Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum NT, Band 3:
Lukas-Sondergut, Matthäus-Sondergut, Prozess Jesu.
Herausgegeben von: Folker Siegert in Verbindung mit Martin Pennitz, Susanne Benöhr-Laqueur
und weiteren Fachgelehrten.
Berlin: De Gruyter 2024. XI, 974 Seiten.
Veröffentlicht: 14. August 2024.
ISBN: 9783110656107.
184,95 €.
Recht als historische Verankerung der Texte des Neuen Testaments
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Band 3 (von sieben geplanten Bänden) behandelt aus rechtsgeschichtlicher Perspektive das ‚Sondergut‘, also die Texte aus den synoptischen Evangelien, die nicht bei den Vorlagen Logienquelle und Markusevangelium (Band 2 in Vorbereitung) enthalten sind. Wieder werden wichtige Einsichten vorgelegt, ob der entsprechende Abschnitt in die Sphäre der Tora, hellenistischer Rechte, des (provinzial-) römischen Rechtes zuzuordnen ist und entsprechend erklärt werden kann.
Ausführlich:
Sondergut bei Lukas und Matthäus
Nachdem der umfangreiche Einführungsband die Einleitungsfragen vor anderthalb Jahren gründlich vorgestellt hat,[1] erscheint nun als nächster der dritte, nicht weniger umfangreiche Band zum ‚Sondergut‘ des Lukas und des Matthäus. Das heißt, der zweite Band, der die Logienquelle und den Grundbestand der synoptischen Evangelien im Markus-Evangelium behandelt, ist noch nicht erschienen. Der Kommentar als Ganzes soll am Ende sieben Bände umfassen. In Band 1 ist die Aufteilung der rechtsgeschichtlich zu erklärenden Perikopen auf die Bände vorgestellt.[2] Erfreulich, dass ein zweiter Band so zügig erschienen ist, viele Vorarbeiten also schon vorliegen![3]
Der jetzt gedruckte Band 3 enthält Kommentare zu 27 Perikopen des Lukasevangeliums und 31 aus dem Matthäusevangelium, für die es keine Vorlagen weder in der Logienquelle noch im Markus-Evangelium (die werden in Band 2 kommentiert) gibt, das sog. Sondergut.
Lukas und sein Evangelium
Der Band erklärt zunächst konzis die Besonderheiten des Lukas-Evangeliums (1-8). Lukas als Autor stellt sich selbst vor als Verfasser des Doppelwerkes des Evangeliums und der Apostelgeschichte. Die Apostelgeschichte mit dem doppelt erzählten Bindeglied der Himmelfahrt Jesu versteht sich als Fortsetzung des Aufbaus des Reiches Gottes, das nun durch die Jünger Jesu (Apostel) ausgebaut wird, bis es im Schutzgebäude des „Römischen Friedens“ (Pax Romana) schließlich das Zentrum des Imperiums, Rom erreicht. Prozess und Hinrichtung Jesu seien nicht das Ende. Lukas stellt sich als Autor selber vor. Er ist Grieche, seine Sprache ein ausgefeiltes literarisches Griechisch, er kennt sich aus in der Ägäis und stammt wohl aus Makedonien bzw. der Troas. Römische Begriffe und Amtsbezeichnungen wendet er korrekt an. Gleichzeitig hat er sich vertraut gemacht mit der biblischen Geschichte in der sprachlichen Form der Septuaginta. Die jüdische Geschichte hat er studiert, „z.T. wohl schon aus Josephuslektüre“ (5). „Lukas gibt sich in den Wir-Passagen als Begleiter des Apostel Paulus (was vielleicht nur ein Wunsch ist und eine nachträgliche Sympathiekundgebung).“ (4)
Immer anstößig war # 106 das Gleichnis vom „raffinierten Verwalter“ Lukas 16,1-8 (236-268), dessen Anstößigkeit (9 Macht Euch Freunde mit dem Mammon des Unrechts!) in den folgenden Versen 8-12 „förmlich gelöscht“ werden. Ist das Lob für den Verwalter ernst gemeint? Die Interpretation hängt davon ab, ob man eher mosaisch-jüdisches oder provinzial-römisches Recht zugrunde legt. Gilt hier das jüdische Zinsverbot (dazu # 110, S. 316-345) und vielleicht das Sabbatjahr oder ist Zinsnehmen nach römischem Recht erlaubt, etwa dass als Rückzahlung 100% vereinbart werden, aber nur 96% ausgezahlt wurden (247)? Jesus als Sohn eines Handwerkers im römisch besetzten Galiläa kann solche Geschäftspraktiken gekannt haben. Siegert macht darauf aufmerksam, dass das Prinzip der ‚Biblischen Theologie‘ hier nicht greift, „die das Neue Testament nur aus dem Alten erklären möchte“ (261). Das Gleichnis eines Managers mit Prokura, der sich angesichts seiner drohenden Entlassung durch den orientalischen Despoten Kapital verschafft, indem er Freunden Vorteile verbrieft, funktioniert nach römischem Recht. Das ist die Bildhälfte des Gleichnisses. In Lukas‘ theologischer Deutung wird daraus: „Gott ist derjenige, der vermittelt durch seinen Haushalter, Christus, Menschen ihre Schuld (hier ist an vielerlei Situationen zu denken) erlässt – nicht aus Großzügigkeit, sondern sogar in einer höheren, nämlich uneigennützigen Art von Klugheit.“ (261).[4] Spannend die kapitalismuskritische, aber nicht kaptalismusfeindliche Auslegung des „Wucherns mit den Pfunden“, dem Gleichnis mit den anvertrauten Talenten und dem Verbot/Erlaubnis des Zins-Nehmens: Lk 19, 11-27 # 110 (S. 316-345). # 114 enthält eine interessante Bemerkung zur Frage von Jesu Gewaltlosigkeit angesichts von Lk 22, 35-38 „… der verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert!“ (S. 404). # 95 (S. 89-102) enthält wichtige Beobachtungen zu Synagogen in der Diaspora und in Judäa.
Reform der Halacha (Lebensführung): Das Neue am Matthäusevangelium
„Während das Lukasevangelium starkes Interesse an Politik, Wirtschaft und Recht erkennen lässt, wie sich v.a. am Vokabular des Sondergutes erwies, ist das Matthäusevangelium der Klassiker für christliche Ethik […], eine spezifisch christliche Halacha.“ Für Siegert – im Anschluss an Eric Ottenheijm und Martin Varenhorst – reagiert eine Gruppe von Judenchristen (nicht ein Autor Matthäus) auf die rabbinische Reform, die ein Judentum ohne Tempel entwickelt. An einer Stelle nennt das Mt.Ev. seine Alternative ekklesia ἐκκλησία Mt 16, 17f kommentiert in # 136, S. 668-690), dort als weltweite Kirche (katholiké καθολική nicht wie sonst die lokale Gemeinde). Mt 18,18, wo Jesus alle Jünger, nicht nur Petrus, beauftragt mit der Leitung der Kirche. Damit ist „noch keine Weltkirche gemeint, sondern eine Erneuerung Israels im Mutterland wie in der Diaspora“ (672). Ekklesia ist die Vollversammlung des ‚ganzen Israel‘, nicht die falsche Etymologie der ‚Herausgerufenen‘. Dazu kommt der Stiftungsbegriff, bzw. das Fundament („Auf diesen Felsen [Petra – Petrus, dazu S. 674; 682f] werde ich meine Kirche bauen.“). Die Kirche in Rom hat erst im 4. Jh. den Anspruch erhoben, als Kirche des Petrus die ganze Kirche zu leiten: „Das Gewicht, das Mt 16,18f heute zukommt, hat es erst seit dem 4. Jh.“ (678; 683-686). Die „Schlüsselgewalt“ ist # 137 besprochen (691-703. Hier hätte ich auch etwas zur priesterlichen Absolution erwartet). Das Zölibat „Eunuchen für das Himmelreich“ # 141 (754-765). Kirchenausschluss und Konfliktlösung # 139 (718-730). Eintritt durch die (Kinder-) Taufe # 150. Mich interessiert besonders das Thema Tempelsteuer und die Di-Drachmen (τὰ δίδραχμα, nicht der Denar von # 67),[5] zu denen ich Substantielles finde in # 138 (704-717) einschließlich des fiscus Iudaicus, der Tempelsteuer, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels weiter von den Römern eingezogen wurde für römische Tempel 708f; 712; 714 (die zur Trennung von ethnischen Juden und ‚Gottesfürchtigen‘ führte, wenn die letzteren die Steuer nicht zahlten).
Der Prozess Jesu – von Martin Pennitz
Der Prozess Jesu bildet ein viel diskutiertes Thema, das Martin Pennitz hier ausführlich rechtsgeschichtlich untersucht und einordnet (845-959 115 Seiten!).[6] Das ist kein spezifisch lukanisches Thema, sondern ausführlich bei allen drei Synoptikern und im Johannes-Evangelium berichtet und theologisch gedeutet: die Rolle der Römer, der Prozess vor dem jüdischen Gremium des Hohen Rats, des Hohen Priesters, die Überstellung an den Präfekt Pontius Pilatus, Folter, Todesurteil, Kreuzigung, Bestattung. Kann das so abgelaufen sein, wie sind die widersprüchlichen Aussagen zu erklären? Die Erzählungen der Evangelien verweben ineinander Bericht, Paränese für die Hinterbliebenen, Umdeutung der Katastrophe der Bewegung in einen Sieg, Verknüpfung mit dem Pesach-Fest, Deutung als Opfer; jedes Evangelium mit einer anderen Interpretation des Geschehenen. MP analysiert aus dem Wissen römisch-rechtlicher Institutionen einen ordentlich durchgeführten Prozess (# 159, Abschnitt 4), der durchaus durchgeführt worden sein kann zu dem Zeitpunkt, den Johannes nennt, „an dem auch die Passalämmer zu schlachten sind“. „Denn zum einen erstrecken sich römische Gerichtsferien üblicherweise auf Feiertage und Spiele, und zum anderen bieten derartige Ereignisse zugleich häufig den Anlass, dennoch durchzuführende (Straf-) Verfahren dann amtswegig auszusetzen bzw. niederzuschlagen.“ (869). Im Fazit macht MP deutlich, dass man kein aus allen Evangelien harmonisiertes Verfahren gegen den ‚historischen‘ Jesus rekonstruieren oder andrerseits einem der Evangelisten den Vorzug geben kann. „Vielmehr werden die vier Evangelienberichte – inspiriert durch die wegweisenden Thesen von Elias Bickerman – als jeweils eigenständige Auslegungen eines nur in Basisdaten tradierten geschichtlichen Ereignisses herangezogen […] Jeder Verfasser der Evangelien – neben den theologischen Anliegen, die hier aber weitgehend ausgeblendet bleiben können – (setzt sich) zugleich zum Ziel, eine (freilich aus Laiensicht) schlüssige und glaubhafte Erzählung des rechtlichen Passionsgeschehen vorzulegen.“ (948). Das fasst MP dann für Markus [und noch deutlicher im Matthäus-Evangelium], im Lukas und noch einmal sehr anders im Johannes, den MP mit Siegert in drei Phasen unterscheidet. Wer Schuld am Tode Jesu habe, sei eine Frage, die man nicht einer Seite zuschreiben könne. Dazu auch # 149 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25b. 829-835).
Gesprächsangebot
Siegert versteht sein Riesenprojekt so: „Demgegenüber (Barths Ablehnung des ‚an der Natur des Menschen orientiertes Naturrechts‘ und Rudolf Sohms allzu geistlicher Kirchenbegriff) soll der rechtsgeschichtliche Kommentar zum Neuen Testament RKNT ein von Hemmnissen freies Gesprächsangebot sein.“ (x). Das klingt allzu bescheiden, der Herausgeber weiß aber, dass seine eindeutigen Datierungen, Zuordnungen, Bezüge zu hebräisch-aramäischen Parallelen und die Bestimmung der rechtlichen Sphären viel Diskussion auslösen werden – hoffentlich! Denn der Kommentar ist spannend, erhellend für viele, gerne freihändig ausgelegte Texte des NT, die in diesem Kommentar einen präzisen historisch-kritischen Ort erhalten.[7] FS verwendet eine klare, direkte Sprache und schlägt den Bogen von der Angabe des rechtsgeschichtlichen Themas über Definitionen von Rechtstermini (moderne Systematik – antike Begriffe), die Zuordnung zu Rechtssystemen (Tora, altorientalisch, hellenistisch, römisch), Paralleltexten aus diesem Rechtssystem, Textbefund, Quellen bis hin zur Hermeneutik der Perikope und weiterführende Überlegungen in Exkursen, die meist tiefgreifende Fragen behandeln, wie der Exkurs „Verantwortung“ (262-267).[8] Ein kurzer Ausblick von Susanne Benöhr-Laqueur erklärt, wie das Thema im heutigen Recht eingeordnet wird. Mit dem ganzen stupenden Wissen und der Weisheit eines Gelehrtenlebens erschließt Folker Siegert nicht nur die wenigen Verse einer Perikope historisch-kritisch, sondern prüft auch im Blick auf heutige Probleme und Krisen, welche Erkenntnisse man aus der umsichtig erschlossenen Exegese gewinnen kann. Man liest keine Seite ohne kluge Einsichten, überraschende Querverbindungen und treffsichere Einordnung von Diskursen und Thesen. Hoffentlich gelingt es, das große Werk abzuschließen.
Bremen/Wellerscheid, Oktober 2024 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] In meiner Rezension des 1. Bandes begrüße ich den rechtsgeschichtlichen Kommentar zum Neuen Testament als ein grundlegendes Instrument, das bisher nie unternommen wurde. Für die historisch-kritische Auslegung ist es unverzichtbar, die verschiedenen Sphären von Rechtsordnungen zu unterscheiden.
„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, Gott aber, was Gottes ist!“ Notwendige Kenntnisse des Rechts für das Verständnis des Neuen Testaments. Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament. Band 1; Einleitung, Arbeitsmittel und Voraussetzungen. Herausgegeben von Folker Siegert 2023.
https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/05/01/rechtsgeschichte-neues-testament/ (1.Mai 2023).
[2] Die Gliederung des Gesamt-Projektes mit den Bänden 2-6 ist S. 965-974 wiederholt mit der Nummerierung der Perikopen mit einem # 136 (beispielsweise, also Raute und Zahl).
[3] Als Redaktionsschluss hatte der Herausgeber das Jahr 2020 vorgesehen, „was neuere Eintragungen aber nicht ausschließt“ (xi). An der Kommentierung haben 15 Wissenschaftler:innen mitgearbeitet, die S. [975] genannt sind.
[4] Das Gleichnis habe ich für die mittelalterliche Kritik der Katharer an der kirchlichen Bußpraxis interpretiert in der Auslegung des Papstes Innozenz III. Christoph Auffarth: Angels on Earth and Forgers in Heaven. A Debate in the High Middle Ages Concerning Their Fall and Ascension. in: CA; Loren Stuckenbruck (eds.): The Fall of the Angels. Leiden: Brill 2004, 192-223.
[5] Eine der ganz seltenen Fehler: an der Stelle Mt 17,24 ist der Plural verwendet zu τὸ δίδραχμον.
[6] Martin Pennitz (*1962) ist seit 2014 Professor für Römisches Recht an der Universität Innsbruck. Seine Hompage Univ.-Prof. Dr. Martin Pennitz – Universität Innsbruck (uibk.ac.at) (13.10.2024). Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen MP.
[7] Das Buch ist im Hardcover fadengeheftet für vielfache Benutzung geeignet, die in der Natur eines Kommentars liegt. Zu wünschen ist eine baldige Paperback-Ausgabe, die in zwei Teilbänden (Lukas, Matthäus) leichter handhabbar wäre. Eine digitale Ausgabe würde den Effekt nicht bieten, dass man über das Suchen auf andere Perikopen und Begriffe stößt, nach denen man nicht direkt gesucht hat.
[8] Der Exkurs greift die Überlegungen aus dem Exkurs 5 in Band 1 auf und bringt Max Webers Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ins Spiel mit der Weiterführung in Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung 1979 anstelle von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung 1954.