Schulze: Der Koran und die Genealogie des Islam

Reinhard Schulze: Der Koran und die Genealogie des Islam.
(Schwabe interdisziplinär 6)

Basel: Schwabe 2015.
ISBN 978-3-7965-3365-5*;
49 € Gebunden

Die Entstehung des Koran und die Genealogie des Islam

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Ein wissenschaftlich anspruchsvolles Buch zur Entstehung des Koran. Seine Genealogie reicht weiter zurück, aber die prophetische Rufrede wird in der kurzen Zeit 610-632 n.Chr. ausgebaut zur Heiligen Schrift. Für die religionswissenschaftliche Diskussion grundlegend weit über das historische Thema hinaus.

Ausführlich: Reinhard Schulze[1] hat ein wissenschaftlich anspruchsvolles Buch geschrieben zu einem der großen Themen der letzten Jahre: Wie ist der Islam entstanden? Genauer: Eben diese Fragestellung weist er zurück. „Der Koran stiftete keine Religion und Muhammad war kein Religionsstifter.“ (596)  Islam sei der Gebrauch der Traditionsordnungen, die sich aus einem Prozess der Entstehung des Korans, seiner Kanonisierung und seiner Rezeption in diversen historischen Situationen, verbunden mit anderen Ordnungen (v.a. der Sunna, bestehend aus Hadithen und Prophetenbiographie) entwickelten. Es gibt freilich nicht den Islam, sondern Islame im Plural (202): „Natürlich kann der Koran gebraucht werden (und er wird es tatsächlich auch), um solche Fragen [sc. normative und axiologische Fragen der Gegenwart] zu beantworten, doch dann ist er schon längst zu einem Tradem geworden, dessen Gebrauch dem α-[Alpha-]Prozess unterliegt. Der Koran aber kann keine Antworten erzwingen – ein Umstand, der selbstredend auch auf alle anderen Heiligen Schriften zutrifft“ (596).

RS kennt nicht nur die einschlägige Forschung, sondern stellt Forschungsfragen und Ergebnisse in einen großen religionswissenschaftlichen Zusammenhang, der zu einigen grundsätzlich neuen Thesen kommt. So widerspricht RS der These, im Islam sei Politik und Religion ineinander verwoben und nicht wie im Christentum getrennt. In einer Staunen erregenden Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte (nicht nur Forschungsgeschichte!) und vielen gut gewählten Zitaten kann RS zeigen, wie vor allem seit dem 19. Jahrhundert ‚der Islam‘ zum Gegensatz des Christentums konstruiert wird. Während die lutherischen Freiheitstheologie das Individuum befreie, verlange der Islam die „Unterwerfung“ (als Übersetzung für „Islam“) des Gläubigen unter Gott.[2] Die westliche Sicht auf den Islam behauptet nun, die Unterwerfung gelte nicht nur Gott, sondern die verlange auch sein Stellvertreter, der Kalif. Die Behauptung, der Islam kenne die Trennung von Staat und Religion nicht,  unterscheide ihn von anderen Religionen dadurch, dass diese im kritischen Spannungsverhältnis zur Politik stünden, die Welt gerade anders denken als die Vertreter der Macht. Der Islam sei hingegen eine ‚Politische Religion‘ und – noch verschärft – eine totalitäre Religion. RS nimmt diese These auseinander, erklärt, wie sie entstand, und widerlegt sie überzeugend.[3] Allerdings nur für die frühe Zeit, die vielleicht ersten drei Generationen.

Mit der Widerlegung dieser These ist man nahe an der historischen Genealogie des Koran, dem Hauptthema des Buches. Dabei setzt RS sich mit dem Buch Der Koran als Text der Spätantike von Angelika Neuwirth (im Anschluss: AN) 2010 auseinander.[4] RS schätzt deren Analyse und Interpretation der Entstehungsgeschichte. In drei Punkten entwickelt er jedoch eine grund­sätzlich andere Position, nämlich:

(1) AN habe nicht den auslösenden Impuls beachtet, die Propheten-Rede-Handlung und

(2) die Gemeinde, die den Koran zu ihrer Heiligen Schrift gestaltet, setze sich von den Gewohnheitsregeln und von der sozialen Ordnung ab, an der die anderen Nachbarn weiter festhalten. Religiöse Gemeinde und soziale Gesellschaft sind prinzipiell unterschiedlich.

(3) Das Resultat stellt RS in einen großen Rahmen, den von ihm so genannten α-Prozess.

(zu 1) AN sieht den Koran entstehen in den Gottesdiensten anderer monotheistischer Gemeinden. Die Prätexte der jüdischen und christlichen Tradition, etwa die Psalmen, werden daher erst mit gesungen und dann bewusst neu gestaltet. Hier verwende ich das Passiv, denn AN lässt offen, wer das tat. Die Prophetenfigur Muhammad spielt bei ihr so gut wie keine Rolle, statt dessen steht die Ausdifferenzierung der islamischen Gemeinde im Vordergrund.[5] Während AN genau jüdisch-christliche Texte und biblische Personen vergleicht und so die Gegenkonzeptionen (oder eher: die Weiterentwicklung) herausarbeitet, fasst RS die Gemeinsamkeiten weit weniger konkret: „Da aber in der Spätantike der Erzählraum[6] nicht als ein Nebeneinander von Traditionsgefügen verstanden werden kann, sondern als Geflecht von unter­schiedlichen und frei kombinierbaren Narrativen, ist es unmöglich, die Quellen der koranischen Narration zu identifizieren“ (568). Nähe, Gewinnen von Verbündeten und Distanzierung sind mit Gemeinden verbunden, die ihre Identität durch Inte­grati­on und Abgrenzung definieren und sich dabei an konkreten Gottesdienstformen (Ritualen, Hymnen, Erzählungen) anderer Gemeinden oder sich abspaltender Gruppen orientieren. AN analysiert Texte, RS eher Einzelwörter[7] und soziologische Vergemeinschaftung. Zentral aber ist die These der Genealogie des Qur’an, deren erste Stufe den entscheidenden Impuls auslöste für die außergewöhnlich schnelle Formung zur Heiligen Schrift (in nur einer Generation, genauer von 610 bis zum Tode des Propheten 632, ist auch für AN der Text des Kanons weitgehend fest). Die – grundlegende – erste Phase ist für RS die prophetische Rufrede, qur’an, und der dazu notwendige Prophet. „Da die Offenbarungsrede einen Sprecher braucht, ist Muhammad eine historische Figur; sie ist aber nicht entlang seiner Biographie zu entwickeln.“ (188f; das ganze Kapitel 245-322; Kritik an Neuwirth 264).  Die Offenbarungshandlung (Sprechakt) gab es schon als eine Form in der sakralen Sprache. Neu ist, dass sie Alleinigkeit beansprucht. Erst als höchster Gott, dann aber als der einzige, wahre, transzendente Gott. Die Rufrede erhebt den Anspruch, dass Gott selbst (Ich) spricht, ohne den menschlichen Sprecher zu nennen (zu rasul –Gesandter 253). Die prophetischen Sprüche, die zum Handeln auffordern, werden in spätmekkanischer Zeit um weitere Formen ergänzt: Ausgangspunkte für die Verknüpfung und Auseinandersetzung mit Texten anderer monotheistischer Gemeinden nach der Flucht nach Medina und der Festschreibung. Aus der Rufrede wird qur’an in der zweiten Bedeutung, der Koran, oder die ‚Rezitation‘ eines festen Textes.[8]

(zu 2) Wie bildet sich die Gemeinde, die den Koran zur Heiligen Schrift erhebt? Mit den – für das religionswissenschaftliche Instrumentarium grund­legenden – Begriffen der Vergemeinschaftung, wie sie Max Weber entwickelte,[9] macht RS deutlich: Die neue Gemeinschaft bildet sich als Schwurgemeinschaft, indem die entschiedenen Anhänger einen Eid auf den einzigen wahren Gott leisten (nicht zu einen Herrscher, der mit dem Rufredner identisch wäre). Die Gemeinschaft unterscheidet sich schnell sowohl von der Kultordnung und deren Gebräuchen wie von der Sozialordnung. Es bildet sich keine Polis, in der man ein gemeinsames Leben aushandeln und integrieren muss, sondern die neue Gruppe ist ein oikos, ein ‚Haus‘ (529-549). Ob, wie und wann sich aus der segmentären[10] Gesellschaft mit oikoi der Anspruch entwickelt, Herrschaft religiös zu begründen, bleibt offen. Wenigstens für die frühe Zeit kann RS mit seiner Unterscheidung von Kultordnung, Sozialordnung, Bräuche und Wahrheitsordnung (und damit Alleinvertretung) klar machen, dass es keinen Anspruch gab, Wahrheit und Macht, Religion und Herrschaft für die Gesamtgesellschaft in einer Person zu vereinen. Neben Gottes Königtum kann es keinen irdischen König geben: also das Gegenteil einer Politischen Religion.

(zu 3) Den historischen Prozess stellt RS in einen großen Rahmen, den er den α-[Alpha-]Prozess nennt. Das entspricht etwa dem, was Karl Jaspers „die Achsenzeit“ nannte (83f). Religionen sind nicht mehr an lokale Heilige Orte gebunden,[11] Religion genügt sich nicht in der Ausführung von Ritualen. Religion zielt auf ethisches Verhalten. Dazu wird die transzendente Welt als Korrektiv der immanenten Welt gegenüber gestellt. „Es wölbte sich ein Himmel über den Kulttraditionen“ (185). Vom Himmel ist der Koran als Tafel herabgesandt (217). Aus dem Opferverbot 210 A. 57 ergibt sich die Notwendigkeit einer Ethisierung der Religion. Die interessante Idee, aus dem Koran entwickle sich auf Dauer eine religiöse Praxis post fanum, die sich von der pro-fanen Ordnung unterscheidet (568), wäre weiter auszuführen: Wie wird aus den deontischen und paränetischen[12] Prophetenworten die Routine der religiösen Rituale der Religion? Das Wort etwa vom „Tag des Gerichts“ wird ersetzt durch „Tag der Auferstehung“ (583). Aus der konkreten Drohung mit kriegerischer Gewalt wird die Erwartung und Eschatologie der Auferstehung. RS erweitert das Modell der Achsenzeit, dargestellt in einem Schema RS S. 180 f; zu der Unterscheidung Religion vs. Säkularität plant RS ein weiteres Buch.[13]

Dieses Buch bietet eine Diskussion, die zeigt, wie man methodisch und religionstheoretisch einen Prozess analysieren kann. Dieses Buch sollte jede/r ReligionswissenschaftlerIn gelesen haben: Es bietet weit über den eigentlichen historischen Vorgang der Kanonisierung hinaus die Perspektive auf Handlungen, die, zunächst im Gebrauch des Gottesdienstes in Heiliger Schrift Eingang finden, und die anschließende Vergemeinschaftung regulieren. Mit dem Schlüsselbegriff „Genealogie“ widerspricht er (gemeinsam mit Nietzsche und Foucault) Modellen wie Wurzel-Stamm-Zweige oder Entwicklung aus dem wesenhaften Keim. Dieses Buch durchzuarbeiten lohnt die intellektuelle Herausforderung auf höchstem wissen­schaft­lichen Niveau. Man wird und muss auch nicht jede These so akzeptieren, diskutiert werden sollten sie. Und für Gehalt und Umfang ist es den mäßigen Preis allemal wert, um es langsam und gründlich zu lesen und nachzulesen im eigenen Regal. Neben Angelika Neuwirths Buch natürlich.

22 Dezember 2016

Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Im Folgenden der Kürze halber mit den Initialen abgekürzt. RS ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern. In einem Interview fasst er seine Thesen zusammen (die der Titel nicht trifft) http://www.srf.ch/kultur/im-fokus/welten-des-islam/die-verschriftlichung-des-korans-war-ein-staendiger-prozess . Angelika Neuwirth, auf die RS sich oft bezieht, wird mit AN abgekürzt.

[2] Dazu stellt RS S. 417-482 die Anthropologie des homo serviens – der Mensch als Knecht dar.

[3] Auch hier wieder für die Religionswissenschaft grundlegend S. 491-549.

[4] Zu dem herausragenden Buch: Der Koran – als historisch-spätantiker Text gelesen und erklärt meine Rezension. Im Zuge der lebhaften Debatte um die Frühzeit des Islam, zu der auch Neuwirths Buch gehört, setzt sich RS vor allem mit Al-Azmeh, The Emergence of Islam in Late Antiquity (2014), und Ludwig Ammann, Die Geburt des Islam (2001), auseinander. Die These vom Islam als einer Spielart des orientalischen Christentums wird vorgestellt (Ohlig; Lüling; Luxenberg; S. 325f), aber verworfen.

[5] Vor allem der Neutestamentler Rudolf Bultmann hat das Konzept der „Gemeindebildung“ ent­wickelt. Gemeint ist, dass das, was im NT als Worte und Handlungen Jesu dargestellt wird, in vielen Fällen erst nach seinem Tod (und Auferstehung) ihre (im Text des NT endgültige) Formulierung gefunden haben kann. – Der Begriff hat nichts mit der soziologischen Entstehung der Gemeinden zu tun, die als Träger der vier unterschiedlichen Evangelien diese Texte (um-)formuliert haben.

[6] „Erzählraum“ entfaltet RS im Anschluss an „Sitz im Leben“ (der Alttestamentler Hermann Gunkel) in hervorragender Kenntnis und knapper Darstellung der literaturwissenschaftlichen  Diskussion. – Das ist aber wesentlich unbestimmter als AN das definiert. Sie bestimmt den ‚Sitz im Leben‘ präzise mit dem Gottesdienst.

[7] Für viele Einzelwörter berechnet RS quantitativ ihre Verwendung in den einzelnen Phasen und ihren Bedeutungswandel. In vielen Schemata übersichtlich dargestellt, etwa 358 Gottesbegriffe oder 268 qur’an, 276 kitab.

[8] RS macht – in der Frage, ob Muhammed denn schreiben konnte – deutlich, dass Texte auch feste Gedächtnistexte sein können. Für Schriftlichkeit spricht die Warnung vor Leuten, die neue Texte „in die Schrift“ einschmuggeln, in Sure 2,79 – RS 590 A. 30. – Bedeutungswandel in diesem Zeitraum des Wortes kitab von „Sündenregister“ zu „Buch“ 271; 317 (so schon AN).

[9] Aus Wirtschaft und Gesellschaft, einer Textsammlung, die seine Witwe Marianne Weber 1920 zusammenstellte, löste die Max-Weber-Gesamtausgabe wieder die einzelnen Texte heraus. Hier ist v.a. Religiöse Gemeinschaften maßgeblich, hrsg. von Hans Gerhard Kippenberg. MWG I 22,3, Tübingen: Mohr Siebeck 2005.

[10] Für das frühe Griechenland Christoph Auffarth, Der drohende Untergang 1991. Segmentäre Gesellschaften verabscheuen einen Herrscher (akephal), sind anarchisch, aber nicht ohne Regeln (regulierte Anarchie), handeln immer neu Konflikte oder Gemeinsamkeit erfordernde Projekte zwischen den einzelnen – weitgehend autonomen – Oikoi (Häuser) in Versammlungen der jeweiligen Hausvorstände aus.

[11] RS 572 „Die lokale Umgebung indiziert der Koran nur schwach.“

[12] Deontisch „Du bist verpflichtet“; paränetisch „Lasst uns gemeinsam etwas tun!“

[13] Eine wichtige Diskussion in der Religionswissenschaft, als Klassiker Talal Asad, Formations of the Secular, Stanford 2003 (Vgl. Ariane Sadjed http://www.bpb.de/apuz/162381/fallstricke-der-saekularisierung Forschungsprojekte u.a. http://www.nonreligion.net (Johannes Quack, Zürich); http://home.uni-leipzig.de/~gchuman/klassen/saekularitaeten-konfigurationen-und-entwicklungspfade/ (Leipzig).

 

 

 

 

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