Eine Fotografie von Serge Koch passt als Bild des Monats November in die Nachdenklichkeit, welche der Monat November verleiht. Traudi Böing von der ErwuesseBildung, der Dienststelle Erwachsenenbildung der Katholischen Kirche in Luxemburg, schreibt dazu eine Betrachtung.
Eine griechische Sage erzählt von einem alten Ehepaar, Philemon und Baucis, die fast ihr ganzes Leben miteinander verbracht hatten. Ihnen wurde der Wunsch erfüllt, im gleichen Moment sterben zu dürfen, damit niemand allein zurückbleiben müsse. Als ihre Todesstunde gekommen war, wurden sie in zwei Bäume verwandelt, welche nah beieinander und ineinander verschränkt in den Himmel wuchsen.
Diese Geschichte kam mir in den Sinn beim Betrachten von „odd couple“. Der Titel der Fotografie – zu Deutsch „merkwürdiges Paar“ – öffnet den Blick über das unmittelbar zu Sehende hinaus.
Die verfremdete Fotografie zeigt auf den ersten Blick zwei Bäume, deren Verzweigungen und Laub sich vor einem bräunlich-orangen Himmel schwarz abheben. Rechts oben ragt ein weiterer, schwarzer Ast hoch in den Himmel. Vielleicht gehört er zu dem Baum rechts unten. Die schwarzen Formen sind in einem hellgelben Farbton hinterlegt, wodurch ein lebendiger Eindruck von unruhigem Flackern, Glühen oder gar Knistern entsteht.
Am Himmel scheint sich eine Wolkenschicht diagonal voranzuschieben. In ihr sind fließende Formen wie an einem Sandstrand, an dem das Wasser seine Spuren hinterlassen hat, erkennbar.
Die Bäume sind recht unterschiedlich. Der linke Baum ist größtenteils belaubt, während sein Pendant rechts an seinen skurrilen Ästen kein Laubwerk mehr aufweist. Vielleicht handelt es sich hier eher um einen Wurzelstock? Der Titel suggeriert eine Beziehung zwischen den beiden einander zugewandten Gewächsen. Ihre Äste greifen krakenartig ineinander. Mal sieht es aus, als wären es Arme, mit denen sie sich gegenseitig heranziehen wollten, mal als würden sie versuchen, sich voneinander wegzustoßen. Halten sie sich auf Abstand, stützen sie sich gegenseitig, tanzen sie miteinander, berühren sie sich nur zufällig, versuchen sie, den Abstand zwischen ihnen zu überbrücken?
Die zwei unterschiedlichen Bäume kann man als Sinnbild des Menschen sehen. Jeder Mensch hat eine völlig andere Vergangenheit, die ihn geprägt hat, andere Bedürfnisse, andere körperliche Voraussetzungen, welche seine Wahrnehmung der Welt beeinflussen, eine andere Herkunftsfamilie, ein anderes Sprachgefühl. Jeder Mensch ist wie ein eigenes Universum. Wenn man sich diese Unterschiedlichkeit bewusst macht, scheint es fast wie ein Wunder, dass Menschen trotzdem enge Verbindungen eingehen und sich verständigen können. Wie die Bäume zu interagieren scheinen, so setzen sich auch Menschen in einer engen, lebendigen Beziehung auseinander, sie reiben sich aneinander, streiten sich, diskutieren, unterstützen sich, setzen einander Grenzen, suchen gegenseitige Nähe. Schließlich wachsen beide aus dem Erdengrund.
Traudi Böing
ErwuesseBildung
- Die Fotografie von Serge Koch ist zusammen mit der Betrachtung von Traudi Böing als Kunstkarte 2010 zu erwerben: mehr
Ein Gedanke zu „Wie Philemon und Baucis“