Reichersberg scutum canonicorum

Arno von Reichersberg: Scutum canonicorum.

Edition, Übersetzung, Kommentar.
Herausgegeben von Julia Becker.
(Klöster als Innovationslabore 11)

Regensburg: Schnell + Steiner 2022.
256 Seiten, ISBN 978-3-7954-3733-6.
66 €.

 

Leben wie die Jünger, aber nicht als Mönche.
Eine Streitschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der Traktat des Arno von Reichersberg, in einer mustergültigen Edition und Über­setzung, mischt sich ein in den Streit über das ‘Leben wie die Apostel’ im 12. Jahrhundert.

Ausführlich: Arno von Reichersberg wurde 1100/1110 als einer von fünf Brüdern geboren, trat in das Reformstift Rottenbuch zusammen mit seinem älteren Bruder, des bedeutenderen Gerhoch (1092/93 – 1169), ein, folgt ihm nach Reichersberg, wohin Gerhoch als Propst berufen worden war, und nimmt schließlich dessen Nachfolge an. In dieser Funktion starb Arno 1175.[1] Das Stift war 1080/1084 gegründet worden und zählte sich eher zu der Reform­bewegung, die der Salzburger Erzbischof förderte. Die Mitglieder des Stiftes verstanden sich als Regularkanoniker, einem neuen Typ von Geistlichen, dem viel Misstrauen und Kritik entgegenschlug. Das Scutum (“der Schild”) Canonicorum , um 1146 geschrieben, wehrt sich gegen diese Kritik und fordert Gleichberechtigung mit den Mönchen. Denn, so führt Arno aus, “besetzten Mönche die Stiftshäuser und brächten die dort lebenden Kanoniker, obwohl sie schon die lebenslange Profess abgelegt haben, dazu, gleichsam unter dem Vorwand größerer Frömmigkeit zu sich zu locken.”[2] Was JB mit Frömmigkeit übersetzt, heißt im lateinischen Text religio, was im Mittelalter nicht ‘Religion’ im Sinne einer sozialen Hand­lungspraxis bedeutet, sondern die Lebensform, die sich ausschließlich dem Gebet für das ewige Heil widmet, in Arbeitsteilung mit den Laien, die Lebensmittel und Nachwuchs erarbeiten oder die Mönche und Nonnen mit Waffen schützten (manchmal auch bedrohten). Dazu ist der breitere Kontext zu erklären (was die Herausgeberin dieses erstmals kritisch edierten Textes nicht tut – dafür anderes, Hervorragendes), weil sie auf das umfassende Buch des Projektleiters Stefan Weinfurter verweisen kann.[3] Dies ist also bei den LeserInnen gewissermaßen vorausgesetzt. Im 12. Jahrhundert, wohl auch durch eine kleine Warmzeit des Klimas beflügelt, entwickelte sich das lateinische Mittelalter ganz außergewöhnlich. Überall wurden Wälder gerodet für neue Siedlungen und Städte gegründet, auch auf den Hängen der Berge und bisher unbesiedelten Gebieten (“Landesausbau”). Neben einem selbstbewusst werdenden Bürgertum (“Laien”) entstanden religiöse Bewegungen, die sich weigerten, sich durch die klassischen Regeln der Mönchsorden einsperren zu lassen, sondern sich auf den Grundsatz beriefen, “wie die Jünger Jesu zu leben” (vita apostolica). Dabei entstanden viele Experimente.[4] Auch der Aufruf des Papstes Urban II. zum Kreuzzug 1095 enthält diese Aufforderung an seine Jünger: “Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!”[5]  Das richtete sich an Krieger, die nun Milites Christi (Krieger Gottes) im Orient werden sollten, statt andere Christen in Frankreich zu töten. Milites Christi war bis dahin ein Name für die Mönche und Nonnen. Klar, dass diese neuen Entwicklungen und Experimente Kritik hervorrief, nicht zuletzt bei den traditionellen Mönchsorden. Die neue Form der Regular­kanoniker versuchte einen Kompromiss und suchte immer wieder Bestätigung durch das römische Papsttum.[6] Papst Urban bestätigte 1092 in einem Privileg, dass Regulierte Kanoniker und Mönche gleichwertig seien mit Verweis auf die moderate Regel Augustins.[7] Der Bischof Eberhard von Bamberg jedoch unterstellt seine Eigenklöster dem Orden der Zisterzienser bzw. der Prämonstratenser, worauf die Kanoniker die Klöster Richtung Reichersberg verließen. Das war der konkrete Anlass für diese Schrift, den Schutzschild. Die Mönche murrten und zerrten das Leben der Kanoniker herunter. Da gebe es Kanoniker, die ein eigenes Haus besaßen, also sich nicht in das Gemeinschaftsleben einfügten,[8] die nicht rechtzeitig da waren, um die Messe zu lesen. Also musste die Regel in konkrete Tages- und Lebensabläufe ‘reguliert’ werden, in consuetudines.[9]

Genau das tut Arno im zweiten Teil seiner (gut sechzig Seiten umfassenden) Schrift, während er im ersten Teil die Gleichwertigkeit der beiden Lebensstile erklärt und verteidigt. Übrigens auch die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern mit dem Verweis auf die Freundinnen und Freunde unterm Kreuz (wobei die Jünger bis auf Johannes aus Angst nicht sich zur Solidarität einfanden). In klassischer Manier beruft er sich auf zwei Bibelstellen, die mit der zweiten auch die weiblichen Kanonissen einbezieht. Um die Gleichwertigkeit aus der Bibel zu belegen, bezieht er sich auf den ‘Wettlauf’ der Jünger zum leeren Grab Jesu:[10] Während Johannes schneller ankommt, aber verstört vor dem Grab stehen bleibt, kommt schnaufend Petrus hinterher. Der geht sofort ins Grab, sieht die leeren Hüllen und erkennt das Wunder der Auferstehung. Daraus zieht Arno den Schluss, dass die beiden Lebensformen zwar unterschiedlich sind, aber zum gleichen Ziel kommen. Der eine ist eher kontemplativ (quietis ac theorię assuetior) – das sind die Mönche –, der andere (Petrus) ist eher zum Dienst am Wort bereit (alius ministerio verbi paratior 216,2f) – das sind die Kanoniker. Der Jüngere ist am Ende abhängig vom Älteren, weil der früher die sacramenta erkannte (seniori agnoscendorum sacramentorum prioratum dependit 216,6). JB übersetzt richtig sacramenta mit ‘Geheimnisse’, dabei geht die mitzuhörende Bedeutung Sakramente notwen­digerweise verloren.[11] Für die Kanoniker spielt der Gottesdienst für und mit den Laien mit der Austeilung der Sakramente eine zentrale Rolle, während die Mönche erstens nicht alle auch Priester sind und zweitens nur begrenzt für die Seelsorge zugelassen sind. Ähnlich legt Arno die Geschichte des Besuchs Christi bei Maria und Martha aus. Hätten die Mönche recht, dann müsste man scheinbar die Ruhe der zuhörenden Maria sogar für wertvoller als das Amt des predigenden Christus. Das wäre absurd.[12]

Das Besondere dieser Edition aber liegt darin, dass die Herausgeberin die Leserinnen und Leser Einblick nehmen lässt in den Prozess von der Handschrift, den eigenhändigen[13] Korrekturen und Erweiterungen, den Abschriften, der Kurzfassung, alles mit farbigen Fotos gezeigt und in Listen übersichtlich erfasst, bis zur Edition, die die Unterschiede in einem Apparat dokumentiert. Ein zweiter Apparat weist die Bibelstellen und andere Autoritäten nach, auf die sich der Autor beruft. So wird das mühselige Handwerk einer Edition sehr anschaulich.

Und einmal mehr kann man nur die Qualität der Verlagsarbeit loben. Ein Textbuch muss man flach auf den Tisch legen können; Fadenheftung ist nach wie vor die bei weitem beste Lösung, die hier auch angewendet wird, übersichtliches Layout mit farbigen Abbildungen, fester Einband, Vorsätze aus Büttenpapier: Qualität! So kommt die immense Arbeit der Herausgeberin zur Geltung. Sie hat ein interessantes Stück aus dem enormen Aufstieg der Regularkanoniker und der Kontroverse um diese Lebensform der vita apostolica mit einer Übersetzung leicht zugänglich gemacht, erschlossen, knapp kommentiert. Der Anlass ist klar bestimmt, der Kontext etwas mehr vorausgesetzt, den man als Leser mitbringen soll aus Weinfurters Forschungen.

 

Bremen/Much, September 2022                                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Zu Gerhoch und den Hintergründen des ‘Investiturstreits’ weiteres in meiner Rezension zu Gerhoch von Reichersberg: Opusculum de aedificio Dei. Edition, Übersetzung, Kommentar Julia Becker. Regensburg: Schnell und Steiner 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/12/07/gerhoch-von-reichersberg/ (7.12.2020). Dort auch Anm. 1 der Hinweis auf Peter Classen, der seine Habilitation zu Gerhoch 1960 schrieb und weitere Aufsätze, die in diesem Buch immer wieder zitiert werden. – Zum Projekt insgesamt Klöster im Hochmittelalter | Heidelberger Forum Edition (heidelberger-forum-edition.de) (3.9.2022, etwas veraltet)

[2] Scutum, ed. Becker (2022), 110f. …Monachis videlicet  quibusdam loca nostra occupantibus et fratres nostros professos quasi obtentu maioris religionis sibi allicientibus. Das Partizip Perfekt Passiv ist eher adversativ.

[3] Stefan Weinfurter 1945-2018 war in Heidelberg Professor für mittelalterliche Geschichte und hat das Forschungsprojekt der Klöster als Innovationslabore begründet und geleitet. Seine Kölner Dissertation hatte die Regularkanoniker zum Thema: Salzburger Bistumsreform und Bischofspolitik im 12. Jahrhundert. Der Erzbischof Konrad I. von Salzburg (1106–1147) und die Regularkanoniker. Köln: Böhlau 1975.

[4] Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und religiöse Bewegungen. München: Beck 2005, ³2016.

[5] So erinnerte sich an die Predigt Der Anonymus Gesta Francorum 1,2f. Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana 1,3,7.

[6] Rudolf Schieffer: LexMA 7(1995), 608: “nach Hunderten zählende Welle von Stiftsgründungen”.

[7] Davon gibt es zwei, das praeceptum und der ordo monasterii.

[8] Das Leben in der Gemeinschaft vita communis wird in der Apostelgeschichte 4,32 idyllisch beschrieben. – Dieser Grundsatz ist die eher noch wichtigere Wurzel des Mönchtums als die Askese. Dazu Otto Gerhard Oexle: Koinos Bios. Die Entstehung des Mönchtums. In: OGO: Die Wirklichkeit und das Wissen. […] Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, 470-495. Vgl. Klaus Schreiner: Gemeinsam Leben. [… Gesammelte Aufsätze] Berlin: LIT 2013; zu Arno 21-23.

[9] Consuetudines (regelmäßige ‘Gewohnheiten’), die die Regel in konkrete Praxis des Alltags aus­buchstabieren, sind viele erhalten (die Reihe: Corpus consuetudinum monasticarum. Ed. Pius Engelbert; Kassius Hallinger. Siegburg: Schmitt, 1963- bislang 15 Bände, zuletzt die von Hirsau (2010). Leicht zugänglich (zweisprachig in den Fontes Christiani) ist die Lebensordnung des Regular-Kanonikerstiftes Klosterrath. Text erstellt von Stefan Weinfurter. Übersetzt und eingeleitet von Helmut Deutz. Freiburg: Herder 1993.

[10] Johannes 10,4-8. JB, Scutum 2022,  S. 51f. Text S. 214.

[11] Zu den Begriffen Christoph Auffarth: Mysterien (Mysterienkulte). In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 25 (2013), 422-471, hier 436-453.

[12] Sic vero et Marie audientis quies Christi predicantis officio dignior habenda videretur. Hinc vero plurimum interest inter Marthę et Christi ministerium …(218,23-220,2). Sic (genauso absurd wie der Satz zu vor. JB übersetzt absurditas mit ‘Unvernunft’. Hinc ist nicht aus dem Satz davor abzuleiten “daher”, sondern schließt mit “demgegenüber” an: Die vita activa Christi ist nicht zu vergleichen mit der vita activa der Martha. Beckers Übersetzung trifft aber in der Regel gut den Sinn und bleibt gleichzeitig nah am Wortlaut.

[13] Die sog. Autographen, also Handschriften, die der Autor selbst geschrieben hat, sind sehr selten. Meist muss man in einem Stemma (Stammbaum der Verwandtschaften) versuchen, die Handschrift zu ermitteln, die dem Original am nächsten kommt, oder aus verschiedenen Überlieferungswegen die Spaltung zu rekonstruieren.

 

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