Religionsgeschichte Anatoliens

Manfred Hutter: Religionsgeschichte Anatoliens.
Vom Ende des dritten bis zum Beginn des ersten Jahrtausends

(Die Religionen der Menschheit 10,1)

Stuttgart: Kohlhammer 2021.
356 Seiten.

ISBN 978-3-17-026974-3

109 €

 

 

Götter, Könige, Familien:
die Religion des alten Anatoliens aus Keilschrift rekonstruiert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: In strenger Begrenzung auf die Textzeugnisse rekonstruiert der Religionswissenschaft­ler Manfred Hutter die Religionsgeschichte Anatoliens in ihrer Pluralität über die hethitische Großreichszeit hinausgehend, etwa Mitte des dritten Jahrtausends bis zum 6. Jh. v.Chr.

Ausführlich: Anatolien ist durch spektakuläre Ausgrabungen bekannt geworden. Der Fundort Çatal Höyük gilt nicht nur als älteste Stadt überhaupt, sondern dort fand man auch einen großen Tempel, den bislang überhaupt ersten Tempel.[1] Die Blütezeit wird etwa 7000 v.Chr. datiert. Die zweite große Ausgrabung begann schon 1906 und brachte das umfang­reiche Archiv aus Tontafeln zutage, die Keilschrift entzifferte Bedřich Hrozný 1914/15 als eine indoeuropäische Sprache. Seit 1932 und wieder seit 1952 wird dort regelmäßig ausge­graben: die Hauptstadt der Hethiter, Ḫattuša/ Boğazköy.[2] Wie nahezu alle Großreiche der Mittelmeerwelt zerfiel das Hethiterreich um oder kurz nach 1200 v.Chr. MH geht aber darüber hinaus und bezieht anatolische Orte und Sprachen auch der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends mit ein. Das Ende der politischen Macht bedeutet nicht das „Ende‘ der Religion. Die neolithische Kultur bleibt außerhalb des Rahmens.

In der Reihe der „Religionen der Menschheit“ erschien schon 1970 der Band 10,2 Die Religio­nen Altsyriens, Altarabiens und der Mandäer, verfasst von Hartmut Gese; Maria Höfner; Kurt Rudolph.[3] Dank der Tatkraft als Mit-Herausgeber der Reihe und als Autor erscheint jetzt der Band 10,1 zu Anatolien von Manfred Hutter.[4] Zu dem Material hat er schon viele Vorarbei­ten geleistet (die von der unerhörten Breite des sprachlichen und religionsgeschichtlichen Spektrums des Forschers zeugen). Er gliedert den Band in drei große Teile. Auf A. Einleitung und Forschungsstand folgen B. Frühe religiöse Vorstellungen Anatoliens (32-54) – C. Religi­on in der althethitischen Zeit 55-119 – D Religiöser Wandel zwischen althethitischer Zeit und dem hethitischen Großreich 120-177 – E Zum Weiterwirken religiöser Traditionen in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends 290-319. In einem Anhang G bietet MH eine Liste hethitischer Könige, zwei Karten. Die umfangreiche Bibliographie von 22 Seiten enthält etwa 550 Einträge, darunter 35 von MH. Ein ausführliches Register verweist auf die behandelten Texte, Personen, Orte, Sachen.

In der A. Einleitung (9-31) erläutert MH den Forschungsgegenstand in der Schwierigkeit, eine Religion und ihre Geschichte zu rekonstruieren, „ein „Kapitel ‚toter‘ Religionsgeschichte“. Auch wenn die Religionsgeschichte Anatoliens von Anfang an in kulturellem Austausch mit den Religionsvorstellungen in Syrien und Mesopotamiens einerseits, der ägäischen Welt andererseits steht, warnt MH doch vor einer Ergänzung von nur namentlich gleich klingenden Göttern durch die andernorts genauer bekannten Gottesbilder oder Mythen im Sinn der ‚altorientalischen bzw. ägäischen Koine‘.[5] Die Westküste Anatoliens mit den bronzezeit­lichen, also dem hethitischen Großreich zeitgenössischen Palastkulturen von Troia und Milet bleibt außen vor.[6] Die andere Konzeption erschließt die hethitische Religion nicht als Staats­religion oder dynastische Familientradition, sondern stellt daneben die Haus- und Familien­religion. Sicher stammen die überlieferten Texte aus dem königlichen Palast-Archiv, aber sie enthalten nicht nur Rituale der Staatsakte (etwa 249 ‚Unterhaltung‘ für das Volk). Und in geringerem Maße können auch Funde in Wohnhäusern Einblicke in Haus- bzw. Familien­religion geben. Dafür hat MH einen Abschnitt eingefügt, was man unter diesen Umständen unter ‚Religion‘ verstehen kann und ob es ein eigensprachliches Konzept dafür gibt (24-28). Er votiert für eine Beschreibung in Dimensionen.[7] – Die Religionsgeschichte konstruiert MH also ganz wesentlich aus dem sprachlichen Material. Die in den Palastarchiven beschriebene Herrscher- und Kriegsgeschichte bildet das chronologische Rückgrat der Religionsge­schichte. Archäologische Befunde werden nur beschrieben; das Buch enthält keine Bilder oder Grundrisse.[8] MH setzt etwa 2500 v.Chr. ein mit Alaca Höyük, einem Gräberrund und einer Stadt Kaneš, in der ab etwa 1800 nebeneinander die anatolischen Bürger und assyrische Händler lebten. Weit besser überliefert sind die Religion (Rituale, Kalender, Götterwelt) zunächst der C. althethitischen, dem Wandel D. in der Übergangszeit („Pluralisierung der religiösen Traditionen“ 123-175) und vor allem E der Großreichszeit. Reinheit und Reini­gung, Krisenrituale, Mahlzeiten, Gebete, Divinationspraktiken, Trankopfer und Opfer von Broten und Tieren am Tempel, Berg- und Quellheiligtümern, Feste im Jahres-Kalender und Lebenszyklus (281-289). Polytheismus als System und seine symbolischen Handlungen sind schon weit ausdifferenziert.[9] In der Götterwelt spielen Wettergott und Sonnengott eine herausragende Rolle. Aber Religion begrenzt sich nicht auf Rituale, sondern begründet auch ethische Werte und Verhaltensweisen (255-259), zu denen man sich etwa durch gegenseiti­gen Eid verpflichtet.

MH begrenzt sich weitgehend auf die Textzeugnisse der anatolischen Sprachen, Bezüge nach außen bleiben streng bei dem dort Belegten. Das ist methodisch zu vertreten, aber schließt auch Fragen der Entwicklung der Kultur aus. Etwa zu Schreibsystemen, Schreibern und die Demokratisierung durch die Alphabetschrift.[10] Hubert Cancik hat das Konzept ‚Geschichte‘ bei den Hethitern gefunden und einmal auf die Frage ‚War da was vor den Griechen?‘ keck geantwortet: ‚die Hethiter‘.[11] Von der anderen Perspektive her gesehen, habe ich nach den altorientalischen Wurzeln der frühen griechischen Religion gefragt und Elemente der Königsideologie identifiziert, die freilich nicht monarchisch in den Palastzentren der Strom­kulturen (Nil, Mespotamien) durchgesetzt wurde, sondern für die Gartenkulturen des medi­terranen Klimas in einer ‚regulierten Anarchie‘ eine neue Bedeutung gewannen.[12] Dabei sind die Hethiter eine Bezugskultur,[13] die sich etwa in der frühgriechischen Theogonie Hesiods widerspiegeln.[14] Doch das soll noch einmal hervorheben, was diese Religionsgeschichte Anatoliens leistet: Ein ganz aus den Quellen gearbeitetes Werk eines in vielen Kulturen erfahrenen Religionswissenschaftlers, der die Eigensprachlichkeit der verschiedenen Sprachen (in präziser Umschrift und Übersetzungen) und Kulturen Anatoliens wie des Alten Orients nicht übertüncht. Dabei sind metasprachliche Begriffe der Religionswissenschaft die strukturierende Fähigkeit, nicht im Antiquarischen stecken zu bleiben.

 

Bremen/Wellerscheid, Januar 2022                                                           Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Im Rahmen einer Entwicklung der Mediterranen Welt von den geologischen Formationen bis etwa 500 v.Chr. hat Cyprian Broodbank: Die Geburt der mediterranen Welt. München: Beck 2019, 221-223, 238f Çatal Höyük eingeordnet. Seit 1958 grub James Mellaart dort aus, ab 1993 nahm nach langer Unterbre­chung Ian Hodder die Untersuchungen wieder auf bis zur Gegenwart. Meine Rezension zu Brood­bank https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/07/18/die-geburt-der-mediterranen-welt/ (18.7.2019).

[2] Der jetzige Ausgräber Andreas Schachner: Hattuscha. Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter. München: Beck 2011. Umfangreich und sehr gut dokumentiert der Wikipedia-Artikel (gelesen 2.12.2021).

[3] Geses Vorstellung des Materials aus Ugarit befruchtete die Alttestamentliche Wissenschaft enorm.

[4] Manfred Hutter ist seit 2000 Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bonn. Er promo­vierte über die Religionen der Alten Orients 1984 zum Dr. theol. Er habilitierte sich mit einem Thema zum Manichäismus. Im Jahr darauf promovierte er ein zweites Mal zum Dr. phil., jetzt in der Indo­germanistik. Die vielen Sprachen, die man für diese Forschungen benötigt, galten zunächst dem Alten Orient, weiteten sich aber schon bald auch zu Religionen in der modernen Welt, zu den Baha’i, dann zum Buddhismus. Den Namen kürze ich im Folgenden ab mit den Initialen MH.

[5] Die Kritik an Haas (wie Anm. 8) und 35 A. 14.

[6] Die Ausgrabungen in Troia und Milet, mit den archäologischen Forschungen besonders von Manfred Korfmann und Wolf-Dietrich Niemeier kommen nicht vor; das in den hethitischen Texten vorkommende Reich Ahijawa im Westen (das mit griech. Ἀχαῖοι Achäer als Sammelbezeichnung der Griechen erklärt wird) wird nur erwähnt. Seine Skepsis, Troia mit einzubeziehen, begründet MH 139 mit Anm. 66. Zu Milet [V]. Bronzezeit gut der Wikipedia-Artikel.

[7] Definitionen, sowohl substanzialistischer wie funktionalistischer Art, sind immer reduktionistisch; dagegen eröffnen Dimensionen die Breite der Perspektiven, siehe Christoph Auffarth; Hubert Mohr: Religion. in: CA, Jutta Bernard, HM (Hrsg.): Metzler Lexikon Religion. Band 3 (2000), 160-172.

[8] Volkert Haas hat ein gewaltiges Handbuch 1994 erstellt, das aber methodisch in der Beschreibung stecken bleibe, so MH 20f, nicht zu religionswissenschaftlich relevanten Fragestellungen vorstoße, „warum die Hethiter diesen oder jenen Kult ausgeübt haben“. Die Ausgrabungen von Boğazköy mit hervorragender Illustration bei Schachner 2011.

[9] Christoph Auffarth: Religion and Classical Europe (12th century BC – 600 AD). In: The Oxford Handbook of Religion and Europe. Ed. Grace Davie, Lucian Leustean. Oxford: OUP 2022, 19-37.

[10] Dazu etwa Eva Cancik-Kirschbaum; Jochem Kahl: Erste Philologien. Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 40.

[11] Hubert Cancik: Mythische und historische Wahrheit: Interpretationen zu Texten d. hethitischen, biblischen u. griech. Historiographie. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 1970. HC: Grundzüge der hethitischen und alttestamentlichen Geschichtsschreibung. Wiesbaden: Harrassowitz 1976.

[12] Christoph Auffarth: Der drohende Untergang. ”Schöpfung” in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezchielbuches. (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten RGVV 39) Berlin; New York 1991. Nachdruck 2013.

[13] Die Hethitischen Texte wie der Kumarbi-Zyklus (Übersetzung: Weisheitstexte, Mythen und Epen. [Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, nf 8, hrsg. von Bernd Janowski und Daniel Schwemer] Gütersloh GVH 2015, 145-176).

[14] Vor allem Hesiod, Theogonie 154-210 (Übersetzung von Luise und Klaus Hallof, Berlin 1994). Martin West: Hesiod, Theogony. Oxford: Clarendon 1966. Martin West: The East Face of Helicon. Oxford: Clarendon 1997.

 

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