Im Interview mit Edith Meinhardt

Eine inspirierende Frau mit eindrucksvollen Worten

In den vergangenen Wochen hat mir Frau Edith Meinhardt, die Tochter von Hildegard Jacobsohn (geborene Cohn) und Arno Isner, die Möglichkeit gegeben, sie näher kennenzulernen. Sie hat mich mit ihren fesselnden Worten sehr beeindruckt und zum Nachdenken angeregt. Ich bin mir sicher, Ihnen wird es genauso gehen.


Frage: Könnten Sie sich kurz vorstellen?

Frau Meinhardt: Ich bin Jahrgang 1947, also keine „Zeitzeugin“, denn die Nazizeit endete ja 1945. Ich wurde in London geboren, als Kind jüdischer Flüchtlinge. Aufgewachsen bin ich in der DDR, in Berlin. Ich habe Abitur gemacht, an der Technischen Universität Dresden studiert und promoviert und viele Jahre als Diplomingenieur für Infomationstechnik gearbeitet. Ich wohne in Dresden, habe drei Kinder, fünf Enkelkinder zwischen 7 und 17, und bin schon seit einigen Jahren im Ruhestand.


Frage: Was bedeutet für Sie Judentum? 

Frau Meinhardt: In meiner Kindheit spielte mein Jüdischsein für mich keine große Rolle. Wir waren nicht religiös und es war im Freundeskreis nicht wichtig, welcher Religion man angehörte. Aber natürlich wusste ich früh, was mit meinen Großeltern und vielen anderen Verwandten passiert war, dass man sie ermordet hatte, weil sie Juden waren. Und dass meine Eltern nur überlebt hatten, weil sie hatten fliehen können. Zum Thema Judentum muss man vielleicht erklären, dass sich vor der Nazizeit viele Juden in erster Linie als Deutsche fühlten. So war das auch bei meinen Großeltern Herrmann und Gertrud Cohn, über deren Lebensgeschichte die Cohn-Scheune informiert. Sie fühlten sich als Rotenburger, waren anerkannte Bürger, wenngleich sie Antisemitismus in ihrem Leben bestimmt schon oft erfahren haben. Den gab es ja schon vor der Nazizeit. So fühle ich mich ebenfalls in erster Linie als Dresdnerin, als Deutsche und als Europäerin. Durch die Geschichte meiner Vorfahren und durch den Holocaust bin ich mit dem Judentum verbunden. Typisch für Juden ist übrigens, dass sie Verwandte in aller Welt haben. Um zu überleben flüchteten sie in die Länder, die ihnen die Einreise erlaubten. Verwandte von mir leben in Israel, in England, in den USA, Columbien, Ecuador… Von denen sind einige streng religiös, andere gar nicht. Und dann gibt es die dazwischen. Bei denen ist das wie hierzulande bei sehr vielen Christen. In die Kirche geht man zur Taufe, Hochzeit, Trauerfeier, vielleicht noch zu Ostern und Weihnachten, aber nicht jede Woche. Und das ist bei den Juden nicht anders.


Frage: Haben Sie Kontakt zu anderen Mitgliedern der Familie Cohn?

Frau Meinhardt: Das Ehepaar Hermann und Gertrud Cohn, also meine Großeltern, hatten zwei Töchter, meine Mutter Hildegard und die Schwester Erna. Über die Lebensgeschichte der beiden und ihrer Familien kann man sich in der Cohn-Scheune informieren. Im Mai 2005 fand in Rotenburg in der Großen Straße vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Cohn eine Stolpersteinverlegung statt. Ein Fernsehzuschauer hatte einen Beitrag über die kontrovers verlaufenen Diskussionen im Vorfeld gesehen und informierte die Initiatorin Hedda Braunsburger darüber, dass er einen Kontakt zu den Kindern von Erna Cohn herstellen könnte. So lernten meine Mutter, meine Schwester Eva und ich bei der Stolpersteinverlegung unsere drei Nichten bzw. Kusinen Alicia, Dora und Trudie kennen, die zusammen mit einigen ihrer Kinder und Schwiegerkinder aus Kolumbien, Equador und England angereist waren. Für den Künstler Günther Demnig, der seit vielen Jahren in Deutschland und in vielen Ländern Europas Stolpersteine verlegt, um den Opfern ihren Namen und ihre Würde wiederzugeben, war diese Familienzusammenführung ein besonderes Ereignis. Deshalb beschloss er, auch für die Schwestern Hildegard und Erna Stolpersteine zu verlegen. Als ich ihn mehr als 10 Jahre später bei einem Mittagessen nach einer Stolpersteinverlegung für Verwandte meines Vaters in Hüttenbach in Franken fragte, ob er sich nach zigtausenden von Stolpersteinen an bestimmte Fälle erinnern konnte, sagte er, dass er sich nur an Rotenburg erinnerte, wegen der Familienzusammenführung. Ich sagte ihm dann, dass ich zu dieser Familie gehöre und dass die eine der der beiden Schwestern noch lebt. Da war er so verblüfft, dass er aufsprang und dabei fast den Tisch umgerissen hätte. Seitdem haben wir Kusinen natürlich Kontakt miteinander. Bei der Eröffnung der Cohn-Scheune 2010 war Trudie Dell aus England dabei, und 2019 habe ich sie und ihre Familie in England besucht.


Frage: Wie stehen Sie sonst in Bezug mit der Cohn-Scheune? Haben Sie bei der Aufbereitung der Themen geholfen? Wenn ja, wie war das für Sie?

Frau Meinhardt: Mit der Cohn-Scheune fing mein Engagement an. Ohne die Lebenserinnerungen, Fotos und Dokumente meiner Mutter würde der Ausstellung eine Menge fehlen. Vor allem weil persönliche Erinnerungen viel eindrucksvoller sind als bloße historische Fakten. Zuerst hat meine Schwester Eva sich um alles gekümmert, hat unserer Mutter geholfen, die Informationen zusammenzutragen. Sie war in ihrem Wohnort Senftenberg die Initiatorin der Stolpersteinaktionen, hat viel zu dem Thema geforscht und die vertriebenen und ermordeten Juden dem Vergessen entrissen. Genau wie ich war sie überhaupt nicht gläubig, aber über ihre (unsere) Wurzeln dem Judentum verbunden. Ihr bester Mitstreiter in der Stolpersteinsache war der evangelische Pfarrer. Leider ist sie schon 2014 verstorben. Seitdem läuft die Zusammenarbeit mit der Cohn-Scheune über mich. Meine Mutter konnte, mit meiner Hilfe, noch einiges zur Erweiterung der Ausstellung beitragen. Die Vorsitzende des Fördervereins Cohn-Scheune, Frau Prof. Hansen-Schaberg, hat immer neue Fragen gestellt, die meine Mutter im Gespräch mit mir trotz ihres hohen Alters größtenteils beantworten konnte. Und wir konnten natürlich auch Fotos und Dokumente zur Verfügung stellen. Schließlich konnte ich auch an der neuesten Publikation der Cohn-Scheune, dem Buch „Weitererzählen“ mitarbeiten. Da es sich um meine Familiengeschichte handelt, wurde die Sache ziemlich persönlich. Da muss man einerseits für sich entscheiden, ob man das wirklich in einer Ausstellung haben möchte. Gleichzeitig möchte man dann auch alles, was die eigene Geschichte betrifft, vorher sehen und ggf. korrigieren dürfen. Ich kann sagen, dass ich inzwischen freundschaftliche Kontakte zu einer ganzen Menge von aktiven Mitgliedern des Vereins habe und die Arbeit aus der Ferne aufmerksam verfolge. Ich bin sogar zum Ehrenmitglied des Vereins ernannt worden, darauf bin ich ziemlich stolz.


Frage: Wie begegnen Ihnen Leute, die über Ihre Familiengeschichte in Kenntnis sind? Zeigt sich häufig Interesse? Gibt es auch negative Reaktionen?

Frau Meinhardt: Je mehr ich mich, vor allem wegen der Mitarbeit an einer Ausstellungserweiterung und einer Publikation der Cohn-Scheune, inhaltlich mit dieser Sache befasse, desto mehr wird das natürlich auch immer mal Thema in meinem Freundeskreis. Bisher ist mir da nur Interesse begegnet, keine Ablehnung. Den Freundeskreis wählt man ja selber, das würde nicht passen. Es ist natürlich ein großer Unterschied, ob man wie ich äußerlich nicht als anders wahrgenommen wird, oder ob man auf den ersten Blick als „fremd“ wahrgenommen wird. Es gibt eine Menge Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Dresden, in Sachsen, und dagegen engagiere ich mich. Antisemitismus ist da sicher auch dabei, aber nicht vordergründig. Den findet man heutzutage viel in den Verschwörungsmythen, z.B. von Coronaleugnern und Impfgegnern, aber das ist hier nicht das Thema.


Frage: Haben Sie noch (viel) Kontakt mit dem jüdischen Leben? Durch Freunde, Bekannte oder weil Sie eventuell selbst noch durch Ihre Familie irgendwie aktiv sind?

Frau Meinhardt: Wenn in Dresden die jährliche Jüdische Woche, ein Kulturfest, stattfindet, besuche ich eine Vielzahl von Veranstaltungen. Auch wenn sonst eine Veranstaltung rings um dieses Thema stattfindet, bin ich in der Regel dabei. Ich durfte sogar schon zwei Mal beim Familientag (Mischpoketag) der Jüdischen Woche in der jüdischen Gemeinde für Kinder vorlesen. Mein diesbezügliches Interesse ist nicht religiös, sondern in der Geschichte begründet. Übrigens stammt ein Teil der jüdischen Kultur, z.B. Klezmermusik, jiddische Literatur usw. aus dem „Ostjudentum“, das für assimilierte, also sich als mehr deutsch denn als jüdisch verstehende Juden eher fremd war. Ich selbst mag Klezmermusik, weil ich folk und jazz mag. Aber ich glaube nicht, dass meine Großeltern einen Bezug dazu hatten. Die mochten bestimmt eher klassische Musik.


Frage: Gibt es noch Werte, Regeln oder Traditionen, die Sie für sich aus dem Judentum übernommen haben?

Frau Meinhardt: Meine Eltern haben mir natürlich Werte vermittelt, die sind aber (wenn auch teilweise in Religionen verankert) unabhängig von der Religion. Das ist vor allem die Achtung der Würde jedes Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion, Hautfarbe, sozialer Stellung usw. Kein Kind kann sich aussuchen, in welches Elternhaus, in welches Leben es hineingeboren wird. Dazu gehörte auch, dass wir die Religion anderer Leute respektierten, das war deren Privatsache. Übrigens steht das ja auch in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die natürlich für mich erst 1990 mit der deutschen Wiedervereinigung relevant wurde. Außerdem habe ich noch etwas anderes verinnerlicht, das meine Eltern uns Kindern vermittelten: Man sollte sich immer auch über das Private hinaus für andere Menschen einsetzen. Das habe ich immer getan, auch heute bin ich noch ehrenamtlich tätig, lese z.B. mit großer Freude in Kindergärten vor. Aber Sie werden zugeben, dass das alles nichts mit dem Judentum zu tun hat.


Frage: Sie haben darüber geredet, dass sie ehrenamtlich tätig sind und sich gegen Rassismus engagieren. Haben Sie Empfehlungen, wie man (auch als Jugendliche*r) solche Dinge am besten in seinen Alltag einbauen kann? Haben Sie Anregungen, was man als Jugendliche*r neben dem Zeigen von Zivilcourage gegen Rassismus tun kann?

Frau Meinhardt: Es gibt einen großen Unterschied zwischen uns beiden. Ich bin im Ruhestand, habe also Zeit für ein Ehrenamt. Sie sind jung, müssen einen Schulabschluss machen, dann irgendetwas in Richtung späteres Berufsleben tun. Natürlich kann man auch als junger Mensch ehrenamtlich tätig sein, viele machen das auch. Aber wenn man es nicht tut, ist das nicht schlimm. Wenn man sich engagiert, muss man das entsprechend den eigenen Interessen und Vorstellungen machen. Ob man sich kulturell, sportlich, politisch oder wie auch immer engagiert, ist ja immer die eigene Entscheidung. Und wenn man es einfach als Freizeitgestaltung macht, ist das auch in Ordnung. Ich finde toll, dass Sie sich für dieses aktuelle Projekt so einsetzen. Und wenn Sie immer in Ihrem Leben Zivilcourage zeigen, ist das schon sehr viel! Das tun viel zu wenige, und es kann einem im Leben vielleicht auch mal passieren, dass man dafür wirklich Mut braucht. Hier in Dresden hieß Auftreten gegen Rassismus lange Zeit, zu Gegendemonstrationen gegen Naziaufmärsche und Pegidademonstrationen zu gehen. Momentan mache ich das wegen Corona gerade nicht, obwohl da bei den aktuellen Demos von Impfgegnern und Coronaleugnern viele Neonazis die Strippen ziehen.


Frage: Gibt es etwas, dass Sie gerne den Leuten auf den Weg geben würden?

Frau Meinhardt: Es ist mir sehr wichtig, dass die Erinnerung wachgehalten wird. Dass vor allem junge Leute, für die das alles unendlich weit entfernt ist, davon erfahren und für die Gegenwart lernen. Es ist ja nicht so, dass es keinen Antisemitismus, keinen Rassismus, keine Fremdenfeindlichkeit mehr geben würde. Das sind leider sehr aktuelle Themen. Deshalb finde ich es toll, dass Ihr Euch mit dem Thema befasst.