Station 1 – Ägypten: Atum-Re und Apophisschlange

Der Mythos von Heliopolis

Vor dem Anfang allen Anfangs war Nun. Nun war wie ein Meer, ein dunkles, wirbelndes Chaos. Es war ruhig und geräuschlos. Es dehnte sich unendlich in der Dunkelheit aus und es gab keinen Ort, denn alles war gleich und es gab nichts, was sich daraus hervorhob.

Plötzlich sprach eine Stimme in der Stille: „Ich bin Atum“. Gott Atum erschien. Er hatte sich selbst geschaffen, indem er seine Gedanken und die bloße Kraft seines Willens nutzte und seinen Namen laut aussprach. Sein leuchtendes Auge sandte Lichtstrahlen aus, die die Dunkelheit des Universums durchschnitten wie scharfe Schwerter und das weite, dunkle Wasser glitzern ließen, sodass Atum alles sehen konnte. So wurde das Chaos in Helligkeit und Dunkelheit aufgeteilt.

Atum flog über Nun hinweg und suchte nach einem Ort auf dem er stehen konnte, um sich auszuruhen. Denn um sich selbst zu schaffen, hatte er fast alle seine Kräfte aufgebraucht. „Es muss einen Ort geben“, rief er. Bei dem Klang dieser Worte erhob sich ein Hügel aus dem Wasser, so wie sich eine Lotosblüte am Morgen aus dem Wasser erhebt. Der Hügel war rund und glatt, wie eine Schulter. Atum ließ sich auf dem Hügel nieder und ruhte sich auf aus.

Atum war allein auf der Welt. Er war weder Frau noch Mann. Als er sich wieder stark fühlte, verband er sich mit seinem Schatten, um einen Sohn und eine Tochter hervorzubringen. Atum gebar seinen Sohn, indem er ihn ausnieste. Er nannte ihn Schu und machte ihn zum Gott des Windes und des Atems. Danach spuckte Atum seine Tochter aus. Er nannte sie Tefnut und machte sie zur Göttin der Feuchtigkeit und des Nebels. „Wenn ihr groß seid, werdet ihr die Welt erschaffen. Eure Kinder werden die Erde und der Himmel sein.“, sagte Atum zu seinen Kindern. Er zog sie voller Liebe auf und sein Auge hatte sie stets im Blick.

Eines Tages flogen Schu und Tefnut von zuhause fort und lachten und spielten zusammen, aber als sie müde wurden vom Spielen, merkten sie, dass sie nicht mehr wussten, wo sie waren. Sie fanden den Weg durch die Unendlichkeit nicht mehr zu Atum zurück.

Atum wartete ungeduldig auf Schu und Tefnut. Als sie nicht zurückkamen, sandte Atum in seiner Verzweiflung sein allsehendes Auge aus, um nach ihnen zu suchen. Lange wartete der nun blinde Atum. Langsam ließ er sich ein neues Auge wachsen. Er sah den Hügel unter sich und das Meer, das ihn umgab. In weiter Ferne sah er plötzlich einen Licht-schimmer. Es war sein erstes Auge, das Schu und Tefnut zu ihm zurückbrachte.

Doch als das Auge mit Schu und Tefnut näherkam, war es sehr erbost, weil Atum es mittlerweile durch ein anderes Auge ersetzt hatte! Der Schöpfergott beruhigte sein Auge und sagte: „Du wirst über den Himmel der neuen Welt wachen und ihr Licht sein. Du wirst Sonne genannt werden!“ Doch bis es soweit war, setzte er das Auge in seine Stirn. Dort verwandelte es sich in eine aufbäumende Kobra – die Uräusschlange – um ihn zukünftig vor bösen Mächten und Feinden zu schützen.

Als Schu und Tefnut erwachsen waren, wurden sie ein Paar. Von ihrem Vater Atum bekamen sie die Aufgabe, dem Chaos eine stabile Ordnung und Gesetze zu geben. Diese ewige Weltordnung wurde Maat genannt.

Tefnut gebar zwei Kinder: Geb, die Erde, und Nut, den Himmel. Geb und Nut hielten sich gegenseitig eng umschlungen, weil sie sich sehr liebten. Gemeinsam zeugten sie die Götterpaare Isis und Osiris, sowie Seth und Nephtis.

Doch ihr Vater Schu, der Gott der Luft, war mit der Liebe von Geb und Nut nicht einverstanden und stellte sich zwischen die beiden. Er hievte Nut mit seinen Händen weit nach oben. Dort sollte sie für immer über Geb gewölbt bleiben. Geb blieb liegen und wurde von den Händen und Füßen Nuts nach unten gedrückt. Beide sehnten sich danach zusammen zu sein, aber im Namen von Maat mussten sie getrennt bleiben, um ihre Funktion zu erfüllen. Jeden Morgen gebar Nut die Sonne aus ihrem Schoß und am Abend verschluckte sie die Sonne wieder mit ihrem Mund. Nut weinte und ihre Tränen fielen als Regen auf Geb. Daraufhin entstanden auf dem Rücken von Geb die Pflanzen. Der Erdboden bedeckte sich mit Bäumen und Blumen.

Die Menschen entstanden aus den Tränen Atums, als er sich über die Rückkehr seiner Kinder Schu und Tefnut freute. Seine Abbilder waren die Menschen, aus seinem Leibe gekommen. Um der Menschen willen wurden Himmel und Erde geschaffen. Für die Menschen hatte Atum die Sonne erschaffen, die Luft zum Atmen und die Pflanzen und das Vieh, die Vögel und Fische, um sie zu ernähren. Atum hatte sich ein Versteck gebaut hinter ihrem Rücken und wenn die Menschen weinten, so hörte er. Er schützte auch die Verstorbenen auf ihrer Reise durch die Unterwelt. Er setzte einen König ein, um die Rücken der Schwachen zu schützen. Der König hatte den Regeln Atums zu gehorchen und das Leid von den Menschen fernzuhalten.

Der Mythos von Atum-Re und Apophis

Atum-Re war der große Gott, der am Anfang aller Zeiten auf dem Urwasser Nun erschien. Sein Auge war die Sonne.

Jeden Tag fuhr Atum-Re mit der Sonnenbarke seinen Weg über die Horizonte. Morgens verließ er die Unterwelt im Osten und stieg in den Himmel hinauf. Am Tag erhellte sein Licht die Welt der Lebenden. Am Abend kehrte er im Westen zur Unterwelt zurück und nachts durchwanderte er die Unterwelt.

Doch die beiden Pforten zur Unterwelt wurden von der Riesenschlange Apophis bewacht. Jeden Morgen und jeden Abend stellt sie sich Atum-Re in den Weg, um seine Fahrt zu verhindern.

Atum-Re und seine Gefolgsleute griffen zu ihren Waffen. Sie kämpften mit der Schlange und schlugen Apophis in Stücke. Sie zertraten seine Wirbel und vergossen sein Blut. Durch das Blut der Schlange verfärbt sich der Himmel rot. Schließlich verbrannten sie ihn mit dem Feuer, das von dem Auge des Atum-Re ausging. Der Kopf von Apophis, in dem die Lanze des Atum-Re steckte, wurde an der Spitze des Bootes gebunden.

Und obwohl Atum-Re jedes Mal den Kampf gewann, lauerte Apophis dennoch bei der nächsten Pforte auf die Sonne, um ihren Weg aufzuhalten. Die Menschen können diesen Kampf tagtäglich beobachten, die Morgen- und die Abendröte.

Die Himmelskuh

Zu der Zeit, als die Götter noch auf Erden lebten, lehnten sich Menschen gegen die Götter auf und weigerten sich, sie mit Gebeten und Opfergaben zu preisen. Diese Menschen planten sogar Anschläge auf den Sonnengott Atum, denn er war mittlerweile sehr alt geworden.
Wütend über ihre Respektlosigkeit, berief Atum einen Götterrat zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Er hatte die Menschen mit seinen eigenen Tränen erschaffen und nun sprachen sie gegen ihn, beklagte er sich. Er werde die Menschheit auslöschen, aber nicht, bevor er die Meinungen der anderen Götter gehört hätte. Doch sie stimmten seinem Vorschlag zu und so beschloss Atum, die unwürdige Menschheit zu vernichten.

Die Göttin Hathor wurde dazu bestimmt, das grausame Werk zu verrichten. Sie nahm die Gestalt einer Löwin an und tötete jeden Menschen, der ihr in den Weg kam. Das Land war getränkt vom Blut und dem Leid der Menschen, die voller Respektlosigkeit gegenüber Atum und den Göttern gewesen waren. Und Hathor fand Gefallen an ihrem Werk.

Auch Atum war zuerst sehr zufrieden mit ihr, doch dann bekam er Mitleid mit den Menschen und bereute seine Entscheidung. Doch in ihrem Blutdurst dachte Hathor nicht daran, aufzuhören und der Nil färbte sich weiterhin rot von dem Blut der vielen Menschen, die sie abschlachtete.

Also ersann Atum einen Plan. Atum ließ große Mengen an Bier brauen, die er mit rotem Ocker vermischte. Die ganze Nacht wurde gearbeitet, bis schließlich 7000 Maß blutrotes Bier fertiggebraut waren. Atum befahl, den Trank auf die Erde zu schütten.

Am nächsten Morgen erwachte Hathor aus ihrem Schlaf und suchte, wie jeden Tag, nach neuen Opfern. Doch heute fand sie keine. Aber sie sah das viele Blut der Menschen, das in großen Bächen auf der Erde floss und sie beschloss, ihren Blutdurst damit zu stillen.

Nicht ahnend, dass es sich um Atums Gebräu handelte, trank sie davon. Und je mehr sie trank, umso mehr wollte sie davon, bis sie schließlich berauscht von dem Bier in einem tiefen Schlaf fiel. Ihr Blutdurst war für immer gestillt, die Menschheit war gerettet.

Atum befahl den Menschen das sie zur Erinnerung an dieses Ereignis jährlich ein Fest mit viel Bier feiern sollten. Atum selbst aber konnte nicht vergessen, was passiert war. Noch immer war er sehr enttäuscht von den Menschen und daher verließ er die Erde und lebte von nun an auf dem Rücken von Nut, der Göttin des Himmels.