Das philosophische Denken im Mittelalter

 

Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter.
Von Augustin zu Machiavelli.

Reclam UB 19479. Ditzingen:
Reclam ³2017.
874 S.

ISBN 978-3-15-019479-9. 19,80

 

Keine Langeweile im Mittelalter
und nicht widerspruchslos
‚das Zeitalter des Glaubens‘

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Nicht Stillstand, Erbe verwalten, von Theologen geknebelt. Die Philosophie des Mittelalters als Epoche aufregender Diskussionen über Gott und die Welt, dargestellt vom Meister der mittelalterlichen Philosophie-Geschichte.

Ausführlich: Ein Lesevergnügen, eine geistige Anstrengung mit großer Befriedigung! Schon ein Klassiker, hat Kurt Flasch[1] sein Handbuch über die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des (weit gefassten) Mittelalters neu gefasst und erweitert. Er beginnt in der Spätantike mit Augustin, der, gründlich in der klassisch-antiken Philosophie ausgebildet, eine christliche Deutung der Welt und ihres Ziels in der Bürgerschaft bei Gott[2] entwirft. Sein Konzept blieb für das ganze Mittelalter eine wichtige Referenz. Aber, so wendet Flasch nach gründlichem Studium gegen eine theologische Einvernahme ein, da ist Gift drin, die Gnadenlehre ist eher eine Erpressung.[3] Und er zeigt, dass das Mittelalter nicht in der Rezeption Augustins und später Aristoteles in der Scholastik erstarrte, mühselig sich wieder auf den Stand der antiken Philosophie zu bringen suchte und doch nie schaffte. Das Mittelalter zwischen Antike und Neuzeit, ohne eigenen Wert? Nein, mittelalterliche Philosophen konnten anders und neu denken.[4] Und: Philosophie braucht Geschichte.[5] Dazu hat KF nicht nur die Großen gründlich durchgearbeitet und interpretiert, sondern auch neue Texte entdeckt und ediert, wie v.a. Dietrich von Freiberg. Einige Texte mit Erklärungen hat KF zum Studium bereitgestellt.[6] In der Spätantike wurden noch weitere Grundlegungen geschaffen: Boethius, Dionysius Areo­pagita übermitteln einen Problemstand, der in neuen Rahmenbedingungen bearbeitet wird. Erst in der Karolingischen ‚Renaissance‘ (KF schwächt ab: Reform). Das 11. Jahrhundert ist nicht nur ein Vorspiel, auf Anselm von Canterbury reduziert, vor der „geschichtlichen Wasserscheide“ des 12. Jahrhunderts mit seinen vielen Aufbrüchen, der Erfindung der ‚Ketzer‘,[7] der Kathedralschule von Chartres und Abaelard.  Das 13. Jahrhundert mit dem Freiraum der Universitäten, der Aristoteles-Rezeption einer sauberen logischen Argumen­tation, der Beobachtung der physischen und physikalischen Vorgänge bis zur ‚ersten Auf­klärung‘, die dem Bischof von Paris 1277 zu weit ging.[8] Mund­tot machen und von der Theo­logie fesseln lassen sich die Philosophen aber nicht. Nicht nur der Humanismus (Florenz als Mittelpunkt einer neuen Welt, 600-608), die Herausforderun­gen durch jüdische und v.a. islamische Kultur verändern Fragen und Antworten.[9] Die Dar­stellung schließt mit dem Kapitel Machiavelli und Luther (666-691). Anmerkungen eines großen Kenners, der Jahr­zehnte die Forschung mit bestimmte, führen zur weiteren Forschung und den Texten auf bald 200 Seiten. Eine Zeittafel und zwei Indices, v.a. das Sachregister erschließen das Buch.

Das Buch hat Flasch zuerst 1986 veröffentlicht, es dann 2000 neu bearbeitet und auch die dritte Auflage ist noch einmal gründlich überarbeitet und ergänzt. In den drei Jahrzehnten dazwischen hat KF Einführungen und Hinführungen geschrieben, die großen Autoren wie Augustin, Thomas von Aquin und Albertus Magnus, Nikolaus von Kues neu und anders bedacht, kritisch gegen die Forscher gelesen und dargestellt, die diese gerne (nur) als Theolo­gen und als ihre Lehrer einheimsen, für ihre Zwecke zurecht schneiden. Da ist Flasch in seinen Urteilen und Kritik souverän; sie beruhen aber auf intensiver eigener Beschäfti­gung mit den Quellen. Diese dritte Auflage hat der Verlag, wie schon die zweite Auflage, als ge­bun­denes Buch 2013 in größerem Format herausge­bracht, bevor sie jetzt zum halben Preis als Taschen­buch in der RUB Reihe vorliegt: Leute lest! Für so wenig Geld wie ein Stehplatz im Stadion, zwei Filme im Kino – ohne Popcorn – kriegt Ihr ein Panorama des Mittelalters von der Spät­antike bis zum Beginn der Neuzeit, erst mal das Kapitel über den Lieblings­denker,[10] dann mehr und dann das Ganze, in dem man auch die großen Verände­rungen der jeweiligen Ep­oche in knappen, aber meisterhaften Strichen erfährt. Ein Meister ohne Distanz des Besser­­wissers, wunderbar verständlich formuliert, zur Diskussion herausfordernd und einladend.

8. März 2018

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Kurt Flasch, 1930 in Mainz geboren, studierte erst bei den Dominikanern und promovierte über (den Dominikaner) Thomas von Aquin, wandte sich dann aber einem viel breiteren und freieren Studium zu in Frankfurt, wo er bei Johannes Hirschberger und Theodor Adorno promovierte und sich habili­tierte, beflügelt vom Mai Achtundsechzig. Der Professur an der ‚Reform‘universität Bochum, dem Ruhrgebiet blieb er treu, auch als er Rufe an andere Universitäten erhielt. Italienische Kultur ist ein Lieblingsort, sein Dante ein lebenslanger Begleiter, den zu übersetzen er lange Jahre noch einmal bei den italienischen Spezialisten studierte. Flaschs Genie haben viele erkannt und mit Preisen geehrt.

[2] Das neue Geschichtsbild, das Augustin nach der Katastrophe der römischen Geschichte in der Eroberung und Plünderung Roms durch die Goten 410 n.Chr. findet, ist die civitas Dei, nicht das Ende der Geschichte jenseits dieser Welt und Zeit in einem Gottesstaat, sondern die Parallelität der irdischen Geschichte der Macht und der irdischen Geschichte der Gnade Gottes, die die Bürgerschaft bei Gott einbringt. Die Ewigkeit, Gott, umgibt die Geschichte am Anfang, am Ende und die ganze Zeit während der Geschichte, also auch im Jetzt, das zwischen Zukunft und Vergangenheit verfliegt. Das Zeitkonzept im 10. Buch der confessiones „Bekenntnisse“ Augustins hat KF in einem eigenen Buch vorgestellt (Frankfurt: Klostermann 2004) wie auch dieses Selbstzeugnis des Augustin bei Reclam zweisprachig herausgegeben und neu übersetzt (zusammen mit Burkhard Mojsisch, Ditzingen: Reclam 2009).

[3] Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2. Dieterich, Mainz: Dieterich 1990; ³ 2012. Eine in vielem neue Deutung Augustins hat er bei Reclam 1980 veröffentlicht, auch das mittlerweile in der vierten Auflage 2013.

[4] Das hat KF dann auch an dem Denken über das Böse in der Person des Teufels gezeigt, die zwar von Augustin ein negatives Menschenbild des Manichäismus erbte (vgl. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2012/02/02/weichenstellung-in-die-europaische-religionsgeschichte-augustinus-wendet-sich-vom-manichaismus-ab-2/), aber nicht darin erstarrte: Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie. München: Beck 2015.

[5] Das fordert und begründet Flasch in den Essays der beiden Bände Philosophie braucht Geschichte. Frankfurt: Klostermann 2003; 2005. Darin eine selbstironische Selbstvorstellung, die Frage wozu intellectual history gut sei. Eine Kritik von historischen Kategorien, wie Kontinuität, Entwicklung u.a., die Frage Wozu erforschen wir die Philosophie des Mittelalters? (2, 319-338) Und das großartige Zitat des Kardinals Franz Ehrle 1919 (2, S. 271) „Nur einen Zweifel kann ich nicht ganz unterdrücken: Wäre  nicht irgendwo ein Korrektiv gegen die Auffassung anzubringen gewesen, es sei die ganze christliche Theologie derart in der Summa und im hl. Thomas enthalten und abgeschlossen, daß jeder Blick auf andere Ansichten und andere Lehrer als unnützer, ja nicht ungefährlicher Zeitverlust zu verurteilen sei – eine Ansicht, die doch wohl als ungeschichtlich und ungesund gelten muß.“

[6] Kurt Flasch: Mittelalter. (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Band 2) Stuttgart 1982. Bibliographisch ergänzt 1994. 544 S. Man lese die ersten Seiten über die „Vorurteile, allerdings auch romantisch verklärende und absichtsvoll reaktionäre Verteidigungsversuche. Beide führen nicht zu historischem Verständnis.“

[7] Als religiöse Bewegungen dargestellt bei Christoph Auffarth, Die Ketzer. München: Beck 2005, ³2016.

[8] Kurt Flasch: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris. Mainz: Dieterich 1989.

[9] Bewusst herausfordernd formuliert KF: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie. München: Beck 2006.

[10] Theologie spielt fast immer eine Rolle. Wer mehr theologisches Denken haben möchte, sei auf die Arbeiten von Volker Leppin verwiesen.

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