Die Mischna – Heiligkeiten

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Die Mischna.
[5] Heiligkeiten – Seder Qodashim.

Hrsg. von Michael Krupp.

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2015.
737 S.

ISBN: 978-3-458-70051-7

Leinen. EUR 48 €

 

 

 

 

Wie geht Religion ohne Tempel?
Die Mischna beschreibt, was ‚heilig‘ ist

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Wozu die Rituale des Opfers haarklein, manche sogar genauer als im Buch Leviticus regulieren, wenn im Tempel gar keine Opfer mehr durchgeführt werden konnten, da die Römer den Tempel zerstört hatten? Die Abhandlungen der Mischna, was und wie etwas ‚heilig‘ ist, tun genau das.

Im Einzelnen: Die Mischna ist, so auch Michael Krupp,[1] erst nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempel im Jahre 70[2] entstanden und um 200 in Israel abschließend redigiert worden von einem Rabbi Jehuda ha-Nasi. Damals bestand der Tempel nicht mehr, eines der zentralen Rituale war in der Realität nicht mehr möglich: der Opferkult am Altar in Jerusalem. In allen Einzelheiten sind die Regeln und die Unterscheidungen, was, in welcher Form, bei welchem Anlass geopfert wird, „im Gesetz“, im Buch Leviticus der Tora beschrieben.[3] Die Mischna beschreibt und kommentiert das. Freilich haben Menschen schon zur Zeit des ersten Tempels unterschieden zwischen dem Ritual, dem oft mit hohem materiellen Aufwand betrie­benen Opferfest und der ethischen Haltung zu Gott und den Mitmenschen, wie etwa Amos . Mit der Zerstörung des Tempels, des ersten ‚Salomonischen‘ Tempels, 587 v.Chr. sogar schon eine Generation früher entsteht das theologische Programm des ‚Zweiten Gesetzes‘, des Deuteronomiums. Religion ohne Tempel, Religion ohne Opfer.[4]

Ausführlich behandelt sind die Regeln für das profane Schlachten Ḫullin 8 außerhalb des Tempels, wie das Blut zu vergraben sei, welche (in Leviticus nicht genau differenzierten) Sorten von Fisch und Geflügel geeignet sind. Auch Frauen dürfen schlachten – im Unterschied zum Tempelritual. Die berühmte biblische Regel (Ex 23,19; 34,26; Dtn 14,21), dass man das Böckchen nicht in der Milch (der Mutter) genießen darf (daher braucht ein orthodoxer Haushalt zweierlei Töpfe, Besteck, Geschirr für die „fleischige“ und die „milchige“ Küche), wird mit der kniffligen Frage erweitert, ob Geflügel und Milch zusammen bereitet werden darf, da Vögel keine Milch geben; eine von einzelnen Gruppen verschieden praktizierte Handlung. MK fügt S. 436 noch Erweiterungen zur Mischna in der Tosefta hinzu, die sich beide gegen Anhänger des Jesus wenden. Aber die anderen zehn Traktate gehen genau die Regeln des Tempelgottesdienstes durch, als ginge er morgen wieder los. Die Maße Middot des Tempels sind genau aufgeführt, genauer als sonst irgend in der Bibel, wie das tägliche Opfer im Tempel abläuft. Die vier Kategorien nach den Opfertieren 1. Tieropfer, a) Herdentiere Schafe, Ziege, Rind, aber nie Schwein. b) Geflügel, aber nie Fisch. 2. Speiseopfer zevaim shleamim. 3. Trankopfer, d.h.Flüssiges, bes. Wein und Öl. 4. Rauchopfer, darunter colah, griech.[5] der Holokaust (d.h. was ganz verbrannt wird: S. 278). Beim Verzehr wird darauf geachtet, dass man alles verzehrt haben muss am Ende des Tages oder bis zum nächsten Tag. Dass man nichts mit nach Hause nehmen darf. Daneben gibt es eine andere Kategorisierung der Opfer nach ihrer Funktion: Zu festgelegten Zeiten, also den großen Festen, hier Pesach/Passah und Versöhnungstag,[6] die Erstlinge, der Zehnte. Und individuell-persönlich wichtige Opfer, die nach Anlass gegeben werden: entweder Sühn- und Reinigungsopfer oder Dank- und Freudenopfer. Gegenüber den Regeln, wie Opfer „richtig“ zu vollziehen seien, dürfte in der Mischna die rechte Absicht wichtiger geworden zu sein gegenüber des korrekten Vollzugs der Opferhandlung (MK 280f). Die theoretische Beschäftigung mit den – in der Realität gar nicht mehr vollzogenen – Opfer­ritualen am zerstörten Tempel in Jerusalem erklärt der Talmud (bMen 110a;[7] übersetzt MK 305) gleichwertig, als wenn der Bibelleser die Rituale tatsächlich durchführen würde.

An jeglichem Ort wird mir geräuchert und meinem Na­men dargebracht. An jeglichem Ort, wieso dies? Rabbi Shmu’el ben Nahmani erwiderte im Namen Rabbi Jonatans: Das sind die Schriftgelehrten, die sich an allen Orten mit der Tora befassen; ich rechne es ihnen an, als würden sie mir räuchern und Opfer darreichen. Eine reine Opfer­gabe. Dies bezieht sich auf den, der das Gesetz in Reinheit studiert, der eine Frau nimmt und dann das Gesetz stu­diert.

An der Übersetzung hatte ich schon kritisch angemerkt, dass sie oft veraltete Begriffe weiter verwendet ohne den Mut zur Zielsprache. Erfreulich, dass der Kommentar von MK viele der Begriffe mit der Umschrift der entsprechenden hebräischen Wörter ergänzt.

Mit diesem fünften Band fehlt dem Gesamtwerk nur noch der sechste zur Vollendung:

  1. Michael Krupp: Einführung in die Mischna. Frankfurt am Main: Verlag der Weltreli­gionen, 2007.
  2. Ordnung: Zera’im „Samen, Aussaat“ (hebräisch זרעים) In der VdWR-Edition von der Arbeitsgruppe[8] um Michael Krupp erschienen 2013. Rez. Auffarth[9] Die Regeln für die sozialen Verpflichtungen der Lebensmittelproduktion: Abgaben an Priester, sozial Bedürftige, Fremde.
  3. Ordnung: Mo‘ed „Festzeiten“ (hebr. מועד). VdRW 2007: Feste und Fasten.
  4. Ordnung: Naschim „Frauen“ (hebr. נשׁים). VdRW 2010׃ Rez. Auffarth[10]: Familienrecht.
  5. Ordnung: Nezikin „Schädigungen“ (hebr. נזיקין). VdRW 2008. Rez. Auffarth[11]: Strafrecht; Schadensersatz.
  6. Ordnung: Qodaschim „Heiligtümer“ (hebr. קדשׁים). VdRW 2015. Die Rituale des Opferns und die Speisevorschriften.
  7. Ordnung: Toharot „Reinheiten“ (hebr. טהרות). In Planung. Rituelle Reinheit/Un­rein­heit von Personen, Sachen und Orten.

 

30.12. 2015                                                                                           Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Michael Krupp ist im Folgenden mit seinen Initialen MK abgekürzt.

[2] MK verwendet als jemand, der in Israel lebt, nicht „n.Chr.“ [nach Christi Geburt], sondern „u.Z.“ unserer Zeit. Englisch wird selten noch AD Anno Domini „im Jahre des Herrn“, sondern CE „Christian Era“ oder „Common Era“ verwendet.

[3] Leviticus nach den Leviten benannt, also der zweiten Klasse der Priester nach den Aaroniten. Auch 3. Buch Mosis genannt. Zu den Priesterclans s. www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/aaron-aaroniden/ch/ef00882ca66d93e0ae80ec1bc91530b8/ und Ulrike Dahm: Opferkult und Priestertum in Alt-Israel. Ein kultur- und religionswissenschaftlicher Beitrag (BZAW 327) Berlin / New York 2003. Kommentare zum Leviticus Rolf Rendtorff: Leviticus (BK-AT) 2004.

[4] Zur Joschianischen Kultreform s. die Rezension von Michael Pietsch: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/02/02/michael-pietsch-die-kultreform-josias/

[5] Die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel hat ihre eigene Terminologie, die Paulus aufgreift. Das hat einer der Mitarbeiter dieses Bandes, M. Varenhorst erforscht. S. die Rezension des Kommentars zur Septuaginta von Martin Karrer u.a. 2011, 335-346 auf dieser Seite.

[6] Dies ist bereits und ausführlicher im Traktat zum Versöhnungstag unter der Ordnung Feste Mo’ed ausführlich behandelt.

[7] Den Talmud, viel später zusammengestellt als die Mischna, gibt es gesammelt in Palästina, der Jeruschalmi, und den in der Diaspora-Gemeinde von Babylonien (Bavli). Hier spricht also einer, der schon immer weit, weit weg von Jerusalem gewohnt und nach der Religion der Bibel gelebt hat.

[8] Die Ausgabe beruht auf den zweisprachigen Ausgaben der einzelnen Traktate, die Michael Krupp in Jerusalem leitet und die von jungen, exzellenten Gelehrten bearbeitet werden.

[9] http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2015/05/15/die-mischna-saaten-seder-zeraim/

[10] http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2010/12/08/die-mischna-herausgegeben-von-michael-krupp/

[11] Zeitschrift für Religionswissenschaft 17(2009), 213-220.

 

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