Nur ein paar Ähren?
„… und ich sage euch: Es ist und bleibt ein himmelschreiender Frevel, was ihr getan habt! Gott wird euch bestrafen, weil ihr den Schabbat geschändet habt. Ihr habt Gottes heilige Gebote missachtet – sein heiliger Zorn wird euch treffen; und ganz Kafarnaum wird er nicht verschonen, wenn wir diese Schandtat dulden, die sich gestern hier in der Stadt zugetragen hat …“ Die Stimme des Rabbi Maleachi schallte gellend über den Marktplatz. Er hatte sich auf der obersten Treppe der Synagoge aufgebaut und sah drohend auf die Menschenmenge hinunter, die sich versammelt hatte. Da kam auch schon der Bürgermeister Manasse über den Platz gehastet: „Was ist denn hier los, ehrwürdiger Rabbi?“ schrie er schon von weitem und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Endlich stand er schnaufend neben dem Rabbi und wiederholte: „Was ist denn hier los, ehrwürdiger Rabbi – ihr seid ja völlig fassungslos!“ „Da soll man nicht außer Fassung geraten?“ kreischte der Rabbi … „Worum geht es denn überhaupt? Und wer ist der Übeltäter? Ich, der Bürgermeister, werde dir helfen, für Recht und Ordnung zu sorgen!“ Rabbi Maleachi holte tief Luft und begann: „Der Schabbat ist entheiligt worden!! Und zwar von diesem Jeschua und seiner Bande! Gestern haben sie am Rand des Weizenfeldes von Bauer Aram büschelweise Ähren ausgerissen und die Körner mitgenommen.“ Julius stupfte Benjamin Vater an: „Ist denn das wirklich so schlimm? Das Feld ist doch so groß – kommt es auf die paar Büschel Ähren an? Lohnt es sich, dass sich der Rabbi deshalb derartig aufregt?“ „Nein, Julius, darum geht es doch gar nicht“, flüsterte Aram, „jeder der Hunger hat, darf sich bei uns etwas vom Feldrand holen. Aber dass Jeschua und seine Freunde es am Schabbat getan haben, ist gegen Gottes Gesetze. Am Schabbat darf man nicht arbeiten – das weißt du ja schon.“ „Aber das ist doch auch keine richtige Arbeit“, meinte Julius. „Doch, das Gesetz ist bei diesen Dingen sehr streng: Am Schabbat soll kein unnötiger Handgriff getan werden; man soll sich möglichst nur ausruhen.“ Alle Leute auf dem Platz hatten sich inzwischen umgedreht und starrten zu dem Feigenbaum, unter dem Jeschua schon die ganze Zeit saß. Er schien kaum zuzuhören und malte mit dem Finger Muster in den Sand. „Kommt her – ich möchte euch etwas fragen“, sagte Jeschua. Alle setzten sich in einem großen Halbkreis um ihn herum. Nur der Rabbi und der Bürgermeister standen noch etwas verloren auf der Synagogentreppe. Schließlich kamen sie auch ein paar Schritte näher.
„Was denkt ihr“, fragte Jeschua, „warum hat Gott uns wohl den Schabbat geschenkt?“ „Blöde Frage!“ grunzte der Bauer Saul. „Das weiß doch jedes Kind! Natürlich, damit wir uns von der Plagerei der Woche erholen können und unsere Tiere auch!“ „Ja, so steht es im Gesetz!“ rief Rabbi Maleachi von hinten dazwischen. „Der Schabbat ist dafür da, dass es Menschen und Tieren gut geht – und darum muss jede kleinste Vorschrift beachtet werden!“ „Ja, da hast du ganz recht“, stimmte Jeschua zu, „der Schabbat ist für alle Lebewesen da. Allen soll es an diesem Tag gut gehen. Aber bei euren tausend Vorschriften müssen die Menschen ja den ganzen Tag darüber nachdenken, dass sie bloß nichts falsch machen! Ist das etwa keine Arbeit?“ Rabbi Maleachi schnappte hörbar nach Luft. Aber Jeschua war noch nicht fertig: „Bei euch ist der Schabbat nicht mehr für die Menschen da – sondern es kommt mir vor, als ob die Menschen dafür da sind, dass alle kleinen Schabbatgebote eingehalten werden! Ein feiner Feiertag! Meint ihr, dass Gott das so gewollt hat?“ Einen Augenblick lang herrschte Totenstille – dann redeten alle durcheinander: „Wo kommen wir denn da hin?“ – „Nein, Rabbi Jeschua hat Recht!“ – „Es ist doch wirklich eine endlose Plage mit all den Schabbatvorschriften!“ – „So hat Gott es sicher nicht gemeint …!“ – „Aber die Gesetze müssen unter allen Umständen eingehalten werden!“ „Ruhe!!!“ Der Bauer Saul stand auf einmal ganz oben auf der Synagogentreppe und schrie: „So einen wie Jeschua können wir hier in Kafarnaum nicht gebrauchen. Er stört unsere alten Ordnungen und hält sich nicht an die Gesetze. Dass der nicht der Messias sein kann, ist mir schon lange klar – aber die Schabbatschändung hat es wohl für jedermann klargemacht! Meine Meinung ist: Jeschua und jedermann, der zu ihm hält, muss die Stadt augenblicklich verlassen. Diese Leute bringen nichts als Unglück über uns.“ „Bravo!“ rief der Rabbi. „Wohl gesprochen. So ist es: Wer die Gesetze nicht hält, macht sich schuldig und muss die Stadt verlassen!“ Benjamin sprang auf: „So! Dann muss Saul aber auch verschwinden!“ Alle starrten ihn an. Saul hob die Hand und ging drohend auf Benjamin zu. Aber Aram stellte sich schützend hinter seinen Sohn. „Ja, letzte Woche am Schabbat ist doch die Ziege von Saul in den Brunnen gefallen – das weiß doch ganz Kafarnaum. Das Vieh hat geschrien, dass man es überall hören konnte. Und was hat Saul gemacht? Natürlich hat er die Ziege aus dem Brunnen gezogen; und einige von euch haben ihm geholfen. Mindestens eine Stunde habt ihr geschuftet, dass euch der Schweiß auf der Stirn stand. Und geflucht habt ihr auch! Gut, dass der Rabbi nicht in der Nähe war! – Und wer von euch hätte es nicht genauso gemacht? Da fragt keiner nach irgendwelchen Gesetzen. Da sagt sich jeder vernünftige Mensch: Wo Not ist, muss geholfen werden – ob Schabbat oder nicht. Und ganz bestimmt hat Gott es so gewollt! Der lässt keinen verrecken, nur weil gerade Feiertag ist!“ Alle waren sprachlos. Jeschua stand auf und nahm Benjamins Hände. Dann schaute er zum Himmel und betete: „Vater, Herr über Himmel und Erde, ich preise dich dafür, dass du den Unwissenden zeigst, was du den Klugen und Gelehrten verborgen hast.“ Dann wandte er sich wieder an die Menge: .. „Ihr plagt euch mit den Geboten, die die Gesetzeslehrer euch auferlegt haben. Kommt doch zu mir, ich will euch die Last abnehmen! Ich quäle euch nicht und sehe auf keinen herab. Was ich von euch erwarte, ist gut für euch, und was ich euch zu tragen gebe, ist keine Last!“ Die Leute standen da wie versteinert. Wer war dieser Rabbi Jeschua, dass er es wagte, so zu reden? „Haltet ihn! Legt ihn in Ketten! Der ist gefährlich!“ Die Stimme des Rabbi Maleachi überschlug sich – aber niemand rührte sich. Jeschua sagte ganz ruhig: „Kommt, Freunde, ich glaube, wir müssen diese Stadt für eine Weile verlassen. Vielleicht kommt eine Zeit, in der alle Menschen hier verstehen, was ich ihnen zu sagen habe.“ Er winkte allen noch einmal freundlich zu und ging mit Johannes, Simon, Levi, Andreas und seinen anderen Freunden die Gasse hinunter, die zum Stadttor führte. „Mensch, Benjamin, unser Freund Jeschua ist einfach der Größte. Er redet ganz anders als der Rabbi Maleachi – ich habe immer das Gefühl, da steckt mehr dahinter – so, als ob er einen richtigen Auftrag hat!“ Benjamin nickte: „Der ist garantiert der Messias! Und ganz bestimmt kommt er wieder – das weiß ich genau!“.