Station 1 – Ausmalen (Elisabeth von Thüringen)

Vor mehr als 700 Jahren wurde auf einer Burg im Lande Ungarn ein Mädchen geboren. Ihre Mutter war Königin Gertrud, sie kam aus Deutschland. Ihr Vater war König Andreas von Ungarn. Die Eltern nannten das Mädchen Elisabeth. Weil Elisabeths Eltern König und Königin waren, war sie eine Prinzessin. Die Burg des Königs von Ungarn, Elisabeths Heimat, ist prächtig: Die Zimmer sind mit bunten Teppichen ausgelegt, an den Wänden hängen viele Gemälde in schweren Holzrahmen. Die Sitzmöbel sind mit Leder oder Seide bezogen. In den Schränken glitzern Schüsseln und Platten aus Silber, funkeln edle Trinkgläser und feines Porzellangeschirr. Die Burg hat so viele Zimmer, dass Elisabeth am liebsten Verstecken mit den Dienerinnen spielt, wenn diese putzen und aufräumen und sich um die Wäsche und die Kleider der Königsfamilie kümmern.

Jeder Tag auf der Burg ist wie ein Festtag. Oft kommen Gäste. Nur die besten Speisen und Getränke kommen auf den Tisch: Vielerlei Fleisch, Gemüse, Obst und Kuchen, dunkelroter Wein aus Ungarn und frisches Quellwasser. Dienerinnen und Diener schleppen lautlos die schwerbeladenen Tabletts von der dunklen Küche hinauf in den großen Speisesaal. Musikanten spielen zur Unterhaltung und zum Tanz auf. Es ist ein prächtiges Leben auf der Burg. Die größte Freude aber hat Elisabeth an ihrem eigenen Pony, das sie mit drei Jahren bekommen hat. Nichts ist schöner, als auf ihm zu reiten.

Aber nur auf der großen Königsburg ist das Leben so unbeschwert. Unterhalb der Burg, in den Dörfern und Städtchen von Ungarn, leben die Menschen in kleinen Häusern und in armseligen Hütten. Besonders die Bauern sind arm. Sie arbeiten auf den Feldern des Königs und müssen fast alles, was sie dort ernten, auf der Burg abliefern. Für die Bauernfamilien bleibt nur sehr wenig zu essen übrig. Sie schlafen auf Strohsäcken am Boden, haben nur einen einfachen Tisch aus Holz mit Hockern drumherum, sie essen von Geschirr aus Ton mit Löffeln aus Holz. In einer Kiste wird die wenige Wäsche aufbewahrt. Wenn es eine schlechte Ernte gibt, herrscht bei den Bauern Hungersnot. Denn auch das Wenige, was die Bauern dann ernten, müssen sie auf der Burg abliefern. Auf der Königsburg hat deshalb keiner einen Mangel, aber die Bäuerinnen wissen oft nicht, wie sie ihre Kinder satt machen sollen.

Eines Tages – Elisabeth ist gerade vier Jahre alt geworden – kommen Gäste aus Deutschland zu Besuch. „Wir kommen im Auftrag des Landgrafen Herrmann vom Lande Thüringen“, stellen sich die Ritter vor. Sie bringen wertvolle Geschenke mit. Ein junger, freundlicher Ritter, er heißt Walter, schenkt Elisabeth einen goldenen Ball. Ritter Walter zeigt Elisabeth auch Spiele, die Kinder in Deutschland am liebsten spielen. Das gefällt Elisabeth und sie freundet sich mit Ritter Walter an. Einige Wochen vergehen.

Auf der Burg ist durch den Ritterbesuch aus Deutschland viel Betrieb entstanden: Die Mägde und Knechte schleppen Kisten und große Körbe treppauf und treppab. In die großen Kisten mit schön verzierten Eisenbeschlägen kommen Kleider und Wäsche, Schuhe und Schmuck. Die Körbe werden mit Geschirr und Silberbesteck gefüllt und verschnürt. König Andreas zählt Goldstücke in einen festen Lederbeutel. Elisabeth schaut dem Treiben neugierig zu. Sie ist gespannt, was das zu bedeuten hat. Vielleicht darf sie mit den Eltern verreisen? – Aber, bemerkt sie, es werden ja nur ihre Kleider eingepackt. Sie läuft zur Mutter und fragt: „Mama, warum werden nur meine Kleider und Schuhe in die Kisten gepackt?“ Königin Gertrud schaut ihre kleine Tochter ernst an. „Komm, setz dich hier zu mir auf deinen Stuhl, Kleines; ich will es dir erklären. Du sollst wissen, Kind, die Gäste aus Deutschland sind mit einem Auftrag vom Landgrafen Herrmann aus Thüringen gekommen. Der hat vier Söhne in deinem Alter. Der älteste von ihnen, er heißt wie sein Vater Herrmann, soll später einmal dein Mann werden. So werden unsere Familien miteinander verwandt, und was sie besitzen, und was wir besitzen, gehört dann zusammen. So werden wir noch viel reicher und mächtiger.“ Elisabeth schaut die Mutter mit großen Augen an. „Dein Vater und ich haben lange nachgedacht“, spricht die Mutter weiter. „Wir glauben, Elisabeth, dass es für dich das Beste ist, wenn du zusammen mit deinem künftigen Mann und mit seinen Brüdern aufwächst. Du wirst dich in Deutschland richtig einleben und wirst so eine Deutsche.“ „Muss ich allein fort, von dir und von Papa und von der Burg?“ „Ja, mein Kind, aber nicht allein. Ritter Walter, dein neuer Freund, hat mir und deinem Vater versprochen, dass er sich um dich kümmert, und dass er gut auf dich achtgeben wird.“ Elisabeth kann sich nicht recht vorstellen, wie das wohl werden würde.

Bald ist es soweit. Die letzte Kiste ist verschlossen, die Wagen sind beladen, die Pferde eingespannt. Die Reitpferde der Ritter sind gesattelt und dabei steht auch Elisabeths kleines Pony. Ein letztes Mal umarmen die Eltern die kleine Elisabeth dann hebt Ritter Walter das Mädchen auf das Pony und flüstert ihr ins Ohr: „Du musst keine Angst haben, Elisabeth, du bist nicht allein. Ich werde für dich sorgen, denn ich bin dein guter Freund. Glaube mir, es wird eine schöne Reise!“  Elisabeth versteht die Worte kaum, aber sie spürt, dass es gute Worte sind. Sie umarmt den Ritter, aber sie muss weinen dabei. Dann reiten sie los. Verschwommen sieht sie die Eltern, wie sie winken und immer kleiner werden. Lange schaut Elisabeth zurück, bis die Burg an einer Wegbiegung verschwindet.

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