Joachim von Fiore: Expositio super Apocalypsim

Joachim von Fiore: Expositio super Apocalypsim et opuscula adiacentia.

Teil 1 Expositio super Bilibris tritici etc. (Apoc. 6, 6) – De septem sigillis — Praefatio super Apocalypsim – Enchiridion super Apocalypsim – Liber introductorius in Expositionem Apocalypsis.

Herausgegeben von Alexander Patschovsky und Kurt-Victor Selge.

(MONUMENTA GERMANIAE HISTORICA: Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 31) Wiesbaden: Harrassowitz 2020. Frontispiz, XXXIV und 874 S.

ISBN 978-3-447-11376-2
geb. € 168

 

Das Ende der Amtskirche und das Dritte Reich des freien Geistes: Endlich die Grundlage des kritisch edierten Textes

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Trotz der ungeheuren Bedeutung des Joachim von Fiore für die Prophetie des Dritten Reiches als einer chiliastischen ‚Epoche des Geistes‘[1] gerade auch in der Ideengeschichte der Moderne[2] waren viele Aussagen spekulativ, weil es keine kritische Ausgabe seiner Werke gab. Die hier edierten Texte machen einen riesigen Sprung in der Edition des Werkes von Joachim, für die man teils immer noch auf den Erstdruck Venedig 1527 angewiesen war,[3] und lassen die Vollendung der 1929 projektierten, 1982 in Angriff genommenen kritischen Ausgabe in den MGH und in den Fonti per la Storia dell‘Italia medievale in greifbare Nähe kommen (das bisher Edierte ist bibliographisch im Zusammenhang mit der Nachgeschichte[4] dargetellt vom Rezensenten).[5] Die Vollendung – es fehlt jetzt noch die Edition der Expositio super Apocalypsim – ist dank der Tatkraft von Alexander Patschovsky bald zu erwarten. Er hat seit 2006 acht Bände (mit) ediert. Der vorliegende erste Band des Apokalypsen-Kommen­tars enthält die Vorreden, für die Joachim drei Anläufe nahm, teils wörtlich aufnahm und überarbeitete. Die Übernahmen sind im Text durch eine andere Schrifttype kenntlich gemacht. Neben der von Selge schon früher edierten praefatio (50 Seiten Text; in DA 46[1990], 85-131) sind dies das Enchiridion super Apocalypsim (164 S. Text) und der Liber introductorius in Exposi­tionem Apocalypsis (158 S. Text; rund ein Drittel ist im Enchiridion übernommen). Zum Ver­ständnis hat P. zwar keine Übersetzung, aber sehr wertvolle, umfangreiche Paraphrasen (beim liber 48 Seiten) vorangestellt. Mit den Fußnoten zusammen ist das schon ein kurzer, Kommentar, der vor allem die Textbezüge zu Bibelstellen und innerhalb des Corpus der Werke Joachims nachweist. Die Register umfassen nicht nur Bibelstellen und zitierte Autoren bzw. Werke, sondern auch ein klug unterteiltes Namens- und Sachregister und, sehr wertvoll, (4) ein Wortregister auf 102 S. sowie – bei Joachim unentbehrlich – (5) ein Zahlenregister auf 28 S. Besonderer Erwähnung wert ist das Schema unter dem Titel De septem sigillis,[6] das die sieben Siegel der Apokalypse als Epochen der Geschichte anders erklärt, als dies seit Augustinus kanonisch war. P. hat 2003 der Bildwelt des Joachim ein eigenes Buch gewidmet.[7]

Die Überlieferung der Handschriften hat P. in Stemmata erfasst, die auf eine Leithandschrift hinauslaufen. Die Herausgeber haben seit Jahrzehnten die Überlieferung studiert. Die Alter­nativen hat P. als variae lectiones im Apparat zitiert. Schon früh aber stand Joachim und die Rezeption seiner Werke unter der Drohung, dass sie als ketzerisch vernichtet oder zensiert werden könnten (etwa P. S. 445 Anm. 24).[8] Wie die dreifachen Vorworte zeigen, hat Joachim unter diesem Druck ständig an seinen Texten gefeilt und umgeschrieben. Und die Rezeption hat weiter entschärft oder verschärft, also ‚fortgeschrieben‘, etwa im Jeremia-Kommentar, der unter Joachims Namen umlief, aber nicht von ihm stammt.[9] Da lässt ein lapidarer, aber vielsagender Satz in P.s Vorwort stutzen, S. vii: „Die von Julia Eva Wannenmacher im Auf­trag von Kurt-Victor Selge angefertigten Teile bleiben aufgrund persönlicher wie sachlicher Differenzen unbeachtet.“ Die jahrelangen Vorarbeiten führten Julia Wannemacher zu einem alternativen Editionsprinzip. Während P. sagen kann (S. 124) „Die Zahl der Lesarten ist so groß, dass unmöglich alle im Variantenapparat berücksichtigt werden können.“ Aber er, der Editor, könne „die Authentizität im Sinne der Autorschaft Joachims“ entscheiden.[10] Wannen­macher hält dagegen, dass der Text im Fluss, fluide sei.[11] Das erfordert ein ganz anderes Prinzip der Edition als den Archetypus.[12] In dem Aufsatz „Edieren zwischen Gestern und Morgen: Vor einer Neuedition der Concordia Novi ac Veteris Testamenti Joachims von Fiore“. In: Historische Zeitschrift 303 (2016), 472-485 hat sie die editorische Arbeit von Patschovsky einer Prüfung unterzogen und neben Lese-Fehlern auch ein anderes Editions­prinzip aufgezeigt: Wenn Joachim über Jahre an den Texten in mehreren Versionen gear­beitet hat (wie ja an den hier edierten Vorreden deutlich wird, und der Text nach seinem Tod sowohl in mehreren Versionen umlief, als auch seine Schüler angesichts der Umstrittenheit seiner Werke (auf dem Vierten Laterankonzil, 14 Jahre nach seinem Tod, gab es ja eine partielle Verurteilung)[13] Veränderungen vornahmen und pseudepigraph fortschrieben, kann da der Editor entscheiden, welches der Text ‚letzter Hand‘ war, entscheiden, was der ‚authen­tische Text“ des Verfassers ist? Wannen­machers Kritik ist nicht zitiert. Die Gelehrte ist 2019 verstorben, so dass die Kontroverse nicht fortgeführt werden kann. Aber totgeschwiegen ist nicht beerdigt. Diese Grundsatzfrage muss fortgeführt werden.[14]

Alexander Patschovsky hat die Vollendung der Edition der Werke des Joachim erneut um Meilen vorangebracht mit dieser monumentalen Edition, die endlich einen kritischen Text bietet für einen der wichtigsten, aber immer umstrittenen Theologen der Anwendung der Apokalypse auf seine Gegenwart und Zukunft: Das Ende der Amtskirche und das kommen­de Dritte Reich des ‚freien Geistes‘.

 

Bremen/Wellerscheid, 7. Februar 2021                                 Christoph Auffarth

Universität Bremen

auffarth@uni-bremen.de

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[1] Wichtig bleibt Matthias Riedl: Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit. Würzburg: Königs­hausen & Neumann 2004. und A companion to Joachim of Fiore. Ed. Matthias Riedl. Leiden: Brill 2018.

[2] Eine vorzügliche Geschichte der Rezeption seit Lessing in Die Erziehung des Menschengeschlechts 1780, § 86-88 bieten Marjorie Reeves und Warwick Gould: Joachim of Fiore and the myth of the eternal evangel in the nineteenth and twentieth centuries. Oxford: OUP 2001, von Gould überarbeitete und erweiterte Aus­gabe des Buches von 1987. Dazu die Erinnerungen der 98 Jahre alt gewordenen Marjorie Reeves (1905-2003): The life and thought of Marjorie Reeves (1905-2003), advocate for humanist scholarship and opponent of utilitarian university education. An edition of her unpublished memoirs. Lewiston: Edwin Mellen Press 2011. Reeves stammte aus einer englischen Baptistenfamilie, also den religiösen Nonconformists bzw. Dissenters, „a family known for its independent women“ wie man in der englischen Wikipedia nachlesen kann. Nicht von ungefähr passt da ihr Buch, wofür sie ihr Leben lang kämpfte: Pursuing the muses. Female education and nonconformist culture, 1700 – 1900. London: Leicester University Press. 1997.

[3] Abbas Joachim: Expositio in Apocalipsim. Venetijs: Franc. Bindoni 1527.

[4] Dazu zuletzt Nelly Ficzel: Der Papst als Antichrist. Kirchenkritik und Apokalyptik im 13. und frühen 14. Jahrhundert. (Studies in Medieval and Reformation Traditions 214) Leiden: Brill 2019. Zu letzterem die folgende Rezension (folgende Anm.). Klassiker ist Marjorie Reeves: The influence of prophecy in the later Middle Ages. A study in Joachimism. Notre Dame [u.a.] : University of Notre Dame Press, 1993, revidier­ter Nachdruck der Ausgabe Oxford 1969. Für die Rezeption in Deutschland der Franziskaner Alex­ander Minorita, Expositio in Apocalypsim (1235; ²1249); dazu die Arbeiten von Sabine Schmolinsky.

[5] „Ein Paradigmenwechsel in der Europäischen Religionsgeschichte: Joachim von Fiores Drittes Reich. in: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/09/30/der-papst-als-antichrist/ [30. Sep­tember 2019]).

[6] Zur Edition von Julia Eva Wannenmacher: Hermeneutik der Heilsgeschichte. De septem sigillis und die sieben Siegel im Werk Joachims von Fiore. Leiden: Brill 2005 Patschovskys Bemerkung S. 51 und 20 Anm. 11.

[7] Alexander Patschovsky: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter. Ostfildern: Thorbecke, 2003. Dort sind die Diagramme aus den Handschrif­ten abgebildet.

[8] Das Problem, wie sich die Franziskaner retteten vor einer Verketzerung und ihr ‚häretischer‘ Zweig, der als Franziskaner Spiritualen der Verketzerung anheim fielen, s. Auffarth, Die Ketzer 2016, 96-108.

[9] Das hat Ficzel 2019 untersucht. Eva Wannemacher hat an einer Edition des Jeremia-Kommentars gearbeitet. Ihre Aufsätze dazu sind zugänglich unter academia.edu.

[10] Zur Kritik in ähnliche Richtung s. Matthias Heiduk: Rezension von: Alexander Patschovsky (Hg.): Joachim von Fiore. Concordia Novi ac Veteris Testamenti, Wiesbaden: Harrassowitz 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 6 [15.06.2019], URL: http://www.sehepunkte.de/2019/06/32231.html. Weitere Rezension von Ralf Lützelschwab in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68(2020), 465-467.

[11] Das Prinzip aus der Germanistik (s folgende Anm.) ist auch in der Mediävistik längst angekommen. Kristin Skottki macht das an den Historiae zum Ersten Kreuzzug deutlich: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie. Münster: Waxmann 2015, 172-251. Dazu Auffarth: Kulturkontakt – Kulturkonstrukte: In den Chroniken gedeu­tete Erfahrung auf den Kreuzzügen. [Rezension zu Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/09/17/christen-muslime-und-der-erste-kreuzzug/ ](17. Septem­ber 2016) Vorzüglich ist das Editionsprinzip dargestellt und an einem Beispiel durchgeführt von Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. Berlin: De Gruyter 2018, 403-513. Dazu meine Rezension: Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit In:https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).

[12] Das Prinzip des fluiden Textes nicht durch eine endgültige Edition starr zu stellen, hat die Germa­nistik in der revolutionären sog. Frankfurter Ausgabe von Friedrich Hölderlins Werken durch Dieter E. Sattler erprobt (20 Bände + 3 Supplemente. Basel, Frankfurt: Roter Stern Stroemfeld 1975-2000). Dort sind alle Stadien der Entwürfe, Überarbeitungen, durchgestrichenen und überschriebenen Fassungen dokumentiert. Bei Hölderlin liegen Autographen vor. Für Joachim muss man den Genese- und Rezeptionsprozess erschließen. Wie Wannenmachers Vorarbeiten aussahen, wird man wohl nie erfahren.

[13] Dazu Gian Luca Potestà: La condanna del libellus trinitario di Gioacchino da Fiore: oggetto, ragioni, esiti. In: Johannes Helmrath; Gerd Melville (Hrsg.): The fourth Lateran Council. Affalterbach: Didymos 2017, 203-224. Dazu Auffarth: Die Anweisungen des Papstes, wie man mit religiösen Bewegungen umzugehen hat, indem man die einzig wahre Religion festlegt: das Konzil von 1215. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/20/the-fourth-lateran-council/ (20. November 2020).

[14] Ich danke Dr. Christoph Egger, Wien; Prof. Sabine Schmolinsky, Erfurt und Prof. Matthias Riedl, Budapest/Wien für Diskussionen und Hinweise.

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