Lektion 8 – Ährenausraufen
Nur ein paar Ähren?
„… und ich sage euch: Es ist und bleibt ein himmelschreiender Frevel, was ihr getan habt! Gott wird euch bestrafen, weil ihr den Schabbat geschändet habt. Ihr habt Gottes heilige Gebote missachtet – sein heiliger Zorn wird euch treffen; und ganz Kafarnaum wird er nicht verschonen, wenn wir diese Schandtat dulden, die sich gestern hier in der Stadt zugetragen hat …“ Die Stimme des Rabbi Maleachi schallte gellend über den Marktplatz. Er hatte sich auf der obersten Treppe der Synagoge aufgebaut und sah drohend auf die Menschenmenge hinunter, die sich versammelt hatte. Da kam auch schon der Bürgermeister Manasse über den Platz gehastet: „Was ist denn hier los, ehrwürdiger Rabbi?“ schrie er schon von weitem und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Endlich stand er schnaufend neben dem Rabbi und wiederholte: „Was ist denn hier los, ehrwürdiger Rabbi – ihr seid ja völlig fassungslos!“ „Da soll man nicht außer Fassung geraten?“ kreischte der Rabbi … „Worum geht es denn überhaupt? Und wer ist der Übeltäter? Ich, der Bürgermeister, werde dir helfen, für Recht und Ordnung zu sorgen!“ Rabbi Maleachi holte tief Luft und begann: „Der Schabbat ist entheiligt worden!! Und zwar von diesem Jeschua und seiner Bande! Gestern haben sie am Rand des Weizenfeldes von Bauer Aram büschelweise Ähren ausgerissen und die Körner mitgenommen.“ Julius stupfte Benjamin Vater an: „Ist denn das wirklich so schlimm? Das Feld ist doch so groß – kommt es auf die paar Büschel Ähren an? Lohnt es sich, dass sich der Rabbi deshalb derartig aufregt?“ „Nein, Julius, darum geht es doch gar nicht“, flüsterte Aram, „jeder der Hunger hat, darf sich bei uns etwas vom Feldrand holen. Aber dass Jeschua und seine Freunde es am Schabbat getan haben, ist gegen Gottes Gesetze. Am Schabbat darf man nicht arbeiten – das weißt du ja schon.“ „Aber das ist doch auch keine richtige Arbeit“, meinte Julius. „Doch, das Gesetz ist bei diesen Dingen sehr streng: Am Schabbat soll kein unnötiger Handgriff getan werden; man soll sich möglichst nur ausruhen.“ Alle Leute auf dem Platz hatten sich inzwischen umgedreht und starrten zu dem Feigenbaum, unter dem Jeschua schon die ganze Zeit saß. Er schien kaum zuzuhören und malte mit dem Finger Muster in den Sand. „Kommt her – ich möchte euch etwas fragen“, sagte Jeschua. Alle setzten sich in einem großen Halbkreis um ihn herum. Nur der Rabbi und der Bürgermeister standen noch etwas verloren auf der Synagogentreppe. Schließlich kamen sie auch ein paar Schritte näher.
„Was denkt ihr“, fragte Jeschua, „warum hat Gott uns wohl den Schabbat geschenkt?“ „Blöde Frage!“ grunzte der Bauer Saul. „Das weiß doch jedes Kind! Natürlich, damit wir uns von der Plagerei der Woche erholen können und unsere Tiere auch!“ „Ja, so steht es im Gesetz!“ rief Rabbi Maleachi von hinten dazwischen. „Der Schabbat ist dafür da, dass es Menschen und Tieren gut geht – und darum muss jede kleinste Vorschrift beachtet werden!“ „Ja, da hast du ganz recht“, stimmte Jeschua zu, „der Schabbat ist für alle Lebewesen da. Allen soll es an diesem Tag gut gehen. Aber bei euren tausend Vorschriften müssen die Menschen ja den ganzen Tag darüber nachdenken, dass sie bloß nichts falsch machen! Ist das etwa keine Arbeit?“ Rabbi Maleachi schnappte hörbar nach Luft. Aber Jeschua war noch nicht fertig: „Bei euch ist der Schabbat nicht mehr für die Menschen da – sondern es kommt mir vor, als ob die Menschen dafür da sind, dass alle kleinen Schabbatgebote eingehalten werden! Ein feiner Feiertag! Meint ihr, dass Gott das so gewollt hat?“ Einen Augenblick lang herrschte Totenstille – dann redeten alle durcheinander: „Wo kommen wir denn da hin?“ – „Nein, Rabbi Jeschua hat Recht!“ – „Es ist doch wirklich eine endlose Plage mit all den Schabbatvorschriften!“ – „So hat Gott es sicher nicht gemeint …!“ – „Aber die Gesetze müssen unter allen Umständen eingehalten werden!“ „Ruhe!!!“ Der Bauer Saul stand auf einmal ganz oben auf der Synagogentreppe und schrie: „So einen wie Jeschua können wir hier in Kafarnaum nicht gebrauchen. Er stört unsere alten Ordnungen und hält sich nicht an die Gesetze. Dass der nicht der Messias sein kann, ist mir schon lange klar – aber die Schabbatschändung hat es wohl für jedermann klargemacht! Meine Meinung ist: Jeschua und jedermann, der zu ihm hält, muss die Stadt augenblicklich verlassen. Diese Leute bringen nichts als Unglück über uns.“ „Bravo!“ rief der Rabbi. „Wohl gesprochen. So ist es: Wer die Gesetze nicht hält, macht sich schuldig und muss die Stadt verlassen!“ Benjamin sprang auf: „So! Dann muss Saul aber auch verschwinden!“ Alle starrten ihn an. Saul hob die Hand und ging drohend auf Benjamin zu. Aber Aram stellte sich schützend hinter seinen Sohn. „Ja, letzte Woche am Schabbat ist doch die Ziege von Saul in den Brunnen gefallen – das weiß doch ganz Kafarnaum. Das Vieh hat geschrien, dass man es überall hören konnte. Und was hat Saul gemacht? Natürlich hat er die Ziege aus dem Brunnen gezogen; und einige von euch haben ihm geholfen. Mindestens eine Stunde habt ihr geschuftet, dass euch der Schweiß auf der Stirn stand. Und geflucht habt ihr auch! Gut, dass der Rabbi nicht in der Nähe war! – Und wer von euch hätte es nicht genauso gemacht? Da fragt keiner nach irgendwelchen Gesetzen. Da sagt sich jeder vernünftige Mensch: Wo Not ist, muss geholfen werden – ob Schabbat oder nicht. Und ganz bestimmt hat Gott es so gewollt! Der lässt keinen verrecken, nur weil gerade Feiertag ist!“ Alle waren sprachlos. Jeschua stand auf und nahm Benjamins Hände. Dann schaute er zum Himmel und betete: „Vater, Herr über Himmel und Erde, ich preise dich dafür, dass du den Unwissenden zeigst, was du den Klugen und Gelehrten verborgen hast.“ Dann wandte er sich wieder an die Menge: .. „Ihr plagt euch mit den Geboten, die die Gesetzeslehrer euch auferlegt haben. Kommt doch zu mir, ich will euch die Last abnehmen! Ich quäle euch nicht und sehe auf keinen herab. Was ich von euch erwarte, ist gut für euch, und was ich euch zu tragen gebe, ist keine Last!“ Die Leute standen da wie versteinert. Wer war dieser Rabbi Jeschua, dass er es wagte, so zu reden? „Haltet ihn! Legt ihn in Ketten! Der ist gefährlich!“ Die Stimme des Rabbi Maleachi überschlug sich – aber niemand rührte sich. Jeschua sagte ganz ruhig: „Kommt, Freunde, ich glaube, wir müssen diese Stadt für eine Weile verlassen. Vielleicht kommt eine Zeit, in der alle Menschen hier verstehen, was ich ihnen zu sagen habe.“ Er winkte allen noch einmal freundlich zu und ging mit Johannes, Simon, Levi, Andreas und seinen anderen Freunden die Gasse hinunter, die zum Stadttor führte. „Mensch, Benjamin, unser Freund Jeschua ist einfach der Größte. Er redet ganz anders als der Rabbi Maleachi – ich habe immer das Gefühl, da steckt mehr dahinter – so, als ob er einen richtigen Auftrag hat!“ Benjamin nickte: „Der ist garantiert der Messias! Und ganz bestimmt kommt er wieder – das weiß ich genau!“.
Lektion 7 – Rangstreit
Wer ist der Größte?
„Benjamin, Julius, habt ihr zwei nicht Lust, Onkel Aaron zu besuchen? Wir könnten frischen Fisch brauchen – dann gibt es heute ein leckeres Abendbrot.“ Esther schaute die beiden Buben auffordernd an. „Und bringt auch getrockneten Fisch mit“, erinnerte die Großmutter. „Onkel Aaron besuchen? Ja, gerne!“ rief Julius und zog Benjamin mit. Als sie zum Strand hinunterkamen, hörten sie schon von weitem laute Stimmen – da war wohl ein handfester Streit in Gang! Benjamin und Julius rannten das letzte Stück bis zu Simons Haus. Da standen Andreas, Johannes, Levi und Simon und redeten heftig aufeinander ein. Gerade schrie Johannes lauthals: „Was wollt ihr eigentlich? Ich war schließlich der erste – ihr wart ja zu feige!“ „Ja, als ob es darauf ankommt? Und wo wohnt er jetzt, hä?“ fauchte Simon und schüttelte drohend die Fäuste. Levi stellte sich in die Mitte: „Und ich – wer von euch hat so viel aufgegeben für den Rabbi? Ich habe meinen Arbeitsplatz verlassen und mein ganzes Vermögen, um mit ihm zu gehen. Das zählt ja wohl etwas mehr.“ Benjamin sah Julius entgeistert an: „Was ist denn mit denen los? Haben die einen Sonnenstich? Ich verstehe kein Wort! Und du?“ „Ich schon – genau so hört es sich bei uns im Lager an, wenn die Truppenführer streiten, wer der Mutigste und Wichtigste ist.“ In diesem Moment kam Jeschua aus dem Haus von Simon. Er reckte sich und blinzelte in die Sonne, dann sah er sich um und winkte Benjamin und Julius zu. Er schien die Streithähne gar nicht zu bemerken. „Und ich sage euch: Ich bin der Größte und Wichtigste“, ereiferte sich Johannes weiter. „Und ich werde einmal ganz nah bei Rabbi Jeschua sitzen – später, im Himmel, wenn Jeschua dort regiert.“ „Aha.“ Jeschua räusperte sich. Die vier Männer zuckten zusammen und sahen sich betreten um. Andreas ging einen Schritt auf Jeschua zu: „Du hast es ja sicher schon gehört, Rabbi, um was der Streit geht. Jetzt entscheidest du bitte: Wer von uns ist der wichtigste Schüler für dich?“ „Tja – das ist eine wichtige und schwierige Frage“, meinte Jeschua mit ernster Miene. Benjamin und Julius kam es allerdings so vor, als ob er sich eigentlich das Lachen kaum verbeißen konnte. „Wisst ihr – am besten machen wir eine Probe“, schlug Jeschua vor. „Ihr habt den ganzen Tag Zeit. Überlegt euch etwas, womit ihr beweisen könnt, wie wichtig eure Arbeit für das Reich Gottes ist. Heute Abend treffen wir uns wieder hier, und dann werde ich entscheiden.“ Alle nickten und machten sich sofort auf den Weg. Auch Benjamin und Julius konnten in Ruhe zu Onkel Aaron gehen und ihren Auftrag erledigen; bis zum Abend würden sie hier nichts versäumen. Sofort nach dem Abendessen rannten sie wieder zum Strand hinunter. Vor Simons Haus saßen Jeschua, Simon, Levi und Johannes. Benjamin und Julius schlichen leise von der Seite ans Haus, aber Jeschua hatte sie längst gesehen: „Kommt nur, ihr zwei, setzt euch mit hierher. Ihr gehört ja auch zu meinen Freunden.“ Benjamin und Julius ließen sich auf den verblichenen Strohmatten nieder. „Wo ist denn Andreas?“ fragte Julius neugierig. „Wo wird der schon sein?“ meinte Simon herablassend. „Der bringt doch nie etwas fertig. Vielleicht ist er doch lieber wieder nach Hause zu seiner Mutter gegangen …“ Aber da kam Andreas auch schon um die Ecke und setzte sich zu den anderen in den Kreis. „So, was habt ihr erreicht? Ich bin wirklich gespannt, wie ihr diesen Tag genutzt habt, um etwas für das Reich Gottes zu tun.“ Jeschua blickte erwartungsvoll von einem zum anderen. Simon sprang auf: „Ihr werdet es nicht glauben – aber ich war beim Bürgermeister Manasse. Ihr wisst ja, er ist nicht gerade begeistert von Jeschua und seiner Sache. Aber – ich war sehr erfolgreich! Es ist mir zwar nicht gelungen, ihn als neuen Schüler von Jeschua zu gewinnen – aber …“ Simon hob triumphierend einen großen Tonkrug in die Höhe. „Diesen Krug hat der Bürgermeister für die Sache Gottes gespendet! Der Krug ist mit feinstem wohlriechendem Öl gefüllt! Merkt ihr, wie lieblich es duftet? Mit solchen Ölen wurde schon damals unser großer Herrscher David zum König gesalbt. Das ist gerade recht für den Messias!“ Jeschua schien sehr beeindruckt zu sein.
„Das ist zwar ganz schön – aber viel hat der Rabbi davon nicht. Der Duft verfliegt, und das Öl wird ranzig. Da habe ich mir schon etwas Besseres einfallen lassen!“ Johannes winkte zu den Büschen hinüber. Alle blickten erstaunt um sich. Da hörte man auch schon Hoseas Trompete. Er blies ein ganz neues, feierliches Lied. Beim letzten Ton erklärte Johannes:
Es ist der Reich-Gottes-Marsch, den hat Hosea auf meine Bitte extra für dich komponiert, Rabbi Jeschua. Solange du hier in Kafarnaum bist, wird Hosea dich begleiten. Wenn du predigen willst, spielt Hosea diesen Reich-Gottes-Marsch. Wetten, dass ganz Kafarnaum zusammenströmen wird?“ Jetzt hatte Levi lange genug gewartet: „Auch ich habe etwas für das Reich Gottes dabei; ich habe schwer dafür arbeiten müssen.“ Langsam zog er einen roten Samtbeutel aus seinem Kleid und hielt ihn in die Höhe. Dann kniete er vor Rabbi Jeschua und zog vorsichtig an der Kordel, die den Beutel zusammenhielt. „Oooooo“, entfuhr es Benjamin, „so etwas habe ich noch nie gesehen.“ Auf dem roten Samt waren Goldmünzen, Armreifen mit kleinen bunten Edelsteinen und Ringe ausgebreitet, die in der Abendsonne funkelten und glänzten. Levi hielt Jeschua einen goldenen Becher hin: „Hier – der Königsbecher für den Messias!“ Und zu Simon, Johannes und Andreas sagte er: „Das habe ich in jahrelanger Arbeit zusammengetragen – und heute gebe ich es für das Reich Gottes!“ Jeschua sah sich den Becher von allen Seiten an und stellte ihn dann neben sich auf den staubigen Boden. Alle schauten jetzt zu Andreas. „Und was hast du zu bieten?“ fragte Johannes schnippisch. „Ja, also …“ Andreas fing ein bisschen an zu stottern. „Es war nämlich so: Ich hatte mir vorgenommen, alles einzukaufen, um für Rabbi Jeschua ein richtiges Festessen zuzubereiten. Aber es sollten besondere Dinge sein. Ich bin den ganzen Tag in Kafarnaum unterwegs gewesen – aber nichts schien mir gut genug für meinen Rabbi!“ „Ja, und?“ warf Levi spöttisch ein, „was hast du nun vorzuweisen?“ „Ja, äh, wisst ihr, schließlich war ich ganz erschöpft und unglücklich. Ich kaufte ein Fladenbrot …“ „Das ist ja ein toller Beitrag zum Reich Gottes! „lästerte Simon. „Nein, ich weiß“, fuhr Andreas kleinlaut fort, „und ich habe nicht einmal mehr dieses Fladenbrot für Jeschua. Am Marktplatz bin ich Ruben begegnet – er hatte heute den ganzen Tag keine Arbeit; und daheim warten fünf Kinder, seine Frau und die alte Schwiegermutter auf ihn … Da habe ich ihm das Brot gegeben und das Geld, das ich bei mir hatte. Jetzt stehe ich hier mit leeren Händen, und du wirst mich sicher rauswerfen, Rabbi Jeschua! Am liebsten wäre ich gar nicht zurückgekommen!“ Benjamin und Julius hielten den Atem an – wen würde Jeschua jetzt als seinen wertvollsten Schüler auswählen? Jeschua blickte in die Runde: „Ihr habt euch große Mühe gegeben für Gottes Reich. Allerdings müsst ihr noch viel lernen! – Eigentlich hat Andreas es am besten getroffen – obwohl es ganz und gar nicht seine Absicht war! Habt ihr es denn wirklich immer noch nicht verstanden? Das Reich Gottes hat nichts mit Reichtum und Macht zu tun; auch nicht mit Marschmusik und kostbarem Öl, und goldene Becher sind auch überflüssig. Nein – das Reich Gottes fängt immer dort an, wo einem Menschen geholfen wird, der es nötig hat!“ Simon und die anderen sahen ein bisschen enttäuscht und traurig aus. Aber Jeschua lachte herzlich und sagte: „Ich bin ganz sicher – ihr werdet jeden Tag ein wenig mehr verstehen, was zum Reich Gottes passt. Aber jetzt kommt – ich war auch nicht untätig! Ich habe einen Krug guten Wein, Schafskäse, Oliven und einige Fladenbrote besorgt. Ich möchte mit euch feiern, weil ihr meine Freunde seid!“
Lektion 6
Lektion 5 – Arbeiter im Weinberg / nutzloser Feigenbaum (Erzählung)
Ein Gleichnis zur Gerechtigkeit im Neuen Testament
In der Bibel gibt es viele Denkanstöße, wie es im alltäglichen Leben gerecht zugehen kann. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg:
Ein Weinbergbesitzer stellt frühmorgens einige Arbeiter für die Traubenernte ein. Er vereinbart mit ihnen den Tageslohn von einem Silbergroschen.
Im Laufe des Tages bis zum Abend stellt der Weinbergbesitzer weitere Helfer an. Am
Ende des Arbeitstages bezahlt der Besitzer jedem Arbeiter einen Silbergroschen als Lohn.
Die Arbeiter, die den ganzen Tag geerntet haben, finden das ungerecht.
Aufgabe
Was ist unser Maßstab des Handelns im Alltag?
Was ist der Maßstab, nach dem der Weinbergsbesitzer handelt.
Streit im Gasthaus
Viele Erwachsene waren das nahe Gasthaus, gegangen. Der dicke Wirt Habakuk rieb sich die Hände vor Freude und lachte, dass sein Bauch auf und nieder hüpfte – solch ein gutes Geschäft hatte er schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Alle redeten durcheinander! Das einzige Gesprächsthema war Jeschua. Da kam er auch schon zur Tür herein; gleich hinter ihm schlüpften Julius und Benjamin in die Wirtschaft. Sie wollten kein Wort von Jeschuas Reden verpassen. In dem Gedränge fielen sie gar nicht auf. Jeschua bestellte ein großes Fladenbrot und einen Krug des besten Weines. „Geht auf meine Rechnung“, grunzte der Wirt. Da erhob sich der Bürgermeister. In der rechten Hand hielt er einen großen Holzlöffel; damit schlug er gegen seinen Weinkrug. Langsam wurde es ruhig, und Manasse holte tief Luft für seine Rede: „Wir haben ja viel von dir erwartet, Jeschua! Manche sagten, dass du der Messias bist. Aber ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich davon halten soll! Erst gibst du dich mit Barjona, diesem Nichtsnutz, ab. Jeder weiß, dass der nichts taugt. Er kann nichts, er leistet nichts – er lebt nur auf unsere Kosten. – Dann noch dieser Levi! Und auch die Sache mit den Kindern war wohl noch nicht so ganz das Wahre. Immer dies Getue um nutzlose Elemente der Gesellschaft! Du solltest dich wirklich mehr an die wertvollen Leute halten, die etwas für Gott und seine Gebote leisten!“ Aufgebracht fuchtelte der Bürgermeister mit dem Holzlöffel herum. Der Tagelöhner Ruben murmelte vor sich hin: „Wertvolle Menschen! Dabei denkt der Herr Bürgermeister wohl zuerst an sich selbst!“ Jeschua ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nach einer Weile sagte er: „Ich würde euch gerne noch eine Geschichte erzählen!“ „Nicht schon wieder“, stöhnte der Bauer Saul, „von der Landwirtschaft habe ich die Nase voll!“ „Warts nur ab“, erwiderte Jeschua und begann auch schon mit seiner Erzählung: „Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie mit einem Landbesitzer, der früh am Morgen auf den Markt ging, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. Er bot ihnen einen Denar als Tageslohn an; davon konnten sie ihre Familie einen Tag lang ernähren. Um die Mittagszeit ging er wieder auf den Markt und sah, dass noch Arbeiter warteten, weil niemand sie angeworben hatte. Auch sie schickte er in seinen Weinberg Ebenso machte er es am Nachmittag und sogar noch kurz vor Feierabend, weil immer noch Arbeitslose dasaßen, die bisher niemand gebrauchen konnte.“ „Schön dumm, dieser Weinbergbesitzer! Da sieht man doch wieder ganz deutlich, dass Jeschua keine Ahnung vom wirklichen Leben hat“, brummte Saul. Aber Jeschua fuhr unbeirrt fort: „Am Abend beauftragte der Weinbergbesitzer seinen Verwalter, die Arbeiter zu entlohnen. „Fange bei denen an, die zuletzt gekommen sind und gib ihnen einen Denar.“ Als die an der Reihe waren, die schon seit dem frühen Morgen gearbeitet hatten, dachten sie, sie würden mehr bekommen. Aber sie erhielten auch einen Denar. Das gab vielleicht einen Aufstand: „Das ist total ungerecht!“ rief einer. Aber der Besitzer sagte ruhig: Du hast doch bekommen, was ausgemacht war. Warum ärgerst du dich, weil ich den anderen auch gebe, was sie brauchen?“ So geht es im Reich Gottes zu“, schloss Jeschua seine Erzählung. Die Leute im Gasthaus hatten ganz ruhig und aufmerksam zugehört, selbst der Bauer Saul. Der Bürgermeister bekam sogar ein bisschen rote Ohren – er hatte anscheinend verstanden, was Jeschua mit seiner Geschichte sagen wollte. Trotzdem brummte er: „Ihr könnt sagen, was ihr wollt – für mich passt das alles nicht zu einem richtigen Messias. Wo kommen wir denn da hin, wenn jemand die ganze Ordnung auf den Kopf stellt?“ Ruben, der Tagelöhner, schlug Jeschua freundschaftlich auf den Rücken und grölte: „Du bist auf jeden Fall mein Messias. Mir gefallen alle deine Geschichten – denn es sind Geschichten für uns kleine Leute!“ Onkel Aaron, Aram, Ephraim und Jonathan murmelten: „Finde ich auch! – Ganz meine Meinung. – Gut gesprochen, Ruben!“ Aber niemand beachtete sie weiter. Julius boxte Benjamin kräftig in die Rippen: „Los, komm, das müssen wir Jakob erzählen. Er denkt doch immer, dass er nichts wert ist.“ Julius war Feuer und Flamme: „Ja, und jetzt hat Jeschua es doch ganz eindeutig gesagt: Bei Gott kommt es nicht darauf an, was ein Mensch leistet oder wie andere über ihn denken, sondern bei Gott ist es wichtig, was ein Mensch braucht.“ „Ja, klar!“ Benjamin strahlte. „Denk doch mal an Barjona. Da hat Jeschua auch nicht gefragt, warum er arm ist; sondern er hat ihm einfach geholfen, weil Barjona seine Hilfe dringend brauchte.“
Ein nutzloser Feigenbaum
Immer mehr Menschen in Kafarnaum kamen in den nächsten Tagen zu Jeschua. Sie suchten Rat und Hilfe bei ihm. Benjamin und Julius hielten sich meistens auch in der Nähe auf. Heute sahen sie schon von weitem, wie der Nachtwächter und Trompeter Hosea schleppend die Gasse hinaufstieg. Er zerrte einen dreckigen Jungen hinter sich her. „Das ist Tobias, sein Sohn“, erklärte Benjamin. „Der ist in ganz Kafarnaum berüchtigt – er ist frech und streitlustig, er hilft nie bei der Arbeit, und ich glaube, er klaut manchmal auch.“ Hosea nahm sich nicht einmal Zeit, um nach der Anstrengung zu verschnaufen. Mit hochrotem Kopf stand er mit Tobias vor Jeschua und keuchte: „Rabbi, schau dir diesen Nichtsnutz, meinen Sohn, an. Er bringt nur Schande über meine Familie: Den ganzen Tag faulenzt er oder treibt sich mit verrufenen Gesellen herum. Dabei war er einmal mein ganzer Stolz! Aber er hat mich schwer enttäuscht! Er ist ein Taugenichts, ein Nichtsnutz, ein hoffnungsloser Fall. Aus ihm wird nie etwas Rechtes werden! Rabbi – sag du mir, was ich noch tun kann. Wie lange soll ich mich noch um ihn bemühen? Es hat ja doch alles keinen Sinn. Er hört nicht auf mich, sondern lacht mich aus.“ Tobias stand mit hängendem Kopf da, während Jeschua sich Hoseas Klagen geduldig anhörte. Nun wandte Jeschua sich an Tobias: „Was passt dir denn nicht an deinem Vater?“ Bevor Tobias auch nur ein Wort sagen konnte, tobte Hosea los: „Was soll denn das? Mich sollst du beraten, Rabbi, und nicht diesem Lausebengel noch mehr Dummheiten beibringen. Am Schluss soll ich wohl noch schuld sein, dass aus ihm nichts Anständiges geworden ist? „Aber Jeschua ließ sich nicht beirren und wiederholte seine Frage. Benjamin und Julius hielten den Atem an. Was würde Tobias wohl sagen? „Früher haben mein Vater und ich uns eigentlich gut verstanden“, stotterte Tobias, „aber seit ein paar Jahren lässt er mir keine Ruhe mehr. Ständig nörgelt er an mir herum und lässt kein gutes Haar an mir.“ „Unglaublich“, brüllte Hosea, „dabei will ich ja nur dein Bestes!“ „Wie meinst du das, Hosea?“ wollte Jeschua wissen. „Du hörst ja, wie undankbar der Bengel ist. Da sorgt man sich Tag und Nacht um ihn und versucht alles, damit etwas Gescheites aus ihm wird – und was ist der Dank?“ „Kommt, setzt euch einen Moment zu mir“, sagte Jeschua und machte eine einladende Handbewegung. „Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.“ Benjamin und Julius spitzten die Ohren. Jeschua fing an zu erzählen: „Es war einmal ein Mann, der einen Feigenbaum besaß. Immer wieder sah er nach, ob der Baum Früchte trug, aber ohne Erfolg. Eines Tages sagte er zu seinem Gärtner: Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob der Feigenbaum Früchte trägt. Aber ich finde nichts. Hau ihn ab, damit er dem Boden nicht länger die Kraft nimmt. Da sagte der Gärtner: Bitte, lasse ihn dieses Jahr noch stehen, ich will den Boden lockern und düngen. Vielleicht trägt er dann doch noch Früchte. Wenn das auch nichts nützt, will ich ihn umhauen.“ „Jetzt habt ihr es alle gehört – umhauen sollte man ihn, denn er ist so unnütz wie der Feigenbaum“, polterte Hosea und zeigte auf Tobias. „Ich glaube, du hast nicht richtig zugehört, mein Freund“, lächelte Jeschua. „Der Gärtner in der Geschichte hat viel Geduld. Er bemüht sich auch dann noch um den Feigenbaum, als eigentlich schon alles vergebens erscheint. Und er weiß auch: Wachsen braucht seine Zeit.“ Aber was soll ich tun? stöhnt Hosea. Soll der Bengel denn machen, was er will?“ „Nein, das sicher nicht.“ Jeschua schaute Tobias an, „da gehören schon immer zwei dazu, wenn es gelingen soll. Der Gärtner kann zwar viel für den Baum tun – aber wachsen und Früchte tragen muss der Feigenbaum dann aus eigener Kraft. Und das gilt auch für dich, Tobias.“ Nachdenklich machten Hosea und Tobias sich auf den Heimweg.
Lektion 4 – Kindersegnung (Erzählung)
Was ist Segen?
Was würde Gott den Kindern Gutes wünschen?
Jeschua mag Kinder
Jeden Tag konnte man Jeschua jetzt in Kafarnaum treffen. Seine neuen Freunde Johannes, Andreas, Simon und Levi waren auch immer bei ihm. „Wir sind jetzt die Schüler von Rabbi Jeschua“, sagten sie stolz. Jeschua redete mit den Menschen und half ihnen. Immer mehr Leute kamen zusammen, weil sie ihm zuhören wollten, wenn er von Gott erzählte. Heute waren sogar der Rabbi und andere kluge Männer dabei. Es herrschte ein großes Gedränge auf dem Marktplatz! Benjamin und Julius waren mal wieder ganz vorn, weil sie sich so gut durchschlängeln konnten. Auf einmal wurde es hinter ihnen sehr unruhig. Sie reckten die Hälse: Was war denn nun wieder los? „Schau mal, Benjamin, da ist ja deine Mutter mit Hanna und Sara. Was wollen die denn hier?“ In diesem Augenblick drängten sich einige Mütter mit ihren Kindern nach vorn. Die ganz kleinen wurden von ihren Geschwistern auf dem Arm getragen, die größeren klammerten sich ängstlich an ihre Mütter. Einige Kinder plapperten, andere weinten, weil sie Angst vor den vielen Leuten hatten … – man konnte sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. „Jetzt gebt doch mal Ruhe“, schrie der Rabbi streng und fuchtelte wild mit den Fäusten, „bringt eure Kinder fort. Die stören nur! Hier geht es um ernste Glaubensfragen – da haben Frauen und Kinder überhaupt nichts zu suchen!“ Julius stieß Benjamin an: „Vorsicht – dem platzt gleich der Schädel! Wie der sich aufregt!“ „So einen roten Kopf habe ich lange nicht gesehen“, kicherte Benjamin.
Auch Johannes und die anderen Freunde von Jeschua wollten die Mütter mit ihren Kindern fortschicken: „Ihr seht doch, die Leute wollen Jeschua zuhören“, riefen sie unfreundlich. „Ihr habt mit euren kreischenden Bälgern hier nichts verloren!“ Aber die Mütter ließen sich nicht einfach abweisen. Jeschua hatte die Unruhe auch bemerkt und fragte eine Mutter freundlich: „Was wollt ihr denn?“ Zuerst sagte niemand etwas, aber dann fasste sich Susanna, die Tochter des Bürgermeisters Manasse, ein Herz: „Jeschua, wir glauben, dass du von Gott kommst. Darum möchten wir, dass du unsere Kinder segnest.“ Als die Männer das hörten, regten sich viele fürchterlich auf: „Unerhört! Frauen haben hier nichts zu suchen!“ Und der Rabbi brüllte noch einmal: „Euer Platz ist zu Hause. Geht jetzt heim und nehmt eure kleinen Gören mit!“ Aber die Frauen blieben einfach stehen. Jeschua hob die Hand und lächelte: „Bringt eure Kinder nur her. Und ihr zwei, wollt ihr auch kommen?“ Julius und Benjamin schauten sich erschrocken um: Waren etwa sie gemeint? „Ja, euch meine ich“, sagte Jeschua, „habt keine Angst! Ihr seid ja sonst auch fast immer bei mir.“ Alle Kinder standen um Jeschua herum. Er sprach mit ihnen, nahm sie in die Arme und sagte ihnen, was Gott ihnen Gutes wünscht. Auf dem Platz war es ganz still geworden. Jeschua sagte: „Ihr könnt etwas von euren Kindern lernen. Sie sind nicht misstrauisch, sondern kommen gern zu mir; sie freuen sich, wenn jemand sie liebhat, und stoßen ihn nicht zurück. Wenn alle Menschen sich so verhalten würden, könnten wir besser miteinander leben. Darum möchte Gott, dass alle so sind wie diese Kinder – auch die Erwachsenen!“ Aber der Schreiner Jonathan wollte sich nicht beruhigen: „Das ist völliger Unsinn!“ rief er, „so kleine Kinder verstehen doch nichts. Die können wir hier nicht brauchen.“ „Ganz richtig“ murmelten einige, aber der Töpfer Ephraim sagte: „Sprich endlich weiter, Rabbi, erzähl uns von Gott!“ „Gut. Hört zu!“ sagte Jeschua und setzte Hanna vorsichtig auf den Boden. „Seht, was ich in der Hand habe – ihr wisst schon, es ist Samen der Senfstaude. Dieses Samenkorn ist zwar kleiner als alle anderen; wenn es aber herangewachsen ist, so ist es größer als die Gartengewächse und wird ein Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten. So ist es auch mit dem Reich Gottes.“
Jetzt hatte der Bauer Saul endgültig genug: „Fängst du schon wieder mit deinen Geschichten von der Landwirtschaft an? Dafür brauche ich keine Predigt!“ Das fanden andere auch, und viele drehten sich auf der Stelle um, schüttelten den Kopf und gingen nach Hause. Die Frauen standen noch zusammen und redeten leise miteinander. Auch ein paar Männer blieben bei Jeschua stehen. Sie wussten nicht so recht, was sie von der Sache halten sollten. Benjamin und Julius sahen sich stumm an. Dann sagte Benjamin halblaut: „Das ist die beste Geschichte, die ich seit langem von einem Erwachsenen gehört habe! Toll – das mit dem Wachsen.“ Jakob, der alte Hirte, drehte sich zu Benjamin um: „Ja, hat mir auch gut gefallen, die Geschichte! Bei euch Jungen sieht man ja richtig, wie es mit dem Wachsen vorangeht. Eure Kleider sind immer gleich wieder zu klein, und neue Sandalen lohnen sich für euch erst gar nicht.“ „Ja, ja, das stimmt schon. Aber das ist alles nicht so wichtig“, fiel Julius ihm ins Wort. „Wir wachsen nämlich auch im Kopf!“ Jakob nickte bedächtig: „Ich kann mir schon denken, was du meinst.“ „Ja, Jakob, du verstehst uns schon. Aber die anderen Erwachsenen, die denken doch, wir sind klein und dumm und kapieren nie was. Und schon gar nicht, wenn es um ihre ernsten Gespräche geht: Um Politik und Glauben und …!“ Benjamin sah bedrückt aus. Julius sagte nichts. „Eigentlich hat er recht“, dachte er, „wenn ich ehrlich bin, komme ich mir manchmal wie ein unwichtiges Samenkörnchen vor.“ Der alte Jakob schien seine Gedanken zu erraten: „Niemand denkt daran, dass aus solch einem kleinen Samenkörnchen eine große, prächtige Pflanze werden kann. – Ich freue mich richtig, dass Jeschua von euch Kindern so viel erwartet. Denkt nur immer wieder an diese Geschichte, wenn ihr nicht beachtet werdet. Aber auch, wenn ihr euch selber nichts mehr zutraut, müsst ihr an die große Senfstaude denken!“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Ja, ja, ihr habt es gut. Euer Leben liegt noch vor euch. Für mich ist da nichts mehr zu erwarten.“ „Meinst du?“ Jeschua stand auf einmal hinter ihnen. „Erwartest du denn wirklich gar nichts mehr?“ „Hm, also …“, murmelte Jakob, „was soll ich denn groß erwarten? Du weißt doch, wie die Leute von uns Hirten denken. Und dann in meinem Alter …“ „Ja, da hast du schon recht, Jakob.“ Jeschua nickte. „Und trotzdem kannst du noch wachsen. Aber du musst es auch glauben. Wenn du denkst, es gibt nichts Neues und Interessantes mehr für dich, dann wird dein Leben schnell langweilig, und es passiert wirklich nichts mehr. Aber wenn du neugierig bleibst, wie deine beiden Freunde Benjamin und Julius hier, dann entdeckst du immer wieder etwas, das du nicht kennst – und dann kann sich auch bei dir noch vieles verändern. Dafür ist es ganz egal, ob jemand ein König oder ein Bettler ist, ob er gesund ist oder krank, angesehen oder verachtet.“ „Das stimmt!“ dachte Benjamin. „Das Senfkorn war ja auch zuerst ganz unscheinbar – und später ist ein schöner Baum aus ihm geworden.“ Jeschua nickte den dreien zu und ging wieder zu den Frauen hinüber.
Lektion 3 – Zöllner Levi / Das verlorene Schaf
Ein Skandal!
Der nächste Tag war drückend heiß in Kafarnaum. Benjamin und Julius halfen auf dem Feld. Jetzt nach der Ernte mussten die Felder für die nächste Aussaat vorbereitet werden – und das hieß vor allem: Steine sammeln! Immer wieder mussten sie sich bücken und die Brocken in die großen geflochtenen Körbe legen. Zu zweit schleppten sie die Steine dann zum Feldrand. „Gibt es auf diesem blöden Feld denn überhaupt noch was anderes als Steine? Benjamin stöhne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich weiß auch nicht, Benjamin … ein Wunder, dass auf dieser Geröllhalde überhaupt etwas wächst! Bei uns daheim sehen die Felder jedenfalls ganz anders aus.“ Vorsichtig richtete er sich auf und verzog das Gesicht: „Ich glaub, mein Kreuz bricht ab! Das ist ja noch anstrengender als die Erntearbeit! Sag mal, Benjamin, das ist doch keine Arbeit für deine Mutter und deine Schwestern … und schon gar nicht mehr für deine Großmutter!!“ „Ja, weißt du, Julius, darauf kann man bei uns keine Rücksicht nehmen. Hier müssen alle ran, denn schließlich leben wir von unseren Feldern. Wenn wir jetzt nicht alle mitarbeiten, werden wir später hungern! Und wenn es ganz schlimm kommt, müssen wir unsere Felder verkaufen – und dann geht es immer weiter bergab mit uns!“ Julius nickte bedrückt. Ohne viel zu reden, arbeiteten sie weiter. Auch mittags machten sie nur eine kurze Pause. Alle sehnten sich nach etwas Schatten, und sie hatten schrecklichen Durst. Der Tag wollte und wollte nicht zu Ende gehen. Sie waren todmüde, als sie sich abends auf den Heimweg machten. Doch endlich waren sie im Haus. Hier war es schön kühl; Samuel, Aram, Benjamin und Julius lagen auf den Schlafmatten und dösten. Sara war noch schnell zum Brunnen gelaufen, während Esther und Mirjam Zwiebeln und Lauch für das Abendessen vorbereiteten. Hanna turnte auf Großmutters Schoß herum. Plötzlich kam Sara ganz atemlos hereingestürzt: „Wisst ihr, was passiert ist?“ Aram sprang erschrocken auf und Esther ließ vor Schreck den Korb mit den Zwiebeln fallen. „Mach doch nicht so einen Lärm“, schimpfte Benjamin schläfrig. „Was ist denn mit dir los? Erzähl schon“, rief Julius. „Stellt euch vor … nein, das ist doch nicht möglich … ich kann es immer noch nicht glauben …!“ „Jetzt beruhige dich mal, Sara“, sagte Mirjam und nahm sie in den Arm. „Was ist denn passiert?“. „Ihr wist doch, dass einige junge Männer aus der Stadt sich überlegt haben, ob sie mit Jeschua gehen sollen. Und Johannes ist ja seit gestern fest entschlossen. Und Simon und Andreas gehen bestimmt auch noch mit.“ „Oh, toll. Wenn ich dürfte, würde ich da auch mitgehen“, seufzte Benjamin sehnsüchtig. Aber niemand achtete auf ihn, denn Sara erzählte aufgeregt weiter: „Aber es kommt noch besser. Jeschua hat inzwischen sogar noch jemanden gefragt, ob er mitgehen will. Das ist es ja!“ „Jetzt rück schon raus damit, mach es nicht so spannend. Wer ist es denn?“ drängelte Julius ungeduldig. „Ja, also, ihr erratet es nie! Es ist …“, Sara holte tief Luft: „Er hat Levi gefragt!“
Kaum hatte sie den Namen ‚Levi‘ ausgespro-chen, als schon alle durcheinander redeten: „Was, Levi, den Zöllner? – Unmöglich, das kann nicht sein! – Ausgerechnet diesen Gauner und Halunken!“, und Benjamin schrie: „Der spinnt!“ Julius wusste wieder einmal überhaupt nicht, worum es ging: „Was habt ihr denn bloß mit diesem Levi? Das ist doch ein ehrenwerter Mann!“ „Ehrenwerter Mann? Ja, für euch Römer vielleicht“, fauchte Benjamin, „für euch treibt er die Steuern ein, und in seinem eigenen Geldbeutel bleibt auch genug hängen! Jeder richtige Jude hasst die Zöllner, weil sie sich bereichern – und vor allem, weil sie mit den Römern gemeinsame Sache machen! Eigentlich sind an allem nur die blöden Römer schuld.“ Julius stand schweigend da und sah zu Boden. Jetzt erst fiel Benjamin auf, was er angerichtet hatte: „Entschuldige, Julius, mit dir ist das natürlich etwas anderes!“ Er knuffte seinem Freund kameradschaftlich in die Rippen. „Na ja, wenn das so ist“, meinte Julius, und Sara fiel ihm ins Wort: „Für mich steht jedenfalls fest, dass dieser Jeschua auf keinen Fall der Messias sein kann. Der ist kein großer Retter, höchstens ein großer Spinner! Ausgerechnet dieser Levi! Der ist das doch gar nicht wert, der hat sich längst von dem HERRN, unserem Gott, und auch von unserer Gemeinde abgesetzt.“ Alle redeten wieder wild durcheinander. Julius sah sehr nachdenklich aus. „Und wenn Jeschua gerade deswegen der Messias wäre, weil er sich Levi als Freund ausgesucht hat?“ fragte er leise – aber niemand hörte ihm zu.
99 + 1
Am nächsten Morgen waren Benjamin und Julius schon früh auf den Beinen. Sie wollten unbedingt alles mitbekommen, was dieser Jeschua tat. Auf dem Platz vor der Synagoge war fast die ganze Stadt versammelt. Auch viele Bauern und Hirten, die eigentlich dringend bei der Arbeit sein mussten, waren gekommen. Alle diskutierten aufgeregt über die Sache mit Levi. Da kam Jeschua; er war in der Synagoge gewesen. „Was denkst du dir eigentlich dabei?“ fuhr der Bürgermeister Manasse ihn an, „man könnte ja meinen, du bist jetzt für die Römer!“ Und Rabbi Maleachi fügte mit ernster Miene hinzu: „Wer Gott davonläuft, wie diese Zöllner, der muss wissen, was er damit tut! Wir wollen jedenfalls nichts mit so einem zu schaffen haben!“
Jeschua sagte erst einmal gar nichts. Das machte einige Leute noch wütender. Schließlich fing Jeschua an zu reden: „Wer unter euch, der hundert Schafe hat und eins von ihnen verliert, lässt nicht die 99 in der Steppe zurück und geht dem Verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er es gefunden hat, legt er es voller Freude auf seine Schulter; und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und seine Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ‚Freut euch mit mir! Denn ich habe mein Schaf gefunden, das verlorengegangen war‘. So verhält es sich auch mit dem Reich Gottes.“
„Unerhört!“ rief der Bauer Saul, „Geschichten aus der Landwirtschaft kennen wir selber! Der will uns wohl auf den Arm nehmen!“ Und Jakob, der alte Hirte, brummte: „So ein Blödsinn! Das macht doch kein Hirte! Der hat sicher noch nie eine Schafherde aus der Nähe gesehen! Wer lässt schon 99 Schafe einfach irgendwo stehen und sucht eins, das verlorengegangen ist?“ Aber Jeschua sagte nichts darauf. Benjamin und Julius sahen sich an. Sie mussten beide an das Gespräch vom Vorabend denken: „Ich sage nur Levi …“, murmelte Julius. „Wie meinst du das?“ Benjamin sah ihn von der Seite an. „Ja, mir ist schon gestern der Gedanke gekommen, ob Levi nicht eigentlich auch so einer ist wie Barjona – Levi gehört doch auch zu denen, die keiner mag, mit denen niemand etwas zu tun haben will.“ „Ja, da hast du eigentlich recht – so habe ich das noch gar nicht gesehen.“ Benjamin nickte. Eifrig fuhr Julius fort: „Genau – und Gott hilft dann auch dem Levi! Eben weil Jeschua ihm hilft! – Und deshalb ist Jeschua doch der Messias!“ „Glaubst du das wirklich?“ staunte Benjamin. „Ja, ich bin mir ziemlich sicher. Und die Geschichte gerade über die 99 Schafe – die passt haargenau dazu …!“ Julius strahlte. „Du meinst: Levi oder Barjona sind so ein Schaf, das verlorengegangen ist? Und Jeschua ist der Hirte, der es suchen geht?“ „Genau – wer verlorengeht, wird gesucht. Das passt zum Messias!“
Einige Menschen ärgerten sich darüber, dass Jesus sich mit Leuten abgab, die einen schlechten Ruf hatte . Da erzählte Jesus folgendes Gleichnis:
Nehmt einmal an einer von euch hätte hundert Schafe und eins ginge davon verloren, würdet ihr das verlorene Schaf nicht auch suchen? Da nicken alle, denn sie sahen ein: Ein guter Hirte würde immer nach seinen Schafen suchen. Da gab es keinen Zweifel. Jesus sprach weiter: „Dieser Hirte würde die 99 anderen Schafe auf dem Hügel zurück lassen und überall nach dem verlorenen Schaf suchen, bis er es gefunden hätte. Und wenn er es gefunden hätte, wäre er so froh. Er würde es auf seiner Schulter nach Hause tragen. Dann würde er alle seine Freunde und Nachbarn zusammenrufen und sagen: Kommt und feiert mit mir! Denn heute habe ich mein verlorenes Schaf wiedergefunden!“
Da rief Jesus der Menge zu: „So ist es auch bei Gott, er freut sich vielmehr über einen einzigen, der seine Fehler bereut, als über 99 Menschen, die sich für gut halten und meinen, dass sie in Ihrem Leben nichts ändern müssten.“
Lukas 15 – aus: Die große Kinderbibel, Pattloch, Englisch von Murray Watts
Zachäus lebt in Jericho. Er arbeitet als Steuereinnehmer für die Römer. Er hat schon viele Menschen geschickt um ihr Geld betrogen und war dabei sehr reich geworden. Die Leute spucken seine Haustür an, wenn Sie daran vorbeikommen, so sehr verachten sie ihn. Alle finden, er sei schlimmer als ein normaler Dieb, weil er den Armen das Geld aus der Tasche zieht. Deshalb will niemand in Jericho mit ihm zu tun haben. Er ist verhasster als die römische Armee, die das Land besetzt hält.
An diesem Tag hört Zachäus alle Menschen von Jesus schwärmen, der in die Stadt gekommen ist.
Das Gerede vom Messias aus Nazareth ist eigentlich nichts Neues für Zachäus. Doch nun packt ihn die Neugier. Jesus wird nie mit ihm sprechen, aber vielleicht kann er ja einen kurzen Blick auf ihn werfen. Zachäus schleicht sich unter die Menge. Hunderte von Menschen stehen ihm im Weg. Er ist sehr klein, so dass ihm die Menge wie eine riesige Mauer vorkommt. Da sieht er plötzlich einen Feigenbaum. Wie ein kleiner Junge klettert er bis zum höchsten Ast hinauf. Von dort aus wird er Jesus gut sehen können.
Als Jesus auf den Baum zukommt bleibt er plötzlich stehen. Er schaut nach oben und ruft: Zachäus! Zachäus kann gar nicht glauben, dass da jemand seinen Namen ruft. Sein Mund wird vor Aufregung trocken und er beginnt zu zittern. Jesus sieht nämlich geradewegs zu ihm hinauf.
Zachäus, ruft Jesus noch einmal, komm zu mir herunter. Ich will heute dein Gast sein.
In meinem Haus? Ja beeil dich! Zachäus klettert schnell vom Baum. Er weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll, so glücklich ist er. Er läuft schnell voraus und weist seine Diener an, ein Festessen zuzubereiten. Niemand in Jericho möchte glauben, was da vor sich geht. Was will Jesus denn mit so einem Gauner anfangen?
Plötzlich steht Zachäus auf, sieht Jesus in die Augen und verspricht vor allen Leuten: Herr ich werde die Hälfte von allem, was ich besitze, den Armen geben. Und allen, die ich betrogen habe, werde ich das Vierfache zurückzahlen!
aus: Die große Kinderbibel, Pattloch, Englisch von Murray Watts
Jesus besucht den Zöllner Zachäus
Als Jesus einmal nach Jericho kam, liefen viele Leute zu ihm, um ihn zu sehen und ihm zuzuhören. Das wollte sich auch Zachäus nicht entgehen lassen. Zachäus war ein Zöllner, der oft schon die Leute um ihr Geld betrogen hatte. Als er hinzukam, standen so viele Leute um Jesus herum, dass er ihn nicht sehen konnte. Er war einfach zu klein. Da stieg er auf einen Baum. Jetzt konnte er Jesus richtig sehen. Aber Jesus sah ihn auch. “Zachäus”, rief er, “komm schnell herunter! Ich will dich heute besuchen!” Da sprang Zachäus vom Baum herunter und führte Jesus zu seinem Haus. Die Leute aber ärgerten sich. Ausgerechnet diesen Zöllner wollte Jesus besuchen.
Lektion 2 – Jüngerberufung
Die große Neuigkeit
Benjamin und Julius waren kaum in den Hof eingebogen, da fingen Sara und Hanna auch schon an, neugierig auf sie einzureden: „Wie sieht er aus? Wie ein Engel? – Trägt er eine Krone, wie ein Himmelskönig? – Ist er auf einem weißen Esel geritten? – Hat er viele Diener und Sklavinnen? – Und seine Soldaten? Wie viele hatte er bei sich? – Was hat er gesagt? …“ Benjamin hielt sich die Ohren zu und rannte ins Haus; Julius sauste hinter ihm her. Aber die Mädchen ließen nicht locker: „Jetzt erzählt doch endlich.“ Esther mischte sich ein: „Lasst uns doch nicht so zappeln! Was habt ihr gehört und gesehen?“ Nun sprach Aram ein Machtwort: „Also los – wenn ihr schon überall dabei sein müsst, statt euch um eure Arbeit zu kümmern, wollen wir auch von den Neuigkeiten hören. Setzt euch hierher und erzählt!“ „Also – eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen! Dieser Jeschua ist ein ganz gewöhnlicher Mann. Kein Himmelskönig, kein weißer Esel, keine Engel…“. „Aber ein paar schöne Dienerinnen mit prächtigen Gewändern und glänzendem Schmuck und starke Soldaten hat er schon, oder?“ wollte Sara wissen, und Hanna rief dazwischen: „Habt ihr Posaunen vom Himmel gehört?“ „So ein Quatsch!“ Benjamin macht eine verächtliche Handbewegung. „Julius hat es doch schon gesagt: Jeschua ist ein ganz einfacher Mann. Seine Kleider sind so abgetragen wie unsere, und seine Freunde und Freundinnen sind auch nichts Besonderes.“ „Ja, aber viele sagen doch, dass dieser Jeschua der Messias ist- da muss doch irgendetwas Königliches an ihm sein!“ fragte Rebecca ungläubig. „Nein, ein König ist der ganz bestimmt nicht!“ sagte Benjamin entschlossen. „Aber er ist schon … nicht so wie die anderen, schon ein bisschen merkwürdig …“ meinte Julius. „Was willst du damit sagen? Ich verstehe kein Wort!“ Aram wurde langsam ungeduldig. Aber der Großvater nahm ihn in Schutz: „Jetzt lass den Jungen doch mal ausreden!“ „Er ist schon irgendwie ein König – aber eben nicht so ein richtiger – halt anders!“ versuchte Benjamin zu erklären. „Woran sieht man das denn?“ fragte Esther nach. „Ja, zum Beispiel daran: Er hat sich kein bisschen um die jubelnden Leute gekümmert und das Gewedel mit den Zweigen schien ihm eher lästig zu sein. Auch den Rabbi Maleachi und den Bürgermeister hat er kaum beachtet.“ „So ein Flegel!“ rief Sara. „Nein, nein, so einer ist er nicht!“ Julius war schon wieder ganz aufgeregt. „Aber ich glaube, er mag diese ‚hohen Tiere‘ einfach nicht so gern. Dafür hat er sich ganz lange mit Barjona unterhalten.“ „Was? Du meinst doch nicht den blinden Bettler, diesen alten Schmarotzer?“ Aram war richtig entsetzt. „Doch, natürlich – einen anderen Barjona gibt es hier ja nicht!“
„Ja, und dann hat er sich zu Barjona an den Straßenrand gesetzt und ihn umarmt …!“ Julius kam richtig in Fahrt. „Igitt, bäääh“, kreischte Hanna, „der stinkt!“ „Rabbi Jeschua hat das wohl nicht gestört?“ fragte Benjamins Mutter. Mirjam und Rebecca schüttelten ungläubig den Kopf. Und Aram wollte wissen: „Und was soll das Ganze? Was will dieser Jeschua damit bezwecken? Und – was hat Barjona davon?“ „Ich weiß auch nicht“, stotterte Benjamin, „aber es war schon was Besonderes – die Leute waren alle ganz still, und es war irgendwie ganz feierlich. Das kann man einfach nicht richtig erklären, das muss man miterlebt haben und …!“ Weiter kam Benjamin mit seinen Erklärungen nicht, denn in diesem Augenblick stürmte Onkel Aaron ins Haus. „Stellt euch vor“, keuchte er und ließ sich auf eine Matte fallen, „stellt euch vor, was passiert ist – alle reden nur noch darüber – so was hat es noch nie gegeben. Kafarnaum steht Kopf!“ „Um Himmels willen, was ist den los? Ist der Rabbi gestorben oder brennt die Synagoge?“ erkundigte sich Mirjam erschrocken. Sara und Hanna starrten Aaron entgeistert an – so hatten sie ihren Onkel noch nie erlebt! „Nein, das wäre ja alles halb so wild! Aber das mit Barjona, das …!“ „Hat er wieder geklaut?“ forschte Aram nach. „Nein, nein – es ist die Sensation! Barjona kann sehen! „Nein, das gibt es nicht! – Wie soll denn das gehen? – Unmöglich – Du hast wohl zu lange in der Sonne gesessen.“ Alle schrien durcheinander. „Wenn ich es euch doch sage! Ich habe selber mit Barjona gesprochen – es ist wirklich ein Wunder!“ „Aber wie ist denn das passiert?“ wollte die Großmutter wissen. „Es war Jeschua! Als er vorhin in die Stadt kam, hat er Barjona geheilt! Jeschua ist bestimmt der Messias!“ verkündete Onkel Aaron. „Das stimmt nicht, dass Jeschua Barjona geheilt hat!“ widersprach Julius, „wir waren ja dabei, als er in die Stadt kam. Er hat keine Zaubersprüche gesagt, und er hatte auch keine Heilkräuter dabei.“ „Das ist bei Barjona auch nicht nötig“, wetterte Aram, „denn der ist sowieso nie richtig blind gewesen. Das war doch schon immer ein fauler Trick.“ „Nein, so ist das nicht“, widersprach ihm Esther, „aber er hatte schon immer Probleme, vor allem mit seinem Vater, dem Gerber Jona. Er war ein schlechter Mensch und hat seinen Sohn immer geschlagen, selbst als der schon erwachsen war. Irgendwann hat Barjona dann angefangen zu trinken – und als er einmal sehr betrunken war, ist er mit dem Gesicht in einen dornigen Strauch gefallen. Seitdem ist er blind!“ „Jedenfalls ist er selber schuld an seinem Schicksal!“ polterte Aram weiter. „Und Rut hat doch erzählt, wie sie Barjona beobachtet hat: Er hat heimlich eine Münze aufgehoben, die am Wegrand lag. Also ist er doch nicht so blind!“ erzählte Sara. „Außerdem ist der so dreckig – wenn er sich mal richtig die Augen wäscht, wird er schon was sehen.“ „Aber warum sollte er betteln und auf der Straße leben, wenn er gar nicht blind ist?“ fragte Julius. „Er ist eben ein Schwindler!“ brummte Aram. Onkel Aaron schüttelte den Kopf: „Das glaube ich nicht. Ihr hättet sehen sollen, wie Barjona sich gefreut hat: Er tanzte auf der Straße und schrie immer wieder ‚Ich kann sehen, ich kann sehen – Jeschua hat mich geheilt!‘ Das war garantiert kein Schwindel!“ Mirjam nickte: „Vielleicht stimmt es ja. Es könnte doch sein, dass es für Barjona sehr wichtig war, dass Jeschua mit ihm gesprochen hat und ihn in den Arm genommen hat. Barjona hat doch sonst keinen Menschen, der mit ihm redet. Die Herzlichkeit, die er heute erlebt hat, könnte ihn gesund gemacht haben!“ Benjamin und Julius sahen sich an. Sie wussten wirklich nicht, was sie davon halten sollten.
Jeschua findet Freunde
In den nächsten Tagen waren Benjamin und Julius von morgens bis abends auf den Beinen, denn Jeschua hielt sich immer noch in der Stadt auf. Sie wichen nicht von seiner Seite und wollten unbedingt herausbekommen, was es mit diesem Mann auf sich hatte, den einige den Messias nannten. Immer wieder wurde Jeschua von Leuten aus Kafarnaum angesprochen; einige wollten einen Rat von ihm, andere suchten Hilfe, manche wollten einfach mit ihm sprechen. Und immer wieder fragten sich die Leute: ‚Ist er nun der Messias?‘
Gerade stand Jeschua mit einigen jungen Männern zusammen. Unter ihnen waren die Fischer Andreas, Simon und Johannes. Simon sagte eben: „Warum gibst du dich eigentlich mit so einem wie dem Barjona ab? Wenn du wirklich der Messias sein willst, solltest du den Bürgermeister besuchen und den Rabbi. Das macht Eindruck auf die Leute … – und das willst du doch, oder?“ Jeschua sagte: „Was meinst du, wer braucht eher Hilfe, der Bürgermeister oder der blinde Bettler?“ „Natürlich der Bettler“, meinte Andreas, „aber ein Messias kann sich doch nicht um jede Kleinigkeit kümmern. Da gibt es doch Wichtigeres als irgendeinen heruntergekommenen Menschen, der gerade mal wieder Hilfe braucht.“ „Meinst du?“ fragte Jeschua und lächelte Andreas freundlich zu. „Ich finde, es gibt überhaupt nichts Wichtigeres als einen Menschen, der Hilfe braucht.“ Benjamin und Julius hörten gespannt zu: „Dem hat er aber ganz schön die Meinung gesagt“, flüsterte Julius. Johannes wandte sich wieder an Jeschua: „Ich finde gut, was du sagst. Ich glaube, ich muss etwas Neues lernen. Deshalb möchte ich gern noch mehr von dir hören. Kann ich ein Stück mit dir gehen?“ „Das trifft sich gut“, Jeschua nickte ihm zu, „ich brauche nämlich dringend ein paar Freunde, die bei mir sind. Wisst ihr, es gibt so viele Menschen, die Hilfe und Liebe brauchen – das schaffe ich nicht allein.“ Benjamin und Julius hatten ganz aufmerksam zugehört. „Meinst du denn, dass Jeschua der Messias ist?“ flüsterte Julius. „Ich weiß es auch nicht, aber er ist nicht so, wie die anderen.“
Ist Jeschua der Messias?
Benjamin und Julius konnten es kaum erwarten, bis Vater und Großvater mittags vom Feld kamen, und sie ihnen erzählen konnten, was sie erlebt hatten. Kaum waren die beiden Männer im Hof, platzte Benjamin heraus: „Was ist das nur mit Jeschua? Warum kommen so viele Leute zu ihm? Und jetzt vergisst Johannes sogar seine Arbeit am See und will bei Jeschua bleiben. – Sag du uns doch, ob Jeschua der Messias ist, Vater!“ „Ich weiß es auch nicht genau. Aber feststeht: Er ist einer, der nicht an sich selbst denkt …! Er hilft allen, die ihn brauchen.“ „Klar“, sprudelte Julius heraus, und er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, „warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Jetzt weiß ich Bescheid!“ Benjamin schaute verwundert: „Wieso denn das auf einmal?“ „Mensch, Benjamin, denk doch mal an den Namen!“ „Ich weiß, dass er Jeschua heißt – und ich heiße Benjamin. Was soll daran so interessant sein? Gefällt dir der Name nicht?“ „Nein, nein!“ Julius wurde immer aufgeregter. „Du verstehst mich nicht! Dein Vater hat es uns doch neulich schon einmal erklärt: ‚Jeschua‘ heißt in eurer Sprache ‚Gott hilft‘! Alles klar?“ Benjamin schaute noch immer ziemlich ratlos. Samuel klopfte Julius anerkennend auf die Schulter: „Du bist ein schlaues Kerlchen. Das ist ein guter Gedanke. Wenn Jeschua Menschen hilft, dann hilft ihnen eigentlich Gott.“ „Ist Jeschua dann so eine Art Stellvertreter, der im Auftrag Gottes arbeitet? So wie mein Vater Cassius hier der Stellvertreter des römischen Kaisers ist und in seinem Namen handelt?“ „Ja“, nickte Aram, „so ähnlich kann man sich das wohl vorstellen.“ „Hm“, meinte Benjamin, „dann könnte Jeschua ja vielleicht wirklich der Messias sein!“
Lukas 5.
Eines Tages stand Jesus am Ufer des Sees Genezareth. Eine große Menschenmenge folgte ihm. Kinder liefen umher, manche Leute riefen ihm Fragen zu, andere winkten und versuchten so, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Alle wollten hören, was er zu sagen hatte. So viele drängten sich um ihn, dass Jesus kaum aufrecht stehen konnte. Am Ufer des Sees lagen zwei Fischerboote. Sie gehörten Andreas und seinem Bruder Simon Petrus, die gerade ihre Netze säuberten. Jesus rief ihnen zu, sie sollten ein Boot wieder losmachen. „Lasst uns ein wenig hinausfahren. Dann kann ich besser zu den Leuten sprechen“, sagte er. Von einem Boot aus predigen? So etwas hatte Simon Petrus noch nie gehört. Und dann noch von seinem Boot? Er schüttelte den Kopf, voller Staunen über diesen ungewöhnlichen Einfall dieses Jesus.
Sie stießen das Boot ein Stückchen vom Ufer ab: Simon, Andreas und Jesus. Und Jesus predigte viele Stunden lang zu den Menschen. Als er seine Predigt beendet hatte, wollte Simon das Boot wieder ans Ufer bringen. Doch Jesus bat ihn: „Fahr noch weiter auf den See hinaus!“ Simon wunderte sich: „Wozu denn, Herr?“ „Wirf mit deinem Bruder die Netze zum Fang aus!“ „Mitten am Tag?“ Simon und Andreas gingen immer nur nachts fischen. „Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen“, sagte Simon. Doch Jesus schaute ihn an, als wolle er sagen: „Hör auf mich!“ Da packte Simon seine Ruder und steuerte das Boot mitten auf den See Genezareth.
Die Fischer Jakobus und Johannes wunderten sich darüber, dass Andreas und Simon in der heißen Mittagssonne einen Fischzug wagen wollten. Plötzlich sahen sie, wie Andreas aufgeregt winkte und sie rief. Simon stand aufrecht im Boot und hielt die Netze gepackt, die zum Zerreißen mit Fischen gefüllt waren. Überall schimmerten silberne Schuppen im Sonnenlicht. „Jakobus, Johannes!“ Andreas machte seinen Freunden Zeichen. „Helft uns, sonst gehen wir mit den schweren Netzen noch unter!“ So schnell sie konnten, kamen die Freunde mit ihrem Boot herbei und nahmen die Hälfte der Fische an Bord. Dann ruderten sie gemeinsam zum Ufer zurück.
Die Fischer waren erschrocken darüber, dass sie am hellen Tag einen so großen Fang gemacht hatten. Simon fiel vor Jesus auf die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht. Da legte Jesus ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn freundlich an. „Hab keine Angst, Simon“, tröstete ihn Jesus. Dann sprach er zu den vier Fischern: „Kommt mit mir mit. Von jetzt an werdet ihr Menschenfischer sein!“
aus: Die große Kinderbibel, Pattloch, Englisch von Murray Watts
Lektion 1 – Bartimäus
Was siehst du im Bild?
Was fehlt dem Menschen?
Nicht allen geht es gut in Kafarnaum
Bei seinem Spaziergang rund um die Synagoge waren Julius Leute aufgefallen, die er bisher noch nicht bemerkt hatte. „Ist hier in der Nähe ein Lazarett?“ fragte er, „die Leute sehen alle krank und schwach aus.“ „Nein.“ Benjamin runzelte die Stirn, „so etwas haben wir nicht. Wer bei uns krank ist und keine Familie hat, die sich um ihn kümmert, ist schlecht dran. Der muss dann irgendwie für sich selbst sorgen. Viele setzen sich an die Straße und betteln. Manche, die eine besonders schlimme Krankheit haben, müssen sogar die Stadt verlassen; sie hausen dann in irgendwelchen Hütten oder Höhlen.“ „Was?“ Julius war empört. „Wenn bei uns ein Soldat krank wird, kommt er ins Lazarett und wird gut versorgt. Alle kümmern sich um ihn, damit er schnell wieder gesund wird!“ Benjamin schüttelte energisch den Kopf. „Ja, bei einfachen Krankheiten ist das schon in Ordnung – aber wenn jemand blind ist oder sogar eine schlimme, gefährliche Krankheit hat, muss man sich von ihm fernhalten. Bei den Leuten stimmt doch was nicht. Sie haben doch alle gegen Gottes Gesetze verstoßen! Sonst würden sie doch nicht so von Gott bestraft! Und mit solchen Leuten hat man besser nichts zu tun!“ Julius sah Benjamin entsetzt an: „Du meinst, sie sind selber schuld an ihrem Schicksal?“ „Na klar! Schau sie dir doch an – die sehen alle so komisch aus, so dreckig und stinkend!“ Benjamin war seiner Sache ganz sicher. Julius wurde richtig wütend: „Ist ja kein Wunder, dass sie so aussehen – wenn sie wie Tiere leben müssen; ach was – da haben es eure Tiere ja noch gut: Die dürfen ins Haus und werden versorgt …“ „Aber sie sind ja auch selber schuld“, beharrte Benjamin auf seiner Ansicht. In diesem Augenblick wurden sie durch eine laute Stimme unterbrochen: „Helft mir doch, Erbarmen!“ Da saß ein alter Mann am Straßenrand. „Ach, das ist nur der alte Barjona. Den kennt hier jeder.“ Benjamin machte eine abfällige Handbewegung. Barjona hatte eine dreckige Binde vor den Augen und sah ganz jämmerlich aus. Die Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, seine Kleidung war schmutzig und zerrissen. Immer wieder wischte er sich mit seinen schmierigen Händen die Fliegen aus dem Gesicht. Manche, die vorübergingen, warfen ihm eine Münze hin. Dann krächzte der alte Mann: „Dank, Freund. Der Messias wird dich für die gute Tat belohnen.“ Halblaut murmelte er vor sich hin: „Ach, wenn er doch bald kommen würde, um uns zu erlösen. Dann werde ich sicher auch wieder gesund! Niemand muss mehr Angst haben, alles wird gut.“ „Warum hilft denn keiner dem alten Mann?“ bohrte Julius schon wieder. „Dem ist nicht zu helfen. Ich habe es dir doch gerade schon erklärt: Entweder der Mann selber hat gegen Gottes Gesetze verstoßen – oder jemand aus seiner Familie! Und das ist jetzt seine gerechte Strafe!“ „Gibt es denn für ihn keine Rettung?“ Julius sah Benjamin erschrocken an. „Nein, eigentlich nicht. Vielleicht ist das einmal anders, wenn der Messias kommt …“
Nachdenklich gingen die Jungen zu Benjamins Haus. Dort weichte Tante Mirjam gerade Linsen für das Abendessen ein; der Vater war auch da. Er besserte zusammen mit dem Großvater den Dreschschlitten aus. „Darf ich etwas fragen?“ „Ja, gern, Julius.“ Benjamins Vater sah ihn freundlich an. „Wer ist eigentlich dieser Messias, von dem der alte Bettler sprach, der bei der Synagoge sitzt?“ „Weißt du, unserem Volk geht es nicht gut; wir sind arm und unfrei – das ist dir als römischer Junge ja nichts Neues.“ Julius wurde ein bisschen rot, aber Samuel erklärte ganz ruhig: „Wir hoffen, dass Gott uns einen Retter schickt, der uns befreien und erlösen wird. Er wird ein mächtiger und gerechter König sein – so wie unser großer König David vor langer Zeit.“ „Nein“, schrie Benjamin dazwischen, „der Messias ist noch viel mächtiger als der König David. Er kommt mit einer riesigen Himmelsarmee, und er wird uns befreien und alle Römer vertreiben und ins Meer jagen …!“ „Und was soll dann aus mir werden?“ jammerte Julius. „Na, bei dir macht er sicher eine Ausnahme!“ Benjamin grinste. Benjamins Vater fuhr fort: „Wir Juden hoffen, dass der Messias ein neues Reich aufbauen wird: Ein Königreich, in dem jeder gut leben kann, in dem es Frieden, Schalom, gibt!“ „Und wann kommt er, euer Messias?“ „Das weiß nur Gott allein“, erklärte der Vater ernst, „wir müssen warten und Geduld haben.“ Nun mischte sich auch Benjamins Mutter ein: „Viele erzählen sich Geschichten von Jeschua, dem Rabbi aus Nazaret.“ Julius fiel ihr ins Wort: „Jeschua? Das ist aber ein komischer Name!“ „Der Name ist nicht komisch!“ erklärte Rebecca, „Jeschua – oder: Jesus, wie ihr sagt – bedeutet in unserer Sprache: Gott hilft; das ist doch ein schöner Name, oder?“ Esther sprach weiter: „Und vor allem macht dieser Mann aus Nazaret seinem Namen alle Ehre. Er soll schon Menschen geheilt haben, und er spricht von Gott, unserem Vater im Himmel. Aber wie ich gehört habe, redet er ganz anders von Gott als unser Rabbi. Einige sagen sogar: Jeschua ist der Messias!“ „Und warum weiß man das nicht so genau?“ fragte Julius, „gibt es denn kein Zeichen, woran man ihn erkennen kann?“ „Ich bin auch unsicher“, sagte Benjamins Vater, „es wird über diesen Jeschua erzählt, dass er sich mit Bettlern und Kranken trifft und sie seine Freunde nennt; diese Leute haben wieder Hoffnung, weil sich endlich mal wieder jemand um sie kümmert. Und diese Menschen sagen natürlich: Das ist unser Messias!“ „Na, das ist ja klar – wenn ich ein Bettler wäre, dem Jesus geholfen hat, würde ich auch sagen: Er ist der Messias.“
Samuel nickte: Viele unserer Priester sind aber ganz anderer Meinung. Sie sagen: Dieser Jeschua ist verrückt – er spielt sich auf wie der Retter und beachtet unsere alten Gesetze nicht. Sie halten es für unmöglich, dass sich der richtige, große Messias um Arme, Bettler, Kranke und Krüppel kümmert. Dieser Jeschua ist ein Schwindler, sagen sie.“
Aufregung in Kafarnaum
Als Julius wieder einmal seinen Freund Benjamin besuchen wollte, herrschte ungewöhnlich viel Betrieb in den Gassen. Überall standen Leute und steckten die Köpfe zusammen. Alle redeten durcheinander: „Habt ihr schon gehört? – Rabbi Jeschua aus Nazaret kommt in unsere Stadt. – Den muss man gesehen haben! – Ja, es wird so viel über ihn erzählt …!“ „Das muss dieser Jeschua sein, von dem Benjamins Leute neulich gesprochen haben“, dachte Julius. Ganz aufgeregt lief er zu Benjamins Haus. Sein Freund kam ihm schon entgegen. „Los, das ist aufregend, wir müssen unbedingt dabei sein!“ Die beiden Jungen drängten sich durch die Menge nach vorn. Sie kamen gerade zur rechten Zeit. Eben stolzierte der Bürgermeister Manasse mit würdigen Schritten aus dem Rathaus und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Er setzte eine wichtige Miene auf und erkundigte sich mit dröhnender Stimme: „Was ist denn hier los?“ „Er kommt, er kommt!“ rief der Töpfer Ephraim und fuchtelte wild mit seinen lehmigen Händen vor dem Bürgermeister herum. „Ja, wir sind gerettet“, jubelte Ephraims Tochter Rut aus vollem Halse. „Hoffentlich kommt er bald, der Messias – ich will nicht mehr lange warten!“ fiel ihr Ruben, der Tagelöhner, ins Wort. „Ruhe!“ brüllte der Bürgermeister. „Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. – Also: Von wem redet ihr überhaupt?“ „Na, von Rabbi Jeschua aus Nazaret natürlich. Das weiß doch jedes Kind!“ Ruben bekam vor Aufregung einen ganz roten Kopf. „So, so, und der soll der Messias sein?“ Manasse zog die Augenbrauen hoch und blickte Ruben von oben herab an. „Woher willst denn du das wissen? – Da fragen wir doch lieber jemanden, der sich in solchen Fragen auskennt!“ Manasse zeigte mit seinem dicken Finger auf Rabbi Maleachi. „Hochwürdiger Rabbi, sagt Ihr doch, was von diesem Jeschua zu halten ist!“ Maleachi machte ein paar Schritte nach vorn und baute sich auf der Treppe neben dem Bürgermeister auf. Langsam blickte er von einem zum anderen und wartete, bis alle ganz, ganz still waren. Dann sagte er mit tiefer Stimme: „Ich rate zu größter Vorsicht! Zu wirklich allergrößter Vorsicht! Mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen. So mancher wurde schon als Messias gefeiert, doch am Ende entpuppte er sich als Hohlkopf und Schwindler.“ „Selber Hohlkopf“, murmelte Ruben, und Ephraim nickte ihm heimlich zu. „Man kann also gar nicht vorsichtig genug sein. Bevor der Hohe Rat in Jerusalem nicht alles geprüft hat, unternimmt man am besten nichts!“ schloss Rabbi Maleachi seine Rede. „Aber, was denkt Ihr, was meint Ihr, was sollen wir tun?“ stotterte der Bürgermeister. „Wir empfangen ihn mit allen Ehren, wie es zu einem berühmten Rabbi passt!“ schlug der Schreiner Jonathan nun vor. Fast alle Leute klatschten Beifall. „Endlich ist mal was los in unserem verschlafenen Nest“, rief der junge Fischer Simon. Und der dicke Wirt Habakuk rieb sich die Hände: „Das wird ein Fest!“ „Das sieht dir ähnlich“, maulte Rut. „Auf die Art kannst du deinen schlechten Wein teuer verkaufen und wirst dein altes Rauchfleisch los!“ „Ich meine, wir sollten es nicht übertreiben“, mischte sich der Bürgermeister wieder ein. „Schließlich haben wir selber auch einen bedeutenden Rabbi…“ „… und einen bedeutenden Bürgermeister!“ brummte der Bauer Saul. Schließlich einigte man sich auf einen herzlichen, aber nicht übertriebenen Empfang des Rabbi Jeschua. Alle gingen an die Arbeit. Die Frauen sammelten Abfälle ein und trugen sie vor die Stadtmauer. Einige holten ihre Festgewänder hervor und legten sie zum Lüften aus. Ruben wurde vom Bürgermeister angestellt: „Du gehst und schneidest Zweige, damit wir Jeschua damit zuwinken können!“ befahl Manasse. „Und du, Hosea, übst auf deiner Trompete.“ Selbst der Rabbi Maleachi ließ sich anstecken: Er suchte die wertvollste Torarolle heraus und legte sie zum Gottesdienst bereit. Aram, Saul und einige andere Bauern schichteten die Misthaufen vor ihren Häusern ordentlich auf und fegten den Hof. „Toll“, staunte Julius, „geht das bei euch immer so zu, wenn Besuch kommt?“ „Nein, so etwas habe ich selten erlebt. Ich weiß auch nicht, was an diesem Jeschua so Besonderes ist“, meinte Benjamin.
Jeschua kommt!
Am nächsten Morgen waren alle früh auf den Beinen. Auch Julius hatte sich zeitig bei Benjamin eingefunden, und zusammen rannten die beiden so schnell sie konnten zum Stadttor. Überall warteten die Menschen: „Wann wird er kommen? – Ob sich das Warten lohnt? – Wie sieht er wohl aus?“ Nur der Bürgermeister und der Rabbi, die Würdenträger der Stadt, waren noch nirgends zu sehen. Benjamin und Julius drängten sich nach vorn, damit ihnen auch ja nichts entging. Da – hört – ein Signal! Hosea stieß aus Leibeskräften in seine Trompete. „Er kommt, er kommt!“ riefen alle. Tatsächlich konnten Benjamin und Julius in der Ferne einige Leute sehen. Als die Gruppe näherkam, sahen sie vorne ein paar Freunde und Freundinnen von Jeschua. Dann endlich kam der Rabbi selbst. „Der sieht ja nicht gerade wie ein bedeutender Mann aus“, flüsterte Julius Benjamin zu, „eigentlich ganz normal!“ Die Menschen um sie herum fingen an, ihre Zweige zu schwenken und riefen laut: „Hosianna, hosianna, Jeschua!“ „Was heißt denn das wieder?“ wollte Julius wissen. „Das heißt so viel wie ‚Lasst uns Gottloben oder einfach ‚Gott sei Dank‘ in unserer Sprache!“ Der Trompeter Hosea stimmte seine feierlichste Melodie an – kurzum, es war ein Lärm, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Der Bürgermeister und der Rabbi wollten eigentlich eine kleine Begrüßungsrede halten, aber niemand achtete auf sie. Rabbi Jeschua lachte und winkte den Leuten zu – ihm schien der ganze Trubel nichts auszumachen. In dieses bunte Treiben mischte sich auf einmal eine krächzende Stimme: „Jeschua, Messias, hilf mir doch!“ Julius stieß Benjamin an: „Hast du das gehört? Ist das nicht die Stimme vom alten Barjona?“ „Ja – schau mal, dort drüben – da sitzt er. Wenn er nicht weggeht, wird er noch umgerissen! Aber was will er auch hier? Der stört doch nur!“ Und wirklich – der Blinde saß am Straßenrand! Vor lauter Menschen hatte ihn niemand beachtet. Jetzt drehten sich einige zu ihm um und fuhren ihn an: „Halt’s Maul, du Penner, verschwinde!“ Aber Barjona schrie immer lauter: „Jeschua, Messias, hilf mir doch, hab Erbarmen mit mir.“ Da blieb Jeschua stehen: „Was ist denn da los? Wer ist dieser Mann?“ „Ach, das ist bloß ein nichtsnutziger Bettler, der blinde Barjona“, winkte der Bürgermeister ab und befahl: „Schafft den Dreckskerl hier weg!“ Dann baute sich Manasse vor Jeschua auf und holte tief Luft, weil er jetzt endlich seine Rede halten wollte. „Hochverehrter Herr Rabbi …“, begann er – doch Jeschua hörte gar nicht hin und machte zwei Schritte auf Barjona zu. „Hochverehrter Herr Rabbi …!“ Manasse probierte es noch einmal, aber Jeschua sagte ganz ruhig: „Das hat Zeit – jetzt gibt es Wichtigeres zu tun.“ Julius und Benjamin hielten den Atem an. Was würde Jeschua jetzt machen? Würde er Barjona bestrafen, weil er so vorlaut war?
„Jeschua, Messias, hilf mir doch!“ ertönte es da schon wieder. Jeschua machte noch ein paar Schritte auf Barjona zu und sprach ihn an: „Wer bist du denn? Und woher kennst du mich?“ „Ich bin Barjona – ich bin ganz allein! Und du kannst mir helfen. Das weiß ich ganz sicher.“ Auf einmal waren alle ganz still. Jeschua setzte sich dicht neben Barjona an den Straßenrand. Er legte ihm den rechten Arm um die Schulter und sprach sehr leise mit Barjona. Nach einer Weile stand Jeschua auf und reichte Barjona die Hand. Der Blinde stand etwas unbeholfen auf. Jeschua umarmte ihn noch einmal – dann drehte er sich zu den Leuten um: „Dieser Mann hat großes Vertrauen zu mir, vielleicht mehr als ihr alle zusammen!“ Als Jeschua weiterging, hatte niemand mehr so recht Lust zum Jubeln. Viele blickten verlegen zu Boden, andere redeten aufgebracht miteinander. Der Bauer Saul polterte unüberhörbar: „Eins wissen wir jetzt wenigstens: Der ist garantiert nicht der Messias. So wie der sich benimmt! Umarmt einen stinkenden Bettler! Pfui, pfui!“ Julius sah Benjamin etwas ratlos an: „Hast du das mit dem Vertrauen verstanden? Dieser Rabbi Jeschua redet ja ganz schön in Rätseln.“ Benjamin nickte: „Ja, und sein Verhalten ist auch rätselhaft. Komm, wir gehen zu mir heim und fragen meinen Vater – der kennt sich da besser aus!“
Bartimaeus kann wieder sehen.
Bartimaeus war blind. Er hört die vielen Menschen, die vor Jesus hergingen, als er nach Jericho kam. Hunderte von Füßen rannten an ihm vorbei. „Was ist los?“ Murmelte er. „Wohin geht ihr? Wartet doch!“ Aber niemand nahm sich Zeit für ihn. Niemand achtete auf den Bettler, der am Straßenrand saß. Sie ließen ihn in seiner dunklen, einsamen Welt zurück. Die Staubwolken beachten ihn zum Husten. So viele Menschen …
Bartimaeus lauschte angespannt. Bald konnte er aus der Ferne eine Stimme ausmachen. Schwach hörte er sie „Jesus“! rufen. Dann rief noch jemand diesen Namen. Die Menschen jubelten. Bartimaeus sprang auf die Füße und schrie aus Leibeskräften: „Jesus, Sohn Davids, hab Mitleid mit mir!“ Einer der Vorübergehenden fuhr ihn an, er solle den Mund halten. Doch Bartimaeus schrie noch lauter: „Jesus, Sohn Davids, hab Mitleid mit mir.“ „Sei still!“ rief jemand vorn in der Menge. Nannte Bartimaeus Jesus doch tatsächlich Sohn Davids! David war Israels bedeutendster König gewesen. Sein Name stand nur dem größten aller Menschen zu: dem Messias, den Gott schicken würde, um das Volk zu retten.
Als Bartimäus Stimme endlich zu ihm durch die Menge drang, blieb Jesus plötzlich stehen. „Holt ihn her“, sagte er. Und die Leute riefen „Bartimaeus! Bartimaeus! Bartimaeus!“ „Nun geh schon“, sagte jemand. „Jesus möchte, dass du zu ihm kommst.“ Da warf der Blinde seinen Mantel ab. Und lief zu Jesus.
Als er endlich vor ihm stand, spürte Bartimaeus eine sanfte Berührung. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Was kann ich für dich tun“, fragte Jesus. „Herr“, antwortete Bartimaeus, „Ich möchte wieder sehen können.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Mach deine Augen auf. Dein Glaube hat dich geheilt.“
Ganz plötzlich von einer Sekunde zur anderen konnte Bartimaeus sehen. Um ihn herum standen Leute. Dahinter erkannte er die Felder Palmen, die Straßen von Jericho. Voller Verwunderung Schaute sich Bartimaeus die einfachsten Dinge an, als wäre er gerade erst auf die Welt gekommen: seine Finger, einen Gras sein auf der Erde.
Jesus lächelte ihn an und freute sich mit ihm. Bartimaeus lobte Gott aus vollem Herzen. Durch ganz Jericho lief er hinter Jesus her, hüpfte und sang. Noch vor ein paar Minuten hatten die Menschen ihn überhaupt nicht beachtet. Jetzt waren alle vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Keiner in Jericho konnte glauben, dass er tatsächlich der blinde Bettler vom Straßenrand war.
aus: Die große Kinderbibel, Pattloch, Englisch von Murray Watts
Aufgabe 1: Jesus und der Blinde – Schreibe einen Text zu jedem Bild
Aufgabe 2: Lerndomino Bartimäus
Aufgabe 3: Wachskratzbild