Der Papst als Antichrist

Unter anderem eine Rezension zu

Nelly Ficzel: Der Papst als Antichrist. Kirchenkritik und Apokalyptik im 13. und frühen 14. Jahrhundert.

(Studies in Medieval and Reformation Traditions 214)
Leiden: Brill 2019. IX, 446 Seiten.
ISBN 978-90-04-38323-4

Ein Paradigmenwechsel in der Europäischen Religionsgeschichte:
Joachim von Fiores Drittes Reich

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Joachim von Fiore (gestorben 1202) hat ein epochemachendes Werk hinterlassen, das bekämpft oder begierig aufgesogen wurde. Eine zentrale Metapher darin ist die Rede vom „Dritten Reich“. Die lang erwartete kritische Ausgabe nähert sich der Vollendung, eine Dissertation diskutiert kompetent die Rezeption der ersten hundert Jahre, eine knappe Bemerkung gilt der Bewertung einer Linie der Geschichtsphilosophie, die Karl Löwith 1949 von Joachim bis zur Katastrophe der Selbstzerstörung des Nationalsozialismus führte.

Ausführlich: Joachim von Fiore ist eine zentrale Gestalt in der Europäischen Religionsge­schichte, insofern er die Logik der zwei Epochen, des Alten und des Neuen Testaments ersetzt durch eine trinitarische Geschichtstheologie mit einem Dritten Reich: wie das Neue Testament das Judentum auflöst in das Christentum, die Synagoge ersetzt durch die Kirche, so wird bei ihm weiter die Kirche durch eine neue, dritte Epoche aufgehoben. Das Reich des Vaters (Judentum, Moses‘ Gesetz, repräsentiert durch Abraham und Moses, aber prophetisch übertroffen durch Propheten wie Jesaja/ Jeremia/ Ezechiel) wird ersetzt durch das Reich des Sohnes, Jesus und die Stiftung der Kirche mit der Gründung auf Petrus und/oder alternativ auf die Jünger insgesamt. Mit Johannes gibt es eine weitere Prophetie, die über das Evangeli­um und Neue Testament hinausweist: Der Islam sah sich dadurch vorausgesagt und bestä­tigt.[1] Enorm wirksam in der Europäischen Religionsgeschichte war die Apokalypse des Jo­hannes, die ‚Offenbarung‘, die Apokalypse als letztes prophetisches Buch des Kanons ‚Neues Testament‘, das durchaus im Konflikt mit dem Evangelium steht, weil es gegen das univer­salistische Prinzip des Evangeliums eine dualistische Spaltung in Gut und Böse aufstellt. Joachim von Fiore (gestorben 1202) hingegen verwendet das trinitarische Prinzip: Über das dualistische Prinzip hinaus verlangt die Prophetie ein Drittes Reich.  Das bedeutet (1) eine fundamentale Kritik als Ende, Niedergang, Katastrophe der bestehenden ‚römischen‘ Kirche mit ihren (Welt-)Klerikern – und (2) die Prophetie einer dritten Epoche der Heilsgeschichte des ‚Heiligen Geistes‘. Die Weltgeschichte wird trinitarisch: Vater, Sohn muss ergänzt werden durch eine Dritte, letzte und erfüllende Epoche, die des Heiligen Geistes. Träger sind die Mönche, nicht die Kleriker. Das stellt die Interpretation der Apokalypse auf den Kopf. Bisher war sie fast durchgängig so verstanden worden, dass die Weltgeschichte abgeschlos­sen wird in einem erschreckenden Weltende, danach beginnt in einer anderen Welt Gottes ewiges Friedensreich. Nach dem Tod im Jenseits. Joachim aber sieht in Kürze ein inner­weltliches Reich: Die Amtskirche hat abgewirtschaftet, der Antichrist sitzt auf dem Papst­thron. Aber noch in der Geschichte wird er besiegt und ein Tausendjähriges Reich der Heiligen und Erwählten wird folgen: Diese innerweltliche Auslegung der Apokalypse nennt man Chiliasmus (oder millenniaristisch). Der erfüllt sich aber nicht, wie das die quietistische Interpretation gerne will, irgendwie esoterisch, sondern revolutionär, aktionistisch. Dahinter stehen die enormen Konflikte des 13. Jahrhunderts, in der die Prophezeiungen Joachims auf das Tagesgeschehen angewendet und unter seinem Namen (Pseudepigraphie) weiterge­schrieben werden.

In diesem Beitrag berichte ich über dreierlei: Einmal über die Kritische Ausgabe der Werke des Joachim, die jetzt erfreulicherweise nahezu vollständig vorliegt. Zum andern über die Rezeptionsgeschichte in den hundert Jahren nach Joachims Tod, die Nelly Ficzel in einer beeindruckenden Dissertation erforscht hat. Sodann fragmentarisch zur Rezeption im 20. Jahrhundert in der Auseinandersetzung um den Nationalsozialismus.

Die kritische Ausgabe der Werke Joachims nähert sich der Vollendung

Die Werke Joachims von Fiore waren lange nur in frühen Drucken zu greifen: Das zeigt einerseits das auch noch im frühen 16. Jahrhundert, also dreihundert Jahre nach dem Tod des Propheten das anhaltende Interesse und die Rezeption der Papstkritik in der Reformati­on, andrerseits die Verengung der breiten Handschriftenüberlieferung auf die eine Druck­vorlage. Nach ersten Vereinbarungen 1929 zwischen Herbert Grundmann[2] und Ernesto Buonaiuti zu  einer kritischen Edition gründeten die historischen Institute Italiens und Deutschlands 1990 eine internationale Kommission (Kurt-Victor Selge, Robert E. Lerner, Alexander Patschovsky, Gian Luca Podestà, Roberto Rusconi). Es dauerte lange, weil erst die Handschriften in allen möglichen Bibliotheken zusammengestellt werden mussten, mit wichtigen Entdeckungen, daraus wurden ediert die Opera omnia.

Von den Abteilungen liegen mittlerweile vor: Die Hauptwerke (Band 1-2), die kleineren Werke (4, 1-6) und der Evangelien-Kommentar (5). Noch fehlt der wichtige Apokalypsen-Kommentar (3). Die Werke sind mit umfangreichen Einleitungen sorgfältig inhaltlich vorgestellt, in den Kontext gestellt, datiert, und in Kenntnis aller Handschriften ediert. Dabei ist von Bedeutung, dass Joachim den Text diktiert hat und bei der Korrektur Notizen gemacht hat, die unterschiedlich eingearbeitet wurden. Für die Concordia etwa kann man keinen Autorentext (Archetyp) rekonstruieren, sondern drei Hyp-Archtypen, die sich auf einen Text beziehen, „der sich über einen längeren Zeitraum hinweg in Bewegung befand.“[3] „Es ist in der Joachimforschung über lange Zeit hin und durchaus bis zur Gegenwart viel zu viel und auf schwacher editorischer Grundlage behauptet und gedeutet worden.“[4] Dazu gibt es jetzt eine neue Grundlage.

Joachim <de Flore>: Ioachim abbas Florensis: Opera omnia.

1 Psalterium decem cordarum. A cura di Kurt-Victor Selge. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 32) Roma 2009. = (Monumenta Germaniae historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 28) Hannover: Hahn 2009. [ND 2014] CCXCVII, 467 S. Ill.

2 Concordia Novi ac Veteris Testamenti.  Ed. Alexander Patschovsky. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 32) Roma 2017. = (Monumenta Germaniae historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 28) 4 Bände. Wiesbaden: Harrassowitz 2017. CDXXIX, 1497 Seiten.

3 [Expositio in Apocalypsim. Die Praefatio ed. Selge in: Deutsches Archiv 46(1990),85-131.]

4 Opera minora.

  1. Dialogi de prescientia dei et predestinatione electorum. ed. Gian Luca Potestà. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 4) Roma: Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 1995. XIV, 158 S.
  2. Sermones. Ed. Valeria de (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 18) Roma: Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 2004. CI, 131 S.
  3. Exhortatorium Iudeorum. Alexander Patschovsky. Appendix: Versio abbreviata exhortatorii iudeorum auctore incerto confecta ed. Brigitte Hotz. Roma: Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 2006. XII, 439 S., Illustrationen.
  4. Tractatus in expositionem vite et regule beati Benedicti: cum appendice fragmenti (I) De duobus prophetis in novissimis diebus praedicaturis. Patschovsky, Alexander; Lerner, Robert Earl. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 29) Roma 2008. XII, 482 S. Ill., graph. Darst.
  5. De articulis fidei ad fratrem Iohannem: confessio fidei. Valeria de Fraja; Robert E. Lerner. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 37) Roma 2012. XCV, 139 S. Ill., graph. Darst.
  6. Scripta breviora. Ed. Alexander Patschovsky; Gian Luca Podestà. Genealogia sanctorum antiquorum patrum, De prophetia ignota Soliloquium, Intelligentia super Calathis, Quaestio de Maria. Magdalena et Maria sorore Lazari, De ultimis tribulationibus, Epistolae, Poemata duo. (Fonti per la storia dell’Italia medievale. Antiquitates 40) Roma: Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 2014. [xi,] 609 Seiten.

5 Tractatus super quatuor evangelia. ed. Francesco Santi (Fonti per la storia dell’Italia medi­evale. Antiquitates 17) Roma: Istituto Storico Italiano per il Medio Evo, 2002. LXXXII, 390 S.

Alexander Patschovsky: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter. Ostfildern: Thorbecke, 2003.

Liber figurarum. Marjoree Reeves; Beatrice Hirsch-Reich (ed.): The figurae of Joachim of Fiore. (Oxford-Warburg Studies 8) Oxford 1972.

Die Rezeption von Joachims Prophetie in den hundert Jahren nach seinem Tod:
Der jetzige Papst ist in Wirklichkeit der Antichrist

Galt Joachim zu Lebzeiten vor allem als Prophet, so entwickelte sich die Brisanz seiner Kritik an der Amtskirche und die Vorhersage, dass 1260 das dritte Zeitalter anbrechen werde, getragen von einer Gemeinschaft von Erwählten im Geiste, eine ecclesia spiritualis, erst nach seinem Tode. Denn zwei Mönchsgemeinschaften verabscheuten das luxuriöse höfische Leben der Päpste und lebten ausdrücklich in Armut: die Bettelorden der Franziskaner und der Dominikaner. Sie bewegten sich auf Messers Schneide, wenn sie die Amtskirche kritisier­ten, konnte ihnen doch jederzeit die Rechtgläubigkeit abgesprochen werden und sie so zu Ketzern erklärt werden.[5] Ein Teil der Franziskaner, die Franziskaner-Spiritualen, die eben für sich in Anspruch nahmen, die Träger der neuen Kirche zu sein, erfuhren diese Verfolgung. Ihr Verfolger, so war es in der Apokalypse vorausgesagt, war der Antichrist, also der Papst und die Papstkirche. Eine Strategie, sich vor der Verfolgung zu schützen, war einmal die nach außen betonte Orthodoxie (vor allem Bonaventura), zum andern aber, indem sich die Dominikaner und Franziskaner als Arbeiter der Papstkirche anboten, indem sie die Durch­führung der Inquisition übernahmen, die ab 1230 eingerichtet wurde.

Mit der Rezeption der neuen Heilsgeschichte Joachims beschäftigt sich die Monographie von Nelly Ficzel. In eingehenden Interpretationen der Schriften der etwa hundert Jahre nach Joachims Tod 1202, die sich mehr oder weniger explizit auf diesen berufen oder gar ihn als Autor reklamieren, arbeitet sie die Forschung auf und kommt zu neuen Ergebnissen. Wer wie sie das Mittellateinische gut beherrscht, vermag ihrer Argumentation gut zu folgen; wer nicht, bekommt keine Übersetzung, allenfalls Paraphrasen.[6] Zunächst stellt sie die Schriften Joachims von Fiore vor. „Er [Joachim] wandte sich an die wahre Kirche in der falschen, als welche ihm die von Christus gestiftete Heils- und Erlösungsgemeinschaft in seiner Gegen­wart vorkam.“ (33) Nach der detaillierten Interpretation der beiden Kommentare, die unter dem Namen Joachims die Klage-Propheten Jeremia und Jesaja auf die Gegenwart hin aus­legen, wendet sie sich weiteren Schriften zu. Zwei Knotenpunkte bespricht sie besonders: Da sind die Schriften, die im Konflikt zwischen Papst und dem deutschen Kaiser und süditali­enisch-sizilischen König Friedrich II. wechselseitig die andere Seite zum Antichrist erklären. Und glänzend das andere, fast die Hälfte des Buches ausmachende Kapitel um den Engels­papst. Das Jahr 1260 war vergangen, aber es war kein Führer aufgetreten, der das neue Reich des Geistes errichtete. In der Enttäuschung und in der Erwartung begann eine Bewegung ganz Europa zu ergreifen: die Geißler. In der Nachfolge Christi, aber ohne den vorausgesag­ten Messias (der am ehesten Franzskus, der zweite Christus/alter Christus mit den Wund­malen,[7] gewesen wäre, oder Friedrich II., der aber 1250 starb – oder in den Berg entrückt wurde, um eines Tages plötzlich den Umschwung herbeizuführen)[8] verstanden die Geißler so, dass sie wie Christus leiden sollten. Endlich 1294 schien die Prophezeiung in Erfüllung zu gehen: Der neu gewählte Papst war ein Armer, ein bescheidener frommer Mensch: Coelestin V. Als er aber feststellen musste, dass er den Intrigen der Papst-Curie nicht gewachsen war, gab er das Amt zurück. Nachfolger wurde der Oberintrigant Bonifaz VIII. Auf das Lamm folgte die listige Schlange. Die Rechtmäßigkeit sowohl des Rücktritts als auch die Tricks, mit denen der Nachfolger das Amt erhielt, waren heftig umstritten. Mit der internationalen Forschung (italienisch, französisch, angelsächsisch, deutsch) bestens vertraut,[9] schärft sie die Interpretationen, etwa bei den Visionen des Robert von Uzès.[10] So weit ausgezeichnet die Erstlingsschrift. Demgegenüber fällt die Einleitung (1-40) ab. Für eine Historikerin unge­wöhnlich Theorie-affin experimentiert sie mit Begriffen wie Komplexitätsreduktion[11] und Kontingenzbewältigung, Öffentlichkeit, Propaganda. Die These, dass die ganze Joachim-Rezeption Sache einer kleinen Bildungselite sei (18) , müsste sie eigentlich revidieren angesichts der breiten apokalyptischen Bewegungen wie die der Geißler, der sehr populären Franziskaner als Träger der joachimischen Prophezeiungen, mit denen sie sich identifizieren. Die joachimische Bewegung sozialgeschichtlich einzuordnen, lehnt sie ab, obwohl das in Teilen durchaus weiterführt.[12] Es fehlt fast vollständig die Operationalisierung der Unter­scheidung, was im Einzelfall ‚orthodox‘ sei, durch die Inquisition. Immer wieder aufgenom­men hat sie hingegen die religionswissenschaftliche Apokalypse-Interpretation von Alex­ander-Kenneth Nagel. Dabei kommt sie aber nicht auf den Punkt, (1) die kalte Apokalyptik eines essentiellen Dualismus mit einem Himmelreich im Jenseits zu unterscheiden (2) von der heißen Apokalyptik mit einer chiliastischen Phase in dieser Welt, vor der allerdings in der Gegenwart das Wüten des Antichrist (der Teufels potenziert durch die Endzeit) zu ertragen ist. Antichrist und Tausendjährige Herrschaft Christi mit seinen Heiligen sind fundamental verschiedene Perspektiven auf die Apokalyptik. (3) Mit dem Buch der Apoka­lypse ist für die Theologen der Auftrag verbunden, dieses Buch zu kommentieren und zu verstehen, was aber fast immer zu einer kalten Interpretation führt.[13] Die fehlende Differen­zierung, obwohl NF Ansätze dazu erkennen lässt, aber diesen fundamentalen Punkt nicht realisiert, führt zu Fehleinschätzungen.[14]

Der Nationalsozialismus als ‚Drittes Reich‘

Goebbels und Adolf Hitler verkündeten und nutzten als religiöse Akzeptanz der ‚Bewegung‘ des Nationalsozialismus die Metapher des „Dritten Reiches“. Die Bedeutung der chiliasti­schen Utopie des Dritten Reiches in der Europäischen Religionsgeschichte (ERG) hat unmit­telbar nach der Katastrophe der Dritten Reiches der ins Exil vertriebene Karl Löwith 1949 in folgenden Zusammenhang gestellt: Was Joachim von Fiore verkündet, hätten andere aufgegriffen als Erfüllung der Prophezeiung und in diesseitigen, immanenten statt jenseiti­gen Konzepten des ‚Himmel’reiches in säkulare Modelle der Utopie umgewandelt: Hegel, Marx, Hitler. Diese Deutung des Nationalsozialismus hat eine lange Debatte hervorgerufen, aus der ich nur wenige Stationen hervorhebe: Die Kontroverse zwischen den befreundeten Carl Schmitt und Erik Peterson (im Zusammenhang mit der Konversion des evangelischen Professors Peterson zum Katholizismus Weihnachten 1930, die Kontroverse zog sich weit in die NS-Zeit hinein), über Schmitts ‚politische Theologie‘ und seine These, alle politischen Begriffe seien säkularisierte Begriffe der Heilsgeschichte.[15] Nicht grundsätzlich wider­sprechend stellte Peterson sie unter den ‚eschatologischen Vorbehalt‘. Sie diskutierten das u.a. an der Frage, ob ein weltlicher Herrscher von Gott zum Akteur der Heilsgeschichte erwählt werden könnte. Nicht direkt an Hitler, sondern in historischer Verkleidung: War Augustus (indem er „erließ ein Edikt, dass alle Welt geschätztet würde“ und damit die Geburt des Heilands in Bethlehem herbeiführte) eine Person der Heilsgeschichte.[16] Später, in der Verarbeitung des Nationalsozialismus hat dem Satz Schmitts Hans Blumenberg wider­sprochen: Die Neuzeit hat nicht theologische Begriffe enteignet und säkularisiert, ist also illegitimes Kind des Christentums, sondern hat eine eigene Legitimität der Neuzeit.[17]

Neben der „Springflut an wissenschaftlichen Arbeiten zur Apokalyptik zur Jahrtausend­wende“ (die Ficzel hervorhebt) sind wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam die Arbeiten zur Apokalyptik, die in den Anfangsjahren des ‚Dritten Reiches‘ geschrieben wurden, das sich selbst als apokalyptische, genauer als chiliastische Bewegung verstand:[18] Dass das von Zeitgenossen auch so verstanden wurde, belegen u.a. die Arbeiten zur mittelalterlichen Prophetie und Chiliasmus, die in diesen Jahren veröffentlicht wurden. Da sind zu nennen neben Herbert Grundmann[19]  (*1902) Ernst Benz (*1907),[20] Wilhelm Kamlah (*1905)[21]– im weiteren Umkreis gehören zu dem Diskurs die Kritiker des NS Alois Dempf (*1891),[22] Carl Erdmann (*1898),[23] Gerd Tellenbach (*1903),[24] Ernst Hartwig Kantorowicz (*1895).[25]

Diese genannten Wissenschaftler diskutierten angesichts der Erfahrung ihrer Zeitgeschichte die religionsgeschichtliche Bedeutung des Anspruchs der Nationalsozialisten, das Dritte Reich als Tausendjähriges Endreich zu erkämpfen, in der die Herrschaft Christi mit seinen Auserwählten ein Leben ermöglicht, das ‚rein‘ ist von Gegnern und befreit vom Teufel.[26] Die ‚Endlösung‘ (die Ermordung aller Juden in Europa) wurde zum zentralen Ziel, mehr noch als der Weltanschauungskrieg gegen die gottlosen Kommunisten. Der religiöse Hintergrund einer großen Erzählung vom eschatologischen Dritten Reich aus der vielfältigen religiösen Tradition war ein starkes Movens für das konkrete Handeln, nicht das einzige natürlich. Nach der Katastrophe und der Zäsur 1945 verstanden im Rückblick viele, darunter Karl Löwith, den Nationalsozialismus als Gipfel des Nihilismus.[27] Auch Ernst Benz verwendet die Figur, hält Nietzsches Kritik des Christentums aber für die notwendige Grundlage seines theologischen Denkens.[28] Für viele Zeitgenossen aber ermöglichte der Nationalsozialismus die Wiedergewinnung des Glaubens und des Christentums.[29]

 

 Bremen/Much,  19. September 2019                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

 

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Im Johannes-Evangelium kündigt Jesus seinen Jüngern an, er werde ihnen, wenn er die Welt verlas­sen hat (bei Johannes: seinen Auftrag erfüllt hat), einen Parakleten schicken (Johannes 14,16). Darauf beruft sich Mo­hammed, er sei dieser Paraklet. – In der Johannes-Offenbarung (im Folgenden immer Apokalypse) dagegen wird das ganze Leidens-Szenario des Weltendes als Vision geschildert. Am Ende steht die Vision vom ‚Himmlischen‘ Jerusalem, das aber auf die Erde niederschwebt. Zur mittelalter­lichen Eschatologie Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 144) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002. Die Arbeiten des Rezensenten sind in der unten zu besprechenden Monographie von Ficzel bis auf einen kurzen Aufsatz nicht bekannt.

[2] Die Aufsätze sind gesammelt in HG: Joachim von Fiore 1977. Den Plan der Edition der drei großen Schriften konnte er nicht verwirklichen. Eine gute, kritische Darstellung seiner Wissenschafts-Biographie bietet der Wikipedia-Artikel auf der Grundlage von Anne Christine Nagels Forschungen (unten Anm. 18).

[3] Patschovsky in der Edition der Concordia (2017), cccxviiif mit Anm. 1547.

[4] Selge, Psalterium 2009, viii.

[5] Diesen Tanz auf Messers Schneide habe ich skizziert in Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und religiöse Bewegungen. München: Beck-Wissen 2005. ³2016. Die Bedrohung durch die neue Institution der Inquisition spielt bei NF praktisch keine Rolle.

[6] Die Besonderheiten des Mittellateinischen sind sorgfältig beachtet, fast keine Fehler in den lateini­schen Zitaten. Seltsamerweise werden Bibelstellen in deutscher Übersetzung (welcher?) wiederge­geben, die dem hebräischen Urtext folgen, statt dem Vulgata-Text. Für diesen gibt es jetzt die deutsche Übersetzung in der zweisprachigen Ausgabe, allerdings zu spät für diese Untersuchung, vgl. Auffarth, [Rez] Die lateinische Bibel auf Deutsch übersetzt: Vulgata 5. Berlin: de Gruyter 2018. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/03/12/the-eucharist-its-origins-and-contexts/ (12.3.2019).

[7] Die genauen Untersuchungen von Paul Bösch: Zwischen Orthodoxie und Häresie. Die Deutung der Stigmata des Franz von Assisi. in der ZfR 17(2009), 121-147 hat NF aufgenommen.

[8] Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer. (VMPIG 142) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 210-252.

[9] Zu spät für ihre Untersuchung von Petrus Johannes Olivi (S. 239-274) kam die Edition und Über­setzung der Lectura super Apocalypsim, auf die man 40 Jahre warten musste (NF 252: „ungreifbares Phantom“), denn der Herausgeber Warren Lewis hatte bereits in seiner Dissertation (Tübingen 1975) eine maschinenschriftliche Fassung vorgelegt. 2015 ist sie erschienen: Saint Bonaventure, NY: Franciscan Institute Publications 2015 [ISBN Edition 978-1-5765-9363-9 (LXXII, 899 S.); englische Übersetzung 2017: 9781576592359 (714 Seiten). Sie ist (außer in meiner Bibliothek) nur in den Staats-Bibliotheken von Berlin und München nachgewiesen.

[10] S. 219-238. Bisher stützte sich die Forschung auf die Vision des Petrus, der heruntergekommen, verwirrt, mit einem hölzernen Kopf erscheint, aber in der Hand doch noch die Schlüsselgewalt behält. Die Lösung von NF, non tamen amisit […] clavium potestatem [ohne jedoch die Schlüsselgewalt zu ver­lieren] das Wort amisit mit „nicht aufzugeben“ zu erklären (230), ist fragwürdig. Es müsste eher demisit „loslassen“ heißen. Aber NF hat Recht: daraus lässt sich keine Rechtfertigung der Amtskirche ableiten.

[11] Die Schablone Apokalyptik macht die Interpretation eher komplexer, als dass sie sie reduziert.

[12] Die frühe Schrift des DDR-Historikers Bernhard Töpfer: Das kommende Reich des Friedens 1964 zitiert sie an vielen Stellen zu“stimmend, wertet sie aber in der Einleitung (18) brüsk ab als „materialistisches Missverständnis“.

[13] Grundlegend religionswissenschaftlich der Artikel von Hans G. Kippenberg: Apokalyptik/Messia­nismus/Chilasmus. im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hrsg. von Hubert Cancik; Burkhard Gladigow; Matthias Laubscher. Band 2. Stuttgart: Kohlhammer 1990, 9-26.

[14] So S. 271 „Joachims Einfluss zeigt sich v.a. in der unbedingten Entschlossenheit, den Franziskaner­orden, die Kirche und den eigenen Standpunkt im dualistischen System der Apokalypse zu verorten.“ Oder wieder S. 266.

[15] Karl Löwith: Meaning in history Chicago: UP 1949. Dt. Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Kohlhammer 1953. Mit thematisch verwandten Schriften wieder K.L.: Sämtliche Schriften. Band 2. Stuttgart: Metzler 1983, 7-239. Dazu Lorenz Trein in: Theologische Zeitschrift [Basel] 2019 im Druck. Weit zurück, bis in die Aufklärungszeit, verfolgt die Debatte um politische Theologie Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Göttingen: Wallstein 2018, Band 1, 195-307.

[16] Die Kontroverse ist dargestellt bei Barbara Nichtweiss: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk. Freiburg: Herder 1992, 727-830.

[17] Das Buch erschien bei Suhrkamp in Frankfurt am Main 1966. In den folgenden Jahren 1973-1976 hat Blumenberg es überarbeitet (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft), dann wieder in einem Band 1988.

[18] Zur ‚Nationalen Eschatologie‘ Christoph Auffarth: Drittes Reich. in: Religionsgeschichte des deutsch­sprachigen Raums, Band 6: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher; Volkhard Krech. Paderborn: Schoeningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553. Zur Verände­rung seit dem Reichsparteitag 1938 s. Auffarth 2020.

[19] Der Historiker (1902-1970) interessierte sich für die religiösen Bewegungen, die gegen Ende des 12. und dann im 13. und 14. Jahrhundert massiv verfolgt wurden; sein Grundlagenwerk erschien 1935. Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die ge­schichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik. (Historische Studien 267) Berlin: Ebering 1935. Er gehörte zur `Kriegsjugend-Generation‘, die in der NS-Zeit ganz jung Karriere machte. Grundmann trat aus der Kirche aus und ließ sich als ‚gottgläubig‘ eintragen. Nach der NS-Zeit stieg er auf bis zum Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, der wichtigsten Institution der deutschen Geschichtswissenschaft des Mittelalters. Seine Arbeiten zu Joachim von Fiore, die Diss. Studien zu Joachim von Floris. Leipzig: Teubner 1927; weitere daran anschließende Aufsätze seit 1928/29 sind gesammelt in H.H.: Ausgewähl­te Aufsätze, Teil 2: Joachim von Fiore. Stuttgart: Hiersemann 1977. Am deutlichsten auf das Dritte Reich (1934) zugespitzt S. 219: „Mag man es als das Verhängnis des deutschen Volkes beklagen oder als seine Größe bewundern – jedenfalls ist es sein Schicksal, daß es zum Träger dieser (germanisch-christlichen) Reichsidee geworden ist, als andere Völker noch nicht die Kraft fanden zu einer politi­schen Gesamtordnung.“ – Zu Grundmann Anna Christine Nagel: Anne Christine Nagel: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. (Formen der Erinnerung 24) Göttingen 2005; meine Rezension, in: Jb der Gesellschaft für niedersächsische Kirchen­geschichte 104(2006 [2007]), 391-394. Wolfgang G. Schöpf in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 17 (2000), Sp. 528–546.

[20] Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. Stuttgart: Kohlhammer 1934. Zu Benz Auffarth: Marburg 1933-45. In: Olaf Blaschke; (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Frankfurt: Campus 2020.

[21] Apokalypse und Geschichtstheologie. Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore. [Göttingen, Diss.phil. 1931 bei Percy Ernst Schramm] (Historische Studien; Heft 285) Berlin: Ebering 1935. Kamlah wurde als Assistent 1934 mit Berufsverbot belegt ‚wegen jüdischer Versippung‘.

[22] Sacrum Imperium. Geschichtsschreibung und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renais­sance. München: Oldenbourg 1929 und folgend weitere katholische Gegenschriften gegen den NS.

[23] Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6) Stuttgart: Kohlhammer 1935. CE hielt mit seiner Kritik am NS nicht zurück; er verlor seine Lehrberechtigung an der Universität Frankfurt, blieb aber als Forscher bei den MGH.

[24] Libertas Ecclesiae. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 7). Stuttgart: Kohlhammer 1936. Seine Erinnerungen an die Auseinandersetzungen der Mediävistik im NS GT: Aus erinnerter Zeitgeschichte. Freiburg i.Br.: Wagner 1981, dort eingehend auch zu Erdmann.

[25] Zu Kantorowicz gibt es gute wissenschaftsgeschichtliche Einordnungen, v.a.: Johannes Fried: Einlei­tung zu E.H.K.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Stuttgart: Klett-Cotta 1998, 7-45. Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz: A Life. Princeton University Press, 2016.

[26] Apokalypse 19,11-21: Dem Tausendjährigen Reich geht die ‚erste eschatologische Schlacht‘ voraus, in der ein Reitern angetan mit einem blutgetränkten Gewand mit Namen „Wort Gottes“ das Strafgericht vollzieht an denen, die dem Tier und dem falschen Propheten sich angeschlossen hatten. Sie werden alle in einen Feuersee geworfen oder mit dem Schwert getötet.  – Vergleiche auch Matthäus 24.

[27] Karl Löwith versteht den Fortschrittsglauben als Säkularisat des Joachimischen Dritten Reiches, hält aber den “christlichen Glauben [für] unvereinbar mit einem Glauben an die Welt der Geschichte“. (GS 2(1983), 438), damit verwirft er also die Grundlage des Nationalprotestantismus. In seiner Schrift Der Europäische Nihilismus. Betrachtungen zur geistigen Vorgeschichte des europäischen Krieges, geschrieben und auf Japanisch veröffentlicht 1940 im japanischen Exil, ein Kapitel Deutschland das protestierende Reich. (GS 2, 473-540). Und seinen Aufsatz Vom Sinn der Geschichte beschließt er mit dem Vergleich „Der Zeitgenosse Napoleons (= Hegel) dachte seine Vollendung der europäischen Geschichte des Geistes als die erreichte Fülle eines unentwickelten Anfangs; der Zeitgenosse Hitlers (= Heideg­ger) denkt dieselbe Geschichte als einen sich vollendenden Hervorgang des Nihilismus.“

[28] Ernst Benz: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums. Stuttgart: Kohlhammer 1938 (149 Seiten; 2. Auflage … und der Kirche. (Beiheft 3 zur ZRGG) [180 S.] Leiden: Brill 1956. Ders.: Westlicher und östlicher Nihilismus in christlicher Sicht. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1948 [46 Seiten].

[29] Manfred Gailus; Armin Nolzen (Hrsg.): Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011. Vgl. Auffarth (wie Anm. 17).

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