Am Anfang war Migration

Wiedemann, Felix: Am Anfang war Migration.
Wanderungsnarrative in den Wissenschaften vom
Alten Orient im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Tübingen: Mohr Siebeck 2020

XII, 575 Seiten.
Fest gebunden 79 €.
ISBN 978-3-16-158884-6

 

Die Welt in Bewegung – Der alte Orient und „Wir“
in historischen Meister-Erzählungen

 

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Migration ist in aller Munde. In seiner Wissenschaftsgeschichte erforscht Felix Wiede­mann, wie seit hundertfünfzig Jahren das Problem der Bedrohung oder der Erneuerung einer Bevölkerung unter europäischen Wissenschaftlern diskutiert wurde, Diversität (multi-kulti) einen Vorteil oder eine Gefahr darstelle. Durch die historische Gegenüberstellung werden manche liebgewordene Meistererzählungen der Gegenwart fraglich.

Ausführlich: Die Welt ist in Bewegung: Hunger, Kriege, Klimawandel, die Suche nach einem besseren und sichereren Wohnort zwingt Menschen zur Flucht oder lässt den Schluss reifen, das Alte aufzugeben und das Risiko auf sich zu nehmen. Die Länder des Wohlstands schotten sich ab oder begrenzen die Zuwanderung. Bereitschaft zur Aufnahme, die Idee des Asyls wird verächtlich gemacht. Heute alltägliches Wissen und in den Nachrichten kom­muniziert, zeigt das vorliegende Buch, dass Migration schon im 19. und im fin de siècle, gleichzeitig dem Kulturschub der Jahrhundertwende um 1900 ein zentrales Thema für die Geschichte „am Anfang“ war oder besser noch in der Erzählung von Geschichte ständig vorkommt: als Bedrohung der Kulturvölker oder als willkommene Dynamik der Kultur­entwicklung. Zeitgenössische Erfahrungen und Erwartungen fließen in die Geschichts­erzählung ein und beides bildet Wissenschaftsgeschichte.[1]

Die Habilitationsschrift des Neuhistorikers Felix Wiedemann[2] beschreibt Migration in der narrativen Konstruktion der Geschichte als Wissenschaftsgeschichte. Kein ausgebildeter Altorientalist schreibt hier eine Fachgeschichte, (eine der wichtigsten Altorientalistinnen hat fachlich beraten, Eva Cancik-Kirschbaum) sondern FW untersucht an der Geschichtsschrei­bung, wie das Thema Migration dargestellt wird, Wanderungsnarrative im Kontext des entstehenden Faches um 1900. Wie viele andere Kulturwissenschaften hat sich das Universi­tätsfach Altorientalistik um 1900 ausdifferenziert und als eigenständiges Fach etabliert. Die Ausgrabungen (in Mesopotamien, Babylon, Ninive, Ur u.a.), die Entzifferung der Keilschrift-Bibliotheken erforderten Spezialkompetenzen, den Aufbau von internationalen Forschungs­netzwerken, Erarbeitung von Grammatiken, Wörterbüchern zur Sprache, Fachzeitschriften zur Diskussion der Funde. Darüber hinaus aber gehörte jetzt der Orient zur Universalge­schichte. Ein Teil der altorientalischen Geschichte lag nahe dem Zentrum der religiösen Identität der Forscher, sie waren mit der Bibel aufgewachsen. In dem großen vielbändigen Werk Die Kultur der Gegenwart, herausgegeben von Paul Hinneberg im Teubner Verlag Berlin und Leipzig enthielt der Band Teil I, Abteilung IV,1 Geschichte der christlichen Religion 1906, ²1909 als ‚Einleitung‘ „Die israelitische-jüdische Religion“ von Julius Wellhausen (S. 1-41).[3] Die alttestamentliche Wissenschaft in den evangelisch-theologischen Fakultäten war seit der ‚Tübinger Schule‘ des Ferdinand Christian Baur gespalten in deren historisch-kritische Met­hode auf der einen Seite, den „Positiven“ anderseits, die die Bücher des Alten Testamentes als christliche Botschaft von der Kanzel predigten und so als ‚wahre‘ geschichtliche Texte lasen und sie so in die Historiographie aufnahmen. Die Einbeziehung der neuen Fakten in die narrative Rekonstruktion der ‚Geschichte‘ des Alten Orients konkurrierten mit der Bibel als Leiterzählung. FW beschreibt zunächst die Bedeutung des Alten Orients in den Wissen­schaften um 1900 (45-92). Wie weit löste sich die Altertumswissenschaft von der Klassischen Epoche (Griechen und Römer) und öffnete sich auch dem Orient?[4] Wann begann Altorienta­listik ein eigenständiges Fach zu werden? Die Ausgrabung des Ištar-Tores, später die Auf­stellung im Berliner Pergamon-Museum und der von Friedrich Delitzsch ausgelöste Bibel-Babel-Streit trugen das Interesse in die Öffentlichkeit.[5] Ein Hinweis auf die Einforderung methodischer Zurückhaltung angesichts der noch zu wenig erforschten sprachlichen Grund­lage wäre nötig, die Benno Landsberger gegen die Popularisierer wie Delitzsch erhob.[6] Dann geht es (Kapitel 3, S. 95-203) um Wanderungsnarrative mit ‚Völkern‘, durch Sprachen als verwandte Völkerfamilien erkennbaren, anthropologisch zu Rassen zusammenzufassenden handelnde Personen der Weltgeschichte: Semiten, Hamiten, Indogermanen und Turanier. Kapitel 4 betrachtet die Räume, die wenige aus eigener Anschauung kannten, und wenn doch, dann einen Ausschnitt und gegenüber den jeweiligen Gegenwarten romantisch verklärt.[7] Typisch die Gegenüberstellung von (vermuteten) Herkunftsräumen zu attraktiven Zielräumen, Israel-Palästina als Durchgangs- und Kampfraum. Urheimat war für die Indo­germanen reserviert (und nicht zu identifizieren; der Iran und die Arier lange als Region), Ursitz für die Anderen. Zielraum für die meist als kulturlose Wüstenbewohner charakteri­sierten Migranten waren die fruchtbaren Kulturregionen Mesopotamíen, Palästina und (selten angesprochen) Ägypten. Der Schwerpunkt in FWs Untersuchung liegt auf der Erzäh­lung „Denn wenn es richtig sein sollte, dass am Anfang Migration war, so hatte sie auch damals schon eine Begleiterin: die Erzählung.“ (461. Was mit ‚damals‘ gemeint ist, bleibt offen). FW unterscheidet drei Erzählformen (285-389): Gründungs- und Eroberungserzäh­lungen, Untergangs- und Erneuerungserzählungen und Mischungserzählungen. Die letz­teren konnten auch positiv erzählt werden, aber in der Regel waren sie eine negative Form, insbesondere galten die Israeliten als eine negative Mischform, die bei den heutigen Juden sich fortsetzte (das hat FW noch einmal im Kapitel 7 Antisemitismus herausgearbeitet).

Angesichts der Fülle des herangezogenen Materials kann man die Wissenschaftsgeschichte als umfassend bezeichnen. Das Literaturverzeichnis umfasst hundert Seiten (463-562; das sind an die 2000 Bücher und Aufsätze). Die Indices verweisen auf Personen, geographische Bezeichnungen und ‚Völker‘/Rassen/Sprachen. FW hat drei Fachgebiete einbezogen und das über die deutsche Wissenschaftskultur hinaus, die im 19. Jh. noch international vernetzt war: Altorientalistik, Alttestamentliche Wissenschaft, (politische) Geographie und die Anthropologie mit Querschnittsthemen wie Rassetheorie und Sozialdarwinismus im Schnittpunkt mit Kolonialismus (393-411), Antisemitismus (413-436) und religiöser Identität (437-450).

Angesichts dessen in der begründeten Abgrenzung umfassenden Monographie noch kritische Einwände anzubringen ist für eine Rezension dennoch geboten. Die Frage, was ist aus den vorgestellten Wanderungsnarrativen geworden, welche Alternativen werden heute diskutiert, ist im Ausblick skizziert. In den USA wurde die Metapher meltingpot propa­giert[8] gleichzeitig und kontrafaktisch mit der Einführung des Zwangs zur englischen Sprache an den Schulen. Hundert Jahre später, im resignierenden Rückblick auf die teils misslungene Integrationspolitik trat an die Stelle die Metapher der saladbowl, zusammenge­worfene Einzelbestandteile mit amerikanischer Soße übergossen. Das berührt das Thema ‚Volk‘, das eine zentrale Rolle im ganzen Buch spielt. Die Theorie der Ethnogenese ist zwar im Kapitel Mischungserzählungen erkennbar, aber nicht entfaltet. In der Ethnologie etwa stellt sich das Problem ganz anders dar. Ein anderes Problem wirft das Thema Juden als ‚Volk‘ auf. Im 19. und 20. Jahrhundert gab es innerhalb der Juden in Deutschland und Frankreich eine intensive Debatte, ob die Juden ein Volk seien oder ob sie eine Variante in der jeweiligen Kultur darstellen wie etwa die Konfessionen des Christentums. Während die französischen Juden sich als Franzosen begriffen, durch die Französische Revolution alle zu citoyens gleichen Rechts geworden – und in der Dreyfus-Affäre böse belehrt wurden –, konstruierte der deutsche Historiker Heinrich Graetz ab 1874 (also unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reiches als Nationalstaat 1871) eine Nationalgeschichte des jüdischen Volkes und damit eine Gründungserzählung des Zionismus. – Eine eigene Frage stellt sich mit den Nomaden. FW beschreibt gut, wie in diesen Volksgeschichten die Nomaden als Sozialform des Übergangs gewertet werden, bevor mit der Sesshaftigkeit eine stabile und irreversible Endform erreicht ist. Das wollen die Staaten gerne (etwa Israel gegen die palästinensischen Nomaden südlich von Hebron), aber die Nomaden etwa in der Sahelzone sind eine Lebens­form, die sich seit Jahrtausenden ambivalent zu ihrer Umwelt verhält.[9] Zu diesem Thema gehört weiter die Transhumanz, der Wechsel von winterlicher zu sommerlicher Weide, die etwa in der Interpretation des Pesach-/Passah-Festes in Israel lange als der landwirtschaft­liche Ursprung des Festes galt.[10] Der im ganzen Buch wichtigste Akteur des 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, ‚das Volk‘ ist aus der Geschichtserzählung fast verschwunden.[11]

FW hat eine hervorragende Wissenschaftsgeschichte zu der aktuellen Problemgeschichte der Migration und Verflechtungsgeschichte geschrieben. Dabei hat er sowohl die jeweilige Zeitgeschichte des ‚Erfahrungsraums und Erwartungshorizonts‘ der Historiker (Reinhart Koselleck) in ihrer jeweiligen Generation einbezogen, als auch die Diversität der Antworten und Konzepte in den Fachgeschichten und nationalen Wissenschaftskulturen umfangreich geprüft und argumentativ einander gegenübergestellt. Von besonderer Bedeutung ist das Fazit über den Zusammenhang von Kolonialismus und Orientalismus in den Wissenschaf­ten. FW macht deutlich, dass die britischen und französischen Kolonialansprüche nicht einfach auf deutsche Wissenschaftler übertragen werden können, vor allem aber, dass die Diskurse älter waren und erst überlagert wurden durch Kolonialismus (393-411, vgl. 454).[12] Von besonderer Bedeutung für Religionswissenschaftler:innen ist das letzte Kapitel (437-450), wo FW zeigt, dass man die Wissenschaftsgeschichte nicht als Säkularisierung und Antithese von Religion und Wissenschaft lesen darf. Ein sehr wichtiges Buch, das zu gegenwärtigen Meistererzählungen Korrektiv bietet.

Bremen/Wellerscheid, November 2021

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] In seiner umfassenden Geschichte der Rezeption der beiden Kapitel der Genesis/1. Buch Moses 10 und 11, die Namen von Völkern in der ‚Völkertafel‘ und die zentripetale Trennung der Völker und Sprachen im Turmbau zu Babel, hat der Mediävist Arno Borst: Der Turmbau zu Babel: Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker in vier Bänden (Stuttgart: Hiersemann 1957-1963) staunenswert zusammengetragen, was in Mittelalter und Früher Neuzeit dazu geschrieben wurde.

[2] Felix Wiedemann ist habilitierter Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, seine Hompage Priv.-Doz. Dr. Felix Wiedemann • Friedrich-Meinecke-Institut • Fachbereich Geschichts- und Kulturwissesnschaften (fu-berlin.de) (18.2.2021) belegt die zahlreichen Publikationen vorwiegend zur Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zum Thema hat mit heraus­gegeben den Sammelband Felix Wiedemann, Kerstin P. Hofmann, Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.): Vom Wandern der Völker. ̝̙̗(Berlin Studies of the Ancient World 41) Berlin: Topoi 2017. Im Folgenden kürze ich den Namen mit den Initialen FW ab.

[3] Wellhausen veränderte das Paradigma der Forschung zum Alten Testament, indem er entgegen der Reihenfolge des Kanons erst die Propheten, dann das Gesetz Moses erkannte. Die Wüstenwanderung und die Übergabe der zehn Gebote am Sinai als historische Ereignisse wurden fragwürdig. S. Rudolf Smend: Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2004. [Die drei Disziplinen: Hebräische Bibel, Neues Testament, Arabistik/Islamwissen­schaft]. Wiedemann 82f, 361-363.

[4] Gerade abgeschlossen habe ich ein Kapitel “Religious contacts between the Ancient Orient and Graeco-Roman Antiquity” für den Band Studying Religion through Religious Contacts: Conceptual Framework, Typological Sketches, and Bibliography (Working Title). Edited by Volkhard Krech, Kianoosh Rezania, and Tim Karis. Wiedemanns Buch war dafür eine hervorragende Referenz.

[5] Drei Vorträge 1902. 1903. 1904 (zunächst) mit Beifall von Kaiser Wilhelm aufgenommen. 1920 schrieb Delitzsch dann noch das Pamphlet Die große Täuschung. – Das Tor und die Prozessionsstraße waren nach der Ausgrabung 1899-1902 nach Berlin transportiert worden, konnte aber erst 1930 ausgestellt werden.

[6] B.L.: Die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt, in: Islamica 2 (1926) 355-372; Nachdruck mit Nachwort, Darmstadt (1965). Dazu Walther Sallaberger: Benno Landsbergers „Eigenbegrifflichkeit“ in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. In: Das geistige Erfassen der Welt im Alten Orient. Beiträge zu Sprache, Religion, Kultur und Gesellschaft. Nach Vorarbeiten von Joost Hazenbos und Annette Zgoll herausgegeben von Claus Wilcke. Wiesbaden: Harrassowitz 2007, 63-82.

[7] FW 358 mit Anm. 329 zu zionistischen Gegenerzählungen. In diesem Zusammenhang interessant der Vater von Talal Asad, der als Berichterstatter von Berlin aus nach Palästina zog und dort vom agnos­tischen Judentum zum Islam konvertierte, später Pakistan in der UN vertrat. ‚Kampf der Kulturen’ und der ‚Geist’ des Islam: Der abenteuerliche Weg eines Gründervaters. Muhammad Asad: Der Weg nach Mekka.  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2010/09/19/der-weg-nach-mekka-von-muhammad-asad/ (19.9.2010).

[8] Gut FW 368 mit A. 381 im ausgezeichneten Kapitel 5.5 Mischungserzählungen 366-388.

[9] Einerseits fressen die Tiere wertvolle Lebensmittel in Form von Pflanzen, andererseits ist die ‚Vor­ratshaltung auf vier Beinen‘ nachhaltiger gegenüber Missernten in einem Jahr und sie ermöglichen den Nomaden die Flucht vor kriegerischen Überfällen. Die Unterschiede zwischen der südlichen (waldlosen) und der nördlichen (bewaldeten) Mittelmeerwelt arbeitet hervorragend heraus Cyprian Broodbank: Die Geburt des Mediterranen Welt. Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter. München: Beck 2018. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/07/18/die-geburt-der-mediterranen-welt/ (18.7.2019) mit meiner Rezension.

[10] Die Etymologie von päsach wurde als ‚Übergang‘ פסח (Gesenius18 1065) gedeutet, das geschlachtete Lamm und der Exodus als nomadischer Rest. So noch Victor Maag (1910-2002) in V.M., Heinrich Otten, Thomas Beran, Hartmut Schmökel: Kulturgeschichte des Alten Orient: Mesopotamien, Hethiterreich, Syrien-Palästina, Urartu. Stuttgart: Kröner 1961.

[11] Aus der Wanderungserzählung am Ende des Römischen Reiches ist die Infiltrationserzählung ge­worden schon längst romanisierter Migranten. Umfassend auch zu Wissenschaftsgeschichte Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert. München: Beck 2019.

[12] Vgl. Christoph Auffarth: „Weltreligion“ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialis­mus. in: Ulrich van der Heyden; Holger Stoecker (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945. (Missionsgeschichtliches Archiv 10) Stuttgart: Steiner 2005, 17-36.

 

 

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