Christoph Schulte: Zimzum – Gott und Weltursprung

cover-schulteChristoph Schulte: Zimzum: Gott und Weltursprung.
Berlin: Jüdischer Verlag 2014.
[499 S. mit einigen Illustrationen. ISBN: 3-633-54263-9, 978-3-633-54263-5].
Gebunden 35 €.

 

Der unendliche Gott und die endliche Welt: Eine jüdische Alternative

Kurz: Christoph Schulte hat die Frage der Erschaffung der Welt durchdacht auf der Grundlage des genialen Konzeptes des Rabbiners Luria im 15. Jahrhundert: Gott, der unendliche, zieht sich zurück und ermöglicht damit die end­liche Welt. Somit ist die Schöpfung ein Teil Gottes, nicht mehr sein Objekt, wie im christlichen Schöpfungs­konzept: Schulte verfolgt die 400 Jahre jüdischer und christlicher Rezeption dieses faszinieren­den Gedankens, der so spezifisch aus der jüdischen Mystik stammt.

Ausführlicher: Christoph Schulte,[1] dem wir schon das hervorragende Buch über die jüdische Aufklärung verdanken,[2] hat sich seit einem Vierteljahrhundert vorgenom­men, dem Motiv des Zimzum und seiner Rezeption nachzugehen. Der Gedanke, dass sich Gott zurückzieht, seine Unendlichkeit aufgibt, um die endliche Schöpfung zu ermöglichen, mit dem Wort Zimzum (hebr. צמצום; engl. Tzimtzum; lateinisch meist als contractio wiedergegeben) bezeichnet, ist so spezifisch, dass man seine Verwen­dung bzw. das Weiterdenken klar identifizieren kann. Von dem sephardischen Mystiker Isaak Luria im Städtchen Safed (in den Bergen im Norden des heutigen Israel, wo an jeder Ecke ein Rabbi Schüler anzog und lehrte) ausgedacht. Aus der oberen Welt (Ejin sof; etwa: ‚das Unendliche‘) habe Gott sich selbst beschränkt und die zehn sefirot (aus griechisch ‚Sphären‘, σφαῖραι) in der Schöpfung als Gefäße seines Lichtes ermöglicht. Indem die Mystiker sich versenken und grübeln über die Sefirot, können sie teilhaben, mitwirken an der Erlösung der Welt (tikkun). Als Luria 1572 mit nur 38 Jahren starb, hatte er nichts aufgeschrieben, aber seine Schüler fassten, was sie glaubten verstanden zu haben, jeder etwas anders, seine Lehre in Büchern zusammen.

In einer ausführlichen Einleitung kämpft CS damit, wie er Zimzum kategorial ein­ord­nen soll: Handelt es sich um eine Metapher, einen sprachlichen Versuch, um eine wahre Offenbarung in Worte zu fassen? Insofern tut er sich schwer, einfach von Rezeption zu sprechen, wo derjenige sich eine Idee aneignet und weiterdenkt, damit aber abweicht von dem mystischen Konzept Lurias, sondern er kehrt wieder zu den Kategorien „Wirkung“, „ursprünglich“ und „Verfälschung“ zurück.

Das wirkt sich aber nicht auf seine Darstellung aus, wo er immer klar benennt, auf welchem Wege eine Autorin oder Autor die Rede vom Zimzum kennengelernt und wie weitergedacht hat. Der Rezeption des Zimzum geht CS dann durch vierhundert Jahre nach. Nur ein paar besonders interessante Teile kann ich hier ansprechen. Da ist die innerjüdische Auseinandersetzung um Sabbatai Zwi im 17. Jh., den viele als den Messias verstanden und der ebenso viele Juden begeisterte wie andere ihn er­bittert abstießen, zumal als er am Ende – gezwungenermaßen – zum Islam konver­tierte (196-242).[3] Mit der Kabbala denudata des christlichen Gelehrten Christian von Rosenroth (1677; S. 141-161) ist der Gedanke ins Lateinische übersetzt und kommt so in die europäische Diskussion, nicht zuletzt der christlichen Philosophie. Glänzend das Kapitel über Friedrich W.J. Schelling (S. 296-323), der gegen Hegel mit Hilfe des Zimzum eine Wendung erreicht. Man spricht nicht mehr über den Gott der Philoso­phen, also den nur postulierten Begriff des „Ersten Bewegers“ des Aristoteles, sondern über den „lebendigen Gott“.[4] Das übernimmt er von dem schwäbischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) und der wiederum hat es aus Rosenroth, S. 188-194.

Dann war für mich wichtig aus dem 20. Jh.: Für die ‚Selbstbeschränkung Gottes‘ aus dem Unendlichen ins Endliche bezieht sich Hans Jonas in seiner Tübinger Rede Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984) wieder auf die Selbstbe­schrän­kung Gottes, die er als Verzicht auf die ‚Allmacht‘ versteht. Der ohnmächtige Gott leidet mit seinem Volk in Auschwitz, aber er kann es nicht retten. Jonas distan­ziert sich aber explizit von der Lösung, die Jürgen Moltmann in seinem Buch Der gekreuzigte Gott (1972) vorgeschlagen hatte: mit Bezug auf die Erzählung von Elie Wiesel von einem Jungen, der im KZ stirbt und jemand raunt: Da stirbt Gott. Nein, für den ohnmächtigen Gott/ Sohn Gottes der Christen soll diese jüdische Geschichte nicht herhalten. Moltmann hat seinerseits 1985 in seiner ökologischen Schöpfungs­lehre Gott in der Schöpfung auf den rabbinischen Mythos vom Zimzum zurückgegrif­fen.[5] Die Schöpfung ist dann nicht Objekt des allmächtigen Schöpfers, der sie eines Tages auch wieder vernichten kann,[6] sondern Gott ist Teil der Schöpfung. Den Ge­danken eines Pantheismus (Gott ist die Natur, die Natur ist Gott) aber vermeidet er (wie schon Schelling): Gott ist in der Natur, aber die Natur ist nicht Gott; Gott ist größer.

Christoph Schulte ist (wieder) ein höchst lesenswertes Buch gelungen. Der Verlag druckt die Anmerkungen als Fußnoten auf der Seite (was ich für die wichtig halte). Bei aller gründlichen und gediegenen Wissenschaftlichkeit ist das Buch glänzend geschrieben und bietet eine oft über­raschende Geistesgeschichte Europas, in der ein Gedanke aus der jüdischen Mystik die Hauptrolle spielt.

Bremen, am 5. September 2014                                                          Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

[1] Im Folgenden oft mit seinen Initialen abgekürzt genannt: CS.

[2] Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte. München: Beck 2002. – CS (Hrsg.): Haskala: die jüdische Aufklärung in Deutschland 1769 – 1812. Themenheft der Zeitschrift: Das Achtzehnte Jahrhundert 22. Göttingen: Wallstein 1999

[3] Zu den heutigen Nachfolgern, den Dönme s. Marc Baer: The Dönme. Jewish converts, Muslim revolu­tionaries, and secular Turks. Stanford: University Press 2010.

[4] Aristoteles hat seine ganz naturwissenschaftlich gedachte Reihe von Ursache und Wirkung spekula­tiv erweitert mit der Frage, aber wer hat den ersten Anstoß gegeben? Da muss es etwas geben, das selbst nicht bewegt worden ist, aber die Ursache für die erste Bewegung ist. Das ist keine göttliche Person, sondern nur eine Spekulation.

[5] Schulte, Zimzum 2014, 405-408; 463-465 ohne den Zusammenhang mit Jonas‘ Rede zu beleuchten.

[6] Das hat Burkhard Gladigow in seinem Artikel „Natur“ im Metzler Lexikon Religion (Hrsg. von Christoph Auffarth; Jutta Bernard; Hubert Mohr. Band 2. Stuttgart 1999, 539-545) glänzend beschrie­ben.

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