radikalaufklärung 2014, 203-233). Von dem Material gibt eine Ahnung die beeindruckende Bibliographie 179-186 der Clandestinen Philosophie im Aufsatz von Antony McKenna in Radikalaufklärung 2014, 149-186). Die Behauptung von Jonathan Israel, die „Radikalaufklärung vertritt die aufklärerischen Prinzipien besonders kämpferisch und subversiv gegen Religion und Aufklärung“ (in Radikal­auf­klärung 2014, 234), ist in Frage zu stellen: Bis zur Auflösung der politischen Ord­nung als Königtum war ein langer Weg, die anhand der politischen Sprache in der „Sattelzeit“ das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe untersuchte.[9] Was Religion an­geht, so gibt es zwei Wege, den anti-aufklärerischen und den der inner-aufkläreri­schen. Letzterer ist ein starker Motor der Aufklärung, der „Religion“ genauso verän­dert wie „Aufklärung“ selbst.[10] Freilich in der Gefahr steht, nicht mehr als Religion wahrgenommen zu werden.[11]
Der Reader Radikalaufklärung 2014 erschließt ausgezeichnet eine aktuelle Debatte in ihren Positionen und Voraussetzungen.[12] MMs Prekäres Wissen aber erschließt das Thema mit ganz neuen Aspekten und nah am Leben: in vielem ein neues Bild der gar nicht selbstverständlichen Aufklärung. Nicht eine rückwärts gelesene Erfolgsge­schichte des heute durchgesetzten Wissens, sondern vorwärts gelesen die Geschichte des prekären Wissens. Ein groß­artiges Buch!
10. Mai 2014                                                                                             Christoph Auffarth,
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
[1] Im Folgenden meist abgekürzt mit den Initialen MM.
[2] Das haben am Beispiel des antiken Lehrbuchs Naturalis Historia des Plinius d.Ä. dargestellt Arno Borst: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments. Heidelberg: Winter 1994. Und Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München: Hanser 1976.
[3] Auf Spinoza (ein holländischer jüdischer Gelehrter, 1632-1677) berufen sich viele Aufklärer, u.a. 1799 der evangelische Theologe D.F. Schleiermacher in seinen Reden über die Religion, aber eher als Name denn mit seinen Ideen. Das argu­mentiert Winfried Schröder in Radikalufklärung 2014, 187-202. Dagegen hatte Margaret Jacob seine Ideen 1981 für „zentral“ gehalten (übersetzt in Radikalufklärung 2014, 44f).
[4] Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: UP 1962; ² 1970. Dt.Ü. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.
[5] Adjektiv zu lat.. clam “heimlich”.
[6] Sie erläutert ihn in Anlehnung an den Klassiker Paul Hazard: La Crise de la conscience européenne. 1680–1715. 1935. Dt.Ü. Hamburg: Hoffmann und Campe 1939: Die Krise des europäischen Geistes. 1680–1715. Darauf bezog sich auch in seiner Dissertation Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, 1959.
[7] Jonathan Israel: Radical enlightenment: philosophy and the making of modernity 1650 – 1750. Oxford: UP 2001, über 800 Seiten. Der Held und Ausgangspunkt ist für Israel wieder Spinoza; die von ihm In­spirierten aber sind international über ganz Europa verstreut, nicht nur West-Europa. – Für Religions­wissenschaftler sei auf die Geschichte der Aufklärung in Osteuropa und Griechenland verwiesen von Vasilios Makrides: Die religiöse Kritik am kopernikanischen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821. Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte. Frankfurt am Main: Lang 1995.
[8] Schröder in: Radikalaufklärung 2014, 202: „bewusst selektiv und mit einer teleologischen Komponen­te“. – Teleologisch vom Ende her gedacht.
[9] Geschichtliche Grundbegriffe, Hrsg. Otto Brunner; Werner Conze, Reinhart Koselleck. 8 (in 9) Bände, Stuttgart: Klett 1972-1992.
[10] Nur der klassische Aufsatz zur aufgeklärten Religion: Friedrich Tenbruck: Die Religion im Mael­strom der Reflexion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 33 = Religion und Kultur. Hrsg. Jörg Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann. Opladen 1993, 31-67. Zum Thema Religion im Zeitalter der Wissenschaften jetzt Kocku von Stuckrad: The scientification of religion. A historical study of discursive change 1800 – 2000. Berlin: De Gruyter 2014.
[11] Volkhard Krech: Wo bleibt Religion? 2011. Meine Rezension auf dieser Website: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2012/02/22/wo-bleibt-die-religion-von-volkhard-krech/
[12] Die Debatte ist in vollem Schwung, nicht zuletzt dank der Anstöße und Tagungen von MM. Aber den besten Einblick über einzelne Fragestellungen hinaus gibt der Band in Radikalaufklärung 2014. Vgl. Martin Mulsow (Hrsg.): Netzwerke. (Aufklärung: Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 24) Hamburg: Meiner 2012. Zur Rezeptionsgeschichte: Georg Neugebauer (Hrsg.): ‘Aufklärung’ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsge­schichte. (Laboratorium Aufklärung 26) Paderborn: Fink 2014.

 

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