Buch des Monats April 2012: Anfänge der jüdischen Mystik

Peter Schäfer: Die Ursprünge der jüdischen Mystik. Aus dem Amerikanischen von Claus Jürgen Thornton. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2011, 671 S. Register — ISBN 978-3-458-71037-0
Originaltitel: The Origins of Jewish Mysticism. 
Princeton University Press 2011
    Peter Schäfer arbeitete von 1974-1983 als Professor für Judaistik am Martin Buber-Institut der Universität zu Köln, 1983 wechselte er an die Freie Universität Berlin. Seit 1998 hat er zugleich die Ronald-O.-Perelman-Professur für Jüdische Studien an der Princeton University inne. Er gehört zu den international renommiertesten Judaistik-Forschern und erhielt 2007 den hoch dotierten Preis der “Andrew W. Mellon Foundation”.
Seine breit gefächerte Veröffentlichungsliste enthält u.a.:

— Geschichte der Juden in der Antike.
     Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur  arabischen Eroberung (
1983)
— Mirror of His Beauty: Feminine Images of God from the Bible to the Early Kabbalah(2004)
— Wege mystischer Gotteserfahrung : Judentum, Christentum und Islam (
2006)
Jesus im Talmud (2007)
—-
The Jewish Jesus. How Judaism and Christianity Shaped Each Other (2012)


Die Geschichte der jüdischen Mystik vor der Kabbala ist erstaunlicherweise bislang noch nicht geschrieben worden. Peter Schäfer greift mit seinem Werk hier gezielt ein. Trotz seiner gut verständlichen Sprache werden diejenigen, die nicht mit der Materie vertraut sind, den Spannungsbogen und die facettenreichen exegetischen Details zwischen jüdischer Apokalyptik, Auslegung der nachbiblischen Traditionen und Mystik nicht immer leicht durchschauen. Denn der weite Weg beginnt mit einer ungewohnten Sicht auf die apokalyptisch geprägte Thronwagenvision des Propheten Ezechiel (Kap. 1) hin zu den sog. apokryphen Henoch-Schriften. Weiterhin stellt Schäfer Qumran, Philo von Alexandrien vor und endet bei der der vorkabbalistischen Merkava(Merkaba)-Mystik. Die vielen Zitate, die die Intentionen von Verfassern und Redaktoren verdeutlichen, belegen auch die Intentionen der einzelnen Schriften.      
Ausgesprochen hilfreich zur Orientierung sind die zusammenfassenden Ergebnisse
(S. 447-482). Die historisch-exegetischen und literarkritischen Details sind in einem ausführlichen Anmerkungsteil untergebracht (S. 483-598).
Die schwierige Einschätzung von den Anfängen der Kabbala im Europa des 12. Jahrhunderts geschieht dabei unter Bezug auf frühere Entwicklungslinien. Das ernüchternde Fazit: 
Es lässt sich kein präzises Ergebnis ausmachen: Die Ursprünge der jüdischen Mystik bleiben letztlich im Dunkel. So überlegt Schäfer auch im Diskurs und teilweiser deutlicher Abgrenzung von anderen Forschern, seit wann man überhaupt von jüdischer Mystik sprechen kann. Die Geschichte von der jüdischen Apokalyptik über die Qumran-Rollen bis hin zur sog. mystischen Hekhalot-Literatur der Spätantike stellt sich durchaus als Konglomerat verschiedener Strömungen dar.
Über die historische Aufarbeitung hinaus zeigt die Lektüre der herangezogenen Texte etwas Grundsätzliches: Menschen treiben immer wieder fragend die Sehnsucht weiter, wie man Gott nahe kommen oder in sich aufnehmen kann. Das führt auch dazu, dass Schäfer nicht „definiert“, sondern „jüdische Mystik“ durch entsprechende Annäherungen umschreibt und sich gegen eine allgemeine Kategorie „Mystik“ wehrt. Das hängt schließlich damit zusammen, dass mystische Formen sich aus unterschiedlichen „cultural, religious and historical settings“ entwickelt haben. „Wir sollten auch nicht vergessen, daß das, was wir Mystik nennen, kein Äquivalent in irgendeiner der Sprachen hat, in denen unsere Quellen erhalten sind“ (S. 481).
Dieser Erkenntnis folgend, ergibt sich für die von Schäfer vorgestellten und kommentierten Texte immerhin eine systematische Entwicklungslinie in acht Abschnitten mit einer Bilanz im 9. Abschnitt.
1.  Der alttestamentliche Prophet Ezechiel  (6. Jh. v. Chr.) erlebt eine intensive Berufungsvision (Ezechiel [Hesekiel] 1), gewissermaßen unter kosmischen Bedingungen. Das Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes in diesem von himmlischen Wesen gezogenen Thronwagen ist zugleich eine Annäherung an Gott:   
„Der Gott, der Ezechiel erscheint, ist der Gott der Erzväter, der Gott des Universums, der (noch) nicht auf den Tempel beschränkt ist“ (S. 81).
2./3.  Henoch und sein Kreis, der Aufstieg zum Himmel und Henochs geistige Gefährten in der Bibel und in der nachbiblischen Wirkungsgeschichte: Es geht um die Prägung der Henoch-Vision durch diejenige Ezechiels. Im sog. Wächterbuch erfolgt eine strahlende Vision des „Großen“ (S. 93) mit seinen Engeln. Im Testament Levis, dem Jakobssohn, wird u.a. seiner Weihe zum Priester nachgegangen. Er verweist auf den eschatologischen Priester angesichts korrumpierter irdischer Priester. Schließlich beschäftigt sich Schäfer noch mit den Bilderreden Henochs, um dann das slawische Henochbuchvorzustellen. Die Apokalypse Abrahamszeigt die  Verwandlung des Erzvaters in einen Engel im Gegensatz zum götzendienerischen Verhalten des Volkes Israel. So wurde der Tempel zerstört, aber eine schwache Hoffnung bleibt. In den Apokalypsen der Propheten Jesaja und Zephanja wird das künftige Schicksal des Einzelnen betont. Auch Jesaja wird in seiner Schau engelgleich bei seinem Aufstieg bis zum 7. Himmel, aber es bleibt bei ihm ein Erdenbezug. Hier zieht Schäfer im Sinne der geistigen Gefährten Henochs noch die neutestamentliche Johannesapokalypse heran, die für die spätere Merkava-Mystik eine große Rolle spielt.
4.  Der vierte große Block wird durch die Qumran-Literatur geprägt. Hier hebt Schäfer nach der geschichtlichen Einleitung hervor: Qumran als Gemeinschaft von wahren Priestern, als eine Gemeinschaft mit den Engeln. Diese werden die Gemeinde auch in der (zu erwartenden) eschatologischen Schlacht begleiten. Qumran ist jedoch zugleich auch eine liturgische Gemeinschaft mit Engeln. Angesichts der vielen Spekulationen um die Gemeinschaft von Qumran ist dies ein spannender, aber auch ernüchternder Zugang im Blick auf die wirkungsgeschichtliche Bedeutung derjenigen Texte, die die Qumaran-Gemeinschaft prägten: Damaskusschrift, Gemeinderegel, Hymnenrolle, Kriegsrolle
Der Autor hebt zur Verdeutlichung besonders die Sabbatopferlieder, und den Selbstverherrlichungshymnus (vermutlich vom wieder erstandenen „Lehrer der Gerechtigkeit“) hervor. Auch hier das ernüchternde Fazit: „Nichts in den Texten von Qumran erlaubt uns, die Vorstellung einer unio mystica, einer mystischen Vereinigung mit Gott, in sie hineinzulesen, eine Kategorie, die von Religionshistorikern (besonders solchen mit christlichen Hintergrund) hochgehalten wird“ (S. 215).
5.  Mit dem Zeitgenossen Jesu, dem Philosophen Philo von Alexandria, verlässt Schäfer die apokalyptische Szenerie und geht auf die absolute Transzendenz von Philos Gott und seiner Vielgestaltigkeit ein, die sich im Logos manifestiert. Im Blick auf den Menschen unterscheidet der Philosoph zwischen Leib, Seele, Sinne und Geist. Mystisches klingt bei der Gotteserkenntnis sowie in der Bildsprache Philos an, und zwar durch die Verwandlung der Seele in ein göttliches Wesen.
6./7. Ausführlich kommt Schäfer in diesen beiden Kapiteln auf die Exegese der Rabbinen zu sprechen: Bearbeitung, Auslegung und Ergänzungen zum biblischen Kanon von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter. Es geht um Gottesannäherung durch Exegese ohne Himmelsreise, und zwar durch Auslegung der Tora und mit Hilfe der Fixierung mündlicher Traditionen in der Mischna. Sie bilden die Grundlage für den Babylonischen und Jerusalemer Talmud. Hinzu kommen die Ergänzungen in der Tosefta. Man darf sie sicher auch als Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. sehen. Natürlich blickt Schäfer wiederum auf die Vision von Ezechiel 1 und den Fortgang dieser Auslegungsgeschichte, die sich nun zu einer Auslegungskette verfestigt. Damit hat sich der Autor die Basis für die sog. Merkava-Literatur gelegt, in der es letztlich darum geht, die verdichtende „Anschauung“ auf Gottes Thron zu entschärfen, vielleicht darf man sogar sagen zu rationalisieren. Die beiden Talmude mit ihren aufschlussreichen redaktionellen Bearbeitungen und erweiterten Geschichten machen eine anti-apokalyptische und anti-ekstatische Tendenz deutlich.
8. Durch diese Kritik der vor-kabbalistischen Strömungen im Judentum lohnt es nun diese Merkava-Mystiker genauer zu untersuchen, deren letzte Formen bis ins 9. Jahrhundert reichen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den sog. Gedulla- und Quedusha-Hymnen, die diese Aufstiege (in einer Reihe von Aufstiegsberichten) zur Gottesschau beschreiben und den Mystiker an die Seite Gottes rücken. Märtyrer-Erzählungen bekommen angesichts messianischer Heilserwartung verstärktes Gewicht. Auf dem Weg zum „Aufstieg in die Thronwelt“, müssen diverse Schwellen überschritten und Gefahrensituationen ausgestanden werden. Und vieles erinnert an ähnliche Vorstellungen aus der weit gefächerten Gnosis und dem Neuplatonismus. Nicht der Exeget steht mehr im Mittelpunkt des Verstehenwollens, sondern der Adept. Es kann hier nicht auf diese umfassende Darstellung der Merkava-Mystiker und der Hekhalot-Literatur bis hin zum 3. Henoch eingegangen werden. Schäfer zieht das Fazit: Angesichts der Unterscheidung von Körper und Seele (was sowohl für den Mystiker wie die Gottesvorstellung gilt) in der Hekhalot-Literatur bis hin zum magischen Gebrauch des Gottesnamens führen diese (spekulativen) Auslegungstendenzen letztlich wieder zurück in die Apokalyptik.
9.  Ergebnisse:  
Insgesamt stellt sich eine differenzierte Vielfalt von Verständnisweisen der sog. Thronwagenmystik dar, ohne dass der Rezensent sagen kann, alle Verästelungen früher jüdischer Mystik-Vorstellungen wirklich nachvollziehen zu können. Die Visionen des Aufstiegs zu Gott treiben menschliche Sehnsüchte dazu, Gott oder dem Göttlichen apokalyptisch, ekstatisch oder eher rationalistisch-exegetisch nahe zu kommen. Damit bleiben solche Suchbewegungen letztlich offen. Es werden nicht einmal ansatzweise endgültige Antworten gegeben. Peter Schäfer ist diesen durchweg zu hinterfragenden Antworten der Gottes-Annäherungen im spätantiken-frühmittelalterlichen Judentum mit ausführlicher und präzis bohrender Schärfe nachgegangen. Er hat mit dieser umfassenden und detailgenauen Abhandlung eine bisher bestehende Lücke im Klärungsprozess mystischer Literatur des spätantiken und mittelalterlichen Judentums geschlossen.
Wer sich durch das wahrhaftig nicht leicht zu lesende Werk von Peter Schäfer durchgearbeitet hat, besonders wenn er oder sie kein Spezialist jüdischer religiöser Literatur für Apokalyptik, Rabbinen-Exegese und vor-kabbalistischer Mystik ist, wird als aufmerksame/r Bibelleser/in die symbolträchtige Apokalyptik des Alten und Neuen Testaments in einem neuen, oft ungewohnten Lichte sehen. Gott bleibt das große Geheimnis und alle erklärende Begrifflichkeit gerät vor diesem Geheimnis an eine nicht zu überwindende Grenze.
Reinhard Kirste
Buch des Monats April 2012