Säkularisierung

Christiane Frey, Uwe Hebekus und David Martyn (Hrsg.):

Säkularisierung. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte.

Berlin: Suhrkamp 2020.
765 Seiten.
ISBN 978-3-518-29803-9.
Broschur. 25 €

 

Frisst die Moderne die Religion?
Beiträge aus 250 Jahren

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine umfangreiche Sammlung von Texten aus etwa 250 Jahren zum Streit um die Säkularisierung als ‚Siamesischer Zwilling‘ der Religion. Meist bestimmt die säkulare Position, was sie unter Religion versteht und bekämpfen müsse.

Ausführlich: Immer noch ist das Thema Säkularisierung heiß diskutiert – seit mehr als zweihundert Jahren, eine ganze Zeit abflauend,[1] dann seit ein paar Jahren wieder anders, schärfer zugespitzt als ein zentrales Problem der Gesellschaft. In der Einführung heißt es dazu:

Angesichts der zunehmend virulent werdenden Bedrohungen, die von fundamentalistischen Bewegungen ausgehen – dem vielbeschworenen „Dynamit“ unserer Zeit[2] – scheint nichts angesagter, als genau mit neuer Emphase zu benennen und voranzutreiben, was lange mehr oder weniger unbestritten als eine der maßgeblichsten Errungenschaften der Moderne galt, eben die Säkularisierung. Mit dem Begriff verbinden sich im westlichen Denken unhintergehbare Werte wie Gleichheit, Demokratie, Freiheit, Individualität und nicht zuletzt Toleranz, die auf das Großprojekt der Aufklärung zurückgehen und die den zunehmend pluralistischer werden­den Gesellschaften der Moderne in besonderer Weise angemessen erscheinen. (S. 11)

Ist das das Programm der Sammlung? Religion als Widerstand gegen die Aufklärung?[3] Die Prophezeiung aufgrund der Formel: Je moderner eine Gesellschaft, desto weniger bedarf sie der Religion, hat sich nicht erfüllt. Wohl auch deshalb, weil diese These voraussetzte, dass die Welt mehr und mehr durch naturwissenschaftliche Erforschung restlos erklärt kann und kein Rest von Unerklärbarem übrig bleibt. Diese kognitive Dimension ist aber bei weitem nicht der Hauptgrund dafür, dass Menschen glauben.[4] Auch Kontingenzbewältigung, auf die sich Niklas Luhmann bezog, als Soziologe an Funktionen für die Gesellschaft interessiert, reicht nicht als Erklärung für den Fortbestand von Religionen. Und die Frage ist im welt­weiten, globalisierten Blick eine andere: Warum geht im alten Europa der Bezug auf Religio­nen zurück, ja verbreitet sich eine Angst Europas vor der Religion während sie in anderen Regionen der Erde zunehmen? Diese Beobachtung lässt sich nicht mit Modernisierung erklären. Im Gegenteil, wie José Casanova in seinem Buch Public Religions in the Modern World[5] nachwies, erfolgte in manchen Gesellschaften die Modernisierung dank der Religion: in Spanien, Portugal, Polen fegten Katholiken, Laien wie Priester, die Rechtsdiktaturen und die kommunistische Diktatur hinweg. Katholiken, die man für Modernisierungsverweigerer und ihre Religion für Demokratie-resistent hielt.[6] Umgekehrt ist aber auch zu beobachten, wie das Detlef Pollack mit quantitativen Daten tut,[7] dass Menschen, die nicht als Kinder Religion vertraut gemacht wurden, in der nächsten Generation dies auch nicht an ihre Kinder weitergeben. Die Familie als Ort der Traditionsweitergabe verliert an Bedeutung.

Die Einleitung bestimmt drei Dimensionen der Säkularisierung (1) eine staatsrechtliche, die den modernen Staat erst aus der Neutralisierung der Religion(en) ermöglicht, eine lebens­weltliche, die durch die Lebensformen der Moderne keine Religion mehr brauche,[8] und eine epistemische Dimension, die zwar (den Konstanzer) Dieter Groh nennt, aber nicht ernst nimmt, dass aus der Religion heraus moderne Wissenschaft entstanden ist. Am Ende steht ein Plädoyer, die Vielfalt der multiple modernities (Eisenstadt) auch für multiple secularities die anzuwenden und von Säkularisierungen zu sprechen.[9] Kluge Gedanken, aber nicht ganz zu Ende gedacht. Sehr gut ist aber die Erkenntnis, dass die Befürworter der säkularen Selbst­behauptung definieren, was Religion sei, die sie dann bekämpfen (21-26).

So ist eine umfangreiche Sammlung von Grundlagentexten, die umfangreichste bisher, will­kommen. Nicht nur die immer wieder verwendeten Texte, sondern die Herausgeberin und die beiden Herausgeber, alle im Umkreis des Konstanzer Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration, haben auch alte Schätzchen gehoben. Aber vor allem bilden sie in Teil IV aktuelle Positionen ab. Die Sammlung wird mit einer Einführung eingeleitet 11-31, aus der schon zitiert wurde. Teil I Weltlichkeiten versammelt 15 Texte von Augustinus (420 n.Chr.) bis Immanuel Kant (1793). Die Antike ist wieder einmal ausgespart. Teil II, Program­me genannt, gibt Texte von Lessing 1780, Heinrich Heine, Ludwig Feuerbach, Marx, Stücke aus dem Streit, den Ernest Renan vom Zaune gebrochen hat,[10] und die Antwort zweier Mus­lime darauf,[11] bis John Dewey 1934. Teil III Kritische Verwicklungen beginnt mit Émile Durk­heim 1912 über Max Weber, Hannah Arendt, Carl Schmitt, Dietrich Bonhoeffer bis zu der Kontroverse um die Legitimität der Neuzeit bei Karl Löwith und Hans Blumenberg mit einem interessanten Text dazwischen (1960) von Dschalal Al-e Ahmad Okzidentose.[12] Der Teil IV Aktuelle Positionen enthält neben westlichen Denkern (neben dem Text von Richard Rorty, Religion als Geprächshindernis, 1994 die wichtigen Beobachtungen von Charles Taylor und Jürgen Habermas) doch auch wieder nur drei Texte von Muslimen, jüdische Stimmen sind besser vertreten. Einige Texte sind neu übersetzt, alle Texte auf Deutsch. Der Band schließt mit einer editorischen Notiz und den Textnachweisen.

Die Texte sind – sinnvoller Weise – nicht vollständig abgedruckt, aber auch nicht ganz kurz zitiert. Der Zusammenhang im Gesamttext und im Werk der jeweiligen Autoren ist nicht kurz dargestellt. Die Einleitungen zu den vier Teilen begrenzen sich auf den Argumentati­onsgang des Diskurses, da sind sie hilfreich. Aber Vieles, wie Kontexte, historische Situation, Reaktionen, bedarf dann doch wieder des Rückgriffes auf die kommentierten Ausgaben, wie die großartige Einleitung von Bettina Stangneth[13] zu Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu Kants Provokation und dem angeblich aufklärungsfeindlichen Wöllner­schen Religions-Edikt zur Zensur. Die Textnachweise sind nicht gut recherchiert, mögen sich die Herausgeber dafür auch bei manchen bedanken. Jahreszahlen des Originals oder der Übersetzung, der Rückgriff auf die Erstauflage, korrekte Titelangaben usf. sind vielfach fehlerhaft. Beispielsweise für Novalis: Seine Rede hielt er 1799, stieß mit seiner Ironie auf den römischen Katholizismus als scheinbare Utopie auf Kopfschütteln. Den Text des, 28-jährig 1801 verstorbenen, bei den protestantischen Herrnhutern erzogenen Autors veröffentlichte erst 1826 der gerade zum Katholizismus konvertierte Schlegel. Ohne diese Information kann man den Text kaum verstehen, der eine neue universale (‚katholische‘), aber nicht konfessi­onelle Religion auf der Grundlage der Französischen Revolution entwirft, eine Antwort auf Schleiermachers Reden aus dem gleichen Jahr.[14] Die mittlerweile entstandene Romantik las das als Programmtext ihrer katholisch dominierten Bewegung. – Oder: Charles Taylor ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund, dass er in Kanada lebt und die Regierung berät, die Gleichberechtigung für alle im Einwanderungsland durchsetzen will, dabei alle Interessen und Sichtweisen berücksichtigen will, katholisch also keine Leitkultur sein soll, die für andere denkt und vorschreibt, wohl aber eine eigene Stimme einbringt.

 

Bremen/Wellerscheid, 13. April 2021

Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:   auffarth@uni-bremen.de

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[1] Dazu Hartmut von Sass: Von Deutungsmächten wunderbar verborgen. Habermas, Taylor und die Metakritik der Säkularisierungstheorie. In: Irene Dingel; Christiane Tietz (Hrsg.): Säkularisierung und Religion. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2019, 11-37.

[2] Die HerausgeberInnen beziehen sich auf Jan Assmann: Gesetz, Gewalt und Monotheismus, in: Theologische Zeitschrift 63(2006), 475-486, hier 475. Die wichtige Alternative in Assmann: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne. München: Beck 2018 kommt nicht vor.

[3] José Casanova hat das auf den Punkt gebracht Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009, meine Rez. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/02/20/jose-casanova-europas-angst-vor-der-religion-herausgegeben-von-rolf-schieder/ (20.2.2010) und gezeigt, wie ‘öffentliche Religion’ gerade Demokratisierung auf den Weg gebracht hat.

[4] Die weiteren Dimensionen bei Christoph Auffarth/Hubert Mohr: Religion. Metzler Lexikon Religion 3. Stuttgart 2000, 160-172. Was Religion umfasst, ist in der Einleitung verdünnt auf die unten genannten drei Dimensionen.

[5] Chicago: University Press 1994.

[6] Vgl. meine Rezension zu der Sammlung von Aufsätzen von Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin: University Press 2009 [Rez] http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/02/20/jose-casanova-europas-angst-vor-der-religion-herausgegeben-von-rolf-schieder/ (20.2.2010).

[7] Zusammenfassend Detlef Pollack; Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main: Campus 2015 = Bonn: bpb 2016.

[8] Hier beziehen sich die Herausgeber auf Webers Mythos von der praktisch-rationalen Lebensfüh­rung, ein schwacher, selbst eingeschränkter Punkt, der der Weber-Interpretation von Wolfgang Schluchter folgt, die Widersprüche Webers aber nicht thematisiert. Vgl. aber S. 559 zu Kapitalismus als Religion.

[9] Das ist das Thema der Leipziger Religionswissenschaft von 2016 an in einer Kolleg-Forschungs­gruppe „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“, die zentrale Themen des hier vorgestellten Diskurses erforscht.

[10] Einleitung S. 25 ist Renans Behauptung der Rückständigkeit des Islam als Beispiel genannt, wie säkulare Positionen definieren, was Religion sei.

[11] Im Zusammenhang Birgit Schäbler: Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islam­debatte 1883. Paderborn: Schöningh 2016. Vgl. Einleitung S. 181-184.

[12] Zu Blumenberg meine Rezension: Wie Weltbilder umstürzen. Und die Gottesbilder mit ihnen: Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – eine intellektuelle Biographie. Berlin: Suhr­kamp 2020. + Hans Blumenberg: Ursprung der mittelalterlichen Ontologie [1947] Berlin: Suhrkamp 2020.  https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/21/hans-blumenberg/ (21. November 2020).

[13] In der (Philosophischen Bibliothek 545) Hamburg: Meiner 2003, ²2017.

[14] S. 175 ist das völlig verzeichnet.

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