Der Baum des Lebens
Nachdem Gott El die Welt erschaffen und mit seiner Frau Aschera unzähligen Götter gezeugt hatte, legte er am Fuße des Götterberges einen Weingarten an, um dort mit seiner Frau zu wohnen. In die Mitte des Gartens pflanzte El den Baum des Lebens. Immer wenn dieser Baum Früchte trug, rief El seine Kinder zusammen, um gemeinsam mit ihnen die Früchte zu ernten und zu essen. Auf diese Weise erneuerten die Götter ihre Kraft und ihre Jugend. Doch ohne Els Wissen, durfte niemand vom Baum des Lebens essen.
Als der Gott Horon, erkannte, wie abhängig er vom Wohlwollen des Göttervaters war, begann er El zu hassen und wollte ihm nicht länger vertrauen oder gehorchen. Er begann schlecht über seinen Vater zu reden und stachelte seine Geschwister gegen El auf. In seiner Boshaftigkeit plante Horon sogar einen Anschlag gegen seinen Vater, um ihn vom Thron zu stoßen und die Herrschaft an sich zu reißen.
Doch Horons Plan misslang. Wütend über den Ungehorsam und über die Respektlosigkeit seines Sohnes, rief El den Rat der Götter zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Er werde Horon vom Berg der Götter verbannen, aber nicht, bevor er die Meinungen der anderen Götter gehört hätte. Als alle Götter seinem Vorschlag zustimmten beschloss El den ungehorsamen Sohn zu verstoßen.
Nachdem Horon vom Berg der Götter verbannt war, sann er auf Rache. Noch war er mächtig genug, den Baum des Lebens im Weingarten seines Vaters in einen Baum des Todes zu verwandeln. Dazu setzte er die riesige Schlange Leviathan in den Garten. Die Schlange des Todes wickelte sich um den Baum des Lebens und begann ihn und alle Pflanzen des Gartens mit ihrem Speichel zu vergiften. Bald schon hüllte der Atem der Schlange die ganze Erde in einen giftigen Nebel und verdunkelte die Sonne.
„Irgendetwas stimmt nicht auf der Erde“, stellte El fest und rief den Rat der Götter erneut zusammen. „Der Baum des Lebens ist in Gefahr und damit auch unsere Unsterblichkeit. Einer von euch muss hinab auf die Erde gehen und gegen Horon kämpfen. Wer geht auf die Erde und rettet den Baum des Lebens?“ Da beschlossen die Götter, dass Adammu, der Gott der Erde, gehen solle, um die Schlange zu töten. Die Götter stärkten ihn mit ihrer Kraft und legten ihm die Erde mit all ihren Lebewesen in die Hand. Und sie schickten Adammu hinab in den zerstörten Weingarten der Götter, um das Leben auf der Erde wiederherzustellen.
Erbittert kämpften Adammu und der Leviathan, der Gott gegen die Schlange, die den Baum des Lebens vergiftet hatte. Bis aufs Blut kämpften sie, die beiden Urgewalten, in ihrer entscheidenden Schlacht. Und die Schlange spie ihr Gift und es tropfte Adammu von der Stirn und nahm ihm die Sicht und er verpasste es dem Leviathan auszuweichen.
Da gelang es der Schlange zuzubeißen, und sie fügte Adammu die Schlimmste aller Wunden zu. Adammu versuchte sich von den Zähnen der Schlange zu befreien, doch er scheiterte. Es gelang ihm nicht „den Beißer zu binden“ und sein Gift besiegt. Als Adammu die lähmende Wirkung des Giftes verspürte, als sein Fleisch von ihm fiel, begann er zu weinen wie ein Kind und er vergoss Tränen wie ein Säugling, der nach seiner Mutter ruft.
Und in den Wehen des Todes rief Adammu mit gebrochener Stimme nach Sapsu, der Göttin der Sonne und der Gerechtigkeit: „Schöpferin, warum bin ich auf dem Weg in den Tod? Rette mich, stelle mein Leben wieder her!“ Voller Mitleid rief Sapsu vom Himmel: „Warum ist das schiefgegangen mein Freund?“ Und Sapsu begann bitterlich zu weinen.
Und mit ihr weinte auch ihre Schwester Kubaba, die Mutter aller Lebenden, Adammus gutmütige Frau. Flehend wandte sie sich an Sapsu und rief: „Sammle doch den Nebel aus den Bergen, befreie doch die Erde von diesem Gift. Lass meinen Mann ins Leben zurückkehren. Und trage meine Klage auch zu El, denn eine giftige Schlage hat zugebissen und meinen Mann getötet. Bitte El den Schaden wieder gut zu machen. Ich will mich vor ihm niederwerfen und meine Dankbarkeit auf jede erdenkliche Weise zeigen.“
Da beschwor Sapsu die zwölf mächtigsten Götter die flüchtige Schlange zu finden, zu fesseln und zu töten. Doch anstelle der Schlange fanden sie Horon, der sich in den Resten des Lebensbaumes versteckte. Horons Gesicht wurde bleich, als die Götter ihn entdeckten und sie ihn zwangen, den vergifteten Baum zu entwurzeln und den Garten von dem Übel zu befreien. Da ging Horon los und reinigte jeden Baum, jeden Strauch, jeden Zweig und jedes Blatt. Und das Gift floss ab wie Wasser in einem Wassergraben, bis nur noch ein schwacher Rest im Garten übrigblieb. Zuletzt aber entfloh Horon nach Osten, um im Wüstenland Hauran zu wohnen.
Kubaba und Sapsu aber suchten nach dem Leichnam Adammus. Sie fanden den Leblosen im Garten liegen, wie in einen tiefen Schlaf gefallen. Doch wer konnte ihn wiedererwecken? Das Gift der Schlange hatte sich untrennbar mit seinem Fleisch und Blut verbunden. Da kam El selbst, der oberste der Götter, und beugte sich zu Adammu hernieder. Er blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase und erweckte ihn so zu einem lebendigen Wesen.
Da sprach El zu Kubaba: „Mein Geist kann nicht für immer in Adammu bleiben, weil sein Fleisch vergiftet ist. Daher kann er nicht für ewig leben. Sein endgültiger Tod ist unvermeidlich geworden, darum soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen. Weil er den Fluch des Todes in sich trägt, kann er auch nicht mit uns auf den Berg der Götter zurückkehren. Er kann aber hier im Garten bleiben, damit er ihm pflegt und bewahrt. Doch ist es nicht gut, wenn er allein im Garten bleibt.“ Da warf sich Kubaba, die gute Frau Adammus, vor ihrem Vater El nieder, dankte ihm, dass er ihren Mann ins Leben zurückgeholt hatte und bat ihn darum, bei ihm bleiben zu dürfen und sein Schicksal teilen.
Der Rat der Götter beschloss Kubabas Wunsch zu erfüllen und schickte „die Leben Schenkende“ zu Adammu. Mit ihr wird der nun Sterbliche Kinder haben, die ihrerseits Kinder haben werden. Auf diese Weise, so erzählen die Keilschrifttafeln aus Ugarit, werden die Töchter Adammus den Tod besiegen.