Credo 3

Grünewald will die Betrachter mit Schmerz erfüllen. Der überlange Zeigefinger des Johannes des Täufers deutet auf den gefolterten Jesus, der Apostel Johannes stützt die Schmerzensmutter Maria, und Maria Magdalena kniet flehend im Gebet.

Ich glaube an Jesus Christus,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben.

Die radikal andere Lebenszumutung

Stark schematisiert läßt sich sagen: Ist Buddha der Prototyp des Erleuchteten, des Meisters der Meditation und der mönchischen Weltentsagung, so ist Konfuzius der Prototyp des fernöstlichen Weisen, der Garant einer moralischen Weltordnung, die ein Leben in Harmonie von Mensch und Mitmensch, von Mensch und Natur anstrebt.
Prototyp des Propheten und Leitfigur für ein Leben nach Gottes geschriebener Weisung (Tora) in dieser Welt ist Mose, der zu einer sittlichen Weltbemächtigung aufruft. Und Muhammad ist die Symbolgestalt für eine Religion, die auch die Gesellschaft ganz durchdringen will und die in Welteroberung auf die Einrichtung theokratischer Staaten ausgerichtet ist.
Steht der Christus inmitten dieser maßgebenden religiösen Gestalten der Menschheit, so ist er doch als der Leidende schlechthin radikal anders. Welche Monstrosität, ja, Absurdität mutet die christliche Botschaft der Welt zu: das Marterkreuz als Lebens-, Heils- und Siegeszeichen!
Kreuzesnachfolge meint nicht: akzeptierte Unmündigkeit, kultische Anbetung, Selbstfindung durch Bewußtmachung des Unbewußten oder wortwörtliche ethische Nachahmung des Lebensweges Jesu. Kreuzesnachfolge meint schlicht – nach der Wegweisung Jesu –, das eigene Lebenskreuz auf sich nehmen, das »die Annahme seiner selbst« (Romano Guardini) und seines »Schattens« (C. G. Jung) mit einschließt.

Ein politischer Revolutionär?

Jesus war kein Mann des jüdischen Establishments, er war weder Priester noch Theologe, er war ein »Laie«. Die Evangelien zeigen uns einen klarsichtigen, entschlossenen, unbeugsamen und streitbaren, in jedem Fall aber furchtlosen Jesus. Aber er war kein Prediger von Gewalt. Er sagte nein zu einer zionistisch-messianischen Revolution, nein zu Steuerboykott und Klassenkampf, nein zu nationalem Befreiungskrieg und Aufhebung des Gesetzes.
Vielmehr hatte er Mut zu prophetischer Provoka-tion, wie die Szene der Tempelreinigung es verdeutlicht. Seine Botschaft zielt auf einen Verzicht von Gewalt. In seiner praktizierten Güte war Jesus aber revolutionärer als die Revolutionäre: Heilen und Trösten! Bedingungslose Vergebung! Bereitschaft zum Leiden! Seligpreisung der Friedfertigen! Liebe zu den Feinden!

Ein Asket und Mönch?

Seit der Entdeckung des jüdischen Klosters Qumran am Toten Meer und vieler Schriftrollen (1947) haben Forscher Verbindungen zwischen den frommen Essenern aus Qumran und dem Täufer Johannes sowie Jesus finden wollen. Nach den Evangelien aber war Jesus kein hochgeistiger Ordensmann und kein asketischer Mönch. Er lebte nicht abgesondert von der Welt, war kein Gesetzeseiferer und predigte anders als die Qumranmönche keine Zweiteilung der Menschheit in Gute und Böse. Jeder kann umkehren, allen wird Vergebung angeboten!

Ein frommer Pharisäer?

Die Pharisäer versuchten, die Tora, Gottes Gebote mit dem gelebten Alltag zu harmonisieren. Sie wollten das Gewissen der Menschen entlasten, ihnen Sicherheit geben; wollten genau bestimmen, wie weit man gehen dürfe, ohne zu sündigen.

Mit Pharisäern stand Jesus in Verbindung und hatte nach dem Lukasevangelium auch Tischgemeinschaft mit ihnen. Auch weisen die meisten Verse der Bergpredigt irgendwelche rabbinischen Parallelen auf. So wie für die Pharisäer, so stand auch für Jesus die Autorität des Mose nicht in Frage. Man hätte die Gemeinsamkeiten Jesu mit den Pharisäern nie übersehen dürfen: Auch er wollte die Tora nicht abschaffen, nicht aufheben, er wollte sie »erfüllen«. Das heißt aber für Jesus, das Gesetz Gottes vertiefen, konzentrieren und radikalisieren. Gottes Wille soll geschehen, und der zielt auf das Wohl der Menschen: Liebe ist Kern und Richtmaß des Gesetzes.

Die 613 Gebote und Verbote des Gesetzes, den Pharisäern so wichtig, waren nicht das, was Jesus einschärfen wollte. Nirgendwo fordert er seine Jünger zum Tora-Studium auf. Jesus ist im Vergleich zu allen Pharisäern von erstaunlicher Unbefangenheit und Laxheit! Ihm ging es nicht um die Einhaltung der Tora um ihrer selbst willen, sondern um das Wohl des konkreten Menschen. Ausdehnung der Nächstenliebe über die Volksgenossen hinaus, auch auf die Feinde. Und wie? Durch Vergebung ohne Grenzen. Durch Verzicht auf Macht und Recht ohne Gegenleistung. Durch einen Dienst ohne Über- und Unterordnung. In seiner ganzen religiösen Grundhaltung war Jesus anders: Gott gegenüber keine Leistungen, sondern glaubendes Vertrauen!

In wessen Name?

Jesus hat nicht sich selbst, sondern das Reich Gottes verkündet: »Dein Reich komme, dein Wille geschehe!« (Mt 6,10). Niemals hat Jesus sich selbst den Messias-Titel oder sonst einen messianischen Titel beigelegt (außer vielleicht den vieldeutigen Namen »Menschensohn«). Die große Frage nach dem Geheimnis seiner Person bleibt bis heute: Wer mag er in Wirklichkeit gewesen sein?

Dieses Rätsel ist angesichts seines gewaltsamen Todes in besonderer Weise gestellt. Der Jude Jesus hat nirgendwo seinen besonderen Anspruch begründet, hat aber aus einer für einen Propheten ungewöhnlichen Gotteserfahrung Gottesverbundenheit geredet und gelebt. Seine darin begründete freiere Einstellung zu Tempel und Gesetz (Reinheits-, Fasten-, Sabbatvorschriften) hatte eine tödliche Konfrontation zur Folge.

Wer ist schuld am Tod Jesu?

Am Prozeß Jesu vor den jüdischen Instanzen bleibt vieles unsicher. Eher als daß ein förmliches Todesurteil ausgesprochen wurde, dürfte das Plenum des jüdischen Hohen Rates (Synhedrions) nur die Auslieferung an den römischen Gouverneur von Judäa (26-36 n. Chr.) Pontius Pilatus beschlossen haben. Als Anklagepunkt ist die Frage nach der Messianität Jesu wenig wahrscheinlich, da deswegen niemand unbedingt verurteilt werden mußte. Aber die Kritik Jesu an der Religiosität vieler Frommer, seine Protestaktion gegen den Tempelbetrieb, sein unkasuistisches Verständnis der Tora, seine Solidarisierung mit gemeinem Volk, sein Einsatz für religiös Andersgläubige, politisch Kompromittierte, moralische Versager, sexuell Ausgenutzte sowie seine Kritik an den herrschenden Kreisen waren genug der Anklagepunkte.

Für Pilatus aber konnte nur ein politischer Grund die Todesstrafe rechtfertigen. »König der Juden – Rex Iudaeorum« hielt die Kreuzesinschrift nach römischem Brauch als »causa damnationis« fest: Die Anmaßung eines Königstitels war eine Beleidigung der römischen Majestät. Der religiöse Provokateur wurde als politischer Revolutionär verurteilt, obwohl er gerade dies nicht war!

Wer also trägt die Schuld an Jesu Tod? Das Zweite Vatikanische Konzil hat angesichts einer monströsen Schuldgeschichte der Christen, die gerade vom Vorwurf, »die Juden« seien Christusmörder, gar Gottesmörder, genährt wurde, endlich Klarheit geschaffen: »Obwohl die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.« (Konzilsdokument Nostra aetate, 4).

Entscheidend zum Verständnis der Leidensgeschichte Jesu heute ist nicht der Blick zurück in ein fernes Damals, sondern der Blick jedes einzelnen auf sich selbst. Dann ist der Tod Jesu eine Anfrage an jeden einzelnen Christen heute, ob er nicht immer noch durch sein Verhalten Jesus kreuzigte und wo er selber damals gestanden hätte.

Und wenn Jesus heute zurückkäme, wie in Dostojewskis »Großinquisitor«: Wen hätte er wohl heute zu fürchten?

Ein gekreuzigter Gott?

Gott und das Leid: Christliche Theologen haben nach dem Zweiten Weltkrieg unter Berufung auf ein Wort von Dietrich Bonhoeffer nicht selten die Kreuzesproblematik durch die Annahme eines »leidenden Gottes« bewältigen wollen. Gott sei »ohnmächtig und schwach in der Welt«, und gerade so und nur so sei er bei uns und helfe uns; nur der »leidende Gott« könnte helfen.

Ein Blick in die Schrift vermag spekulative Kühnheiten (»leidender und gekreuzigter Gott« oder gar der »Tod Gottes«) ernüchtern. Nach dem Alten Testament schreien die Menschen immer wieder zu Gott im Vertrauen darauf, daß Gott ihr Rufen und Flehen hört, aber ihr Schreien, Leiden und Sterben wird nicht einfach zum Schreien, Leiden und Sterben Gottes. Auch nach dem Neuen Testament schreit Jesus zu Gott, seinem Vater, weil er sich von Gott in der Tiefe seines Leidens verlassen glaubt. Aber nirgendwo schreit Gott zu Gott.

Die Botschaft, das Wort vom Kreuz, ist Paulus zufolge nur für die Nichtglaubenden Schwäche und Torheit, für die Glaubenden aber ist es Gottes Kraft, Gottes Weisheit. Ein Paradox, aber kein Widerspruch: Das Kreuz ist nicht das Symbol des »leidenden«, »schreienden« Gottes, sondern ist das Symbol des Todesnot leidenden Menschen. Nicht Gott selbst, der Vater, ist gestorben, sondern Gottes Messias, Christus, Sohn. Das Kreuz für sich betrachtet ist ein klares Fiasko: eine beispiellose Menschen- und Gottesverlassenheit des Gottgesandten. Nur im Licht der Auferweckung Jesu zum Leben kann im nachhinein in Gottes offenkundiger Abwesenheit seine verborgene und mitleidende Anwesenheit glaubend angenommen werden. Die Auferweckung geschieht durch Gott selbst, der ein Gott der Lebendigen und nicht ein Gott der Toten ist.

Gott in Auschwitz?

Eine theoretische Antwort auf das Theodizee-Problem, wie Gott alles Leid der Welt, gar Auschwitz zulassen kann, gibt es nicht. Aus einer gläubigen Grundhaltung ist nur das eine zu sagen:

– Wenn Gott existiert, dann war Gott auch in Auschwitz. Gläubige verschiedener Religionen haben selbst in der Todesfabrik betend daran festgehalten: Trotz allem – Gott lebt.

– Zugleich aber bleibt die Frage unbeantwortbar: Wie konnte Gott in Auschwitz sein, ohne Auschwitz zu verhindern?

Ja, Atheisten und Skeptiker haben recht: Keiner der großen Geister der Menschheit hat dieses Urproblem gelöst. Aber vermag etwa Unglaube in unschuldigem, unbegreiflichem, sinnlosem Leid zu trösten? An einem solchen Leid hat auch alle ungläubige Vernunft ihre Grenze.

Sollen ausgerechnet wir die Frage nach Gott und dem Leid aus der Welt schaffen können? »Würde ich Ihn kennen, so wäre ich Er« ist ein altes jüdisches Wort.

Sinnloses Leid vertrauend bestehen

Eine andere Grundhaltung ist gefordert: Manches Leid läßt sich verstehen, ertragen, mittragen, bekämpfen; aber übergroßes, unschuldiges, sinnloses Leid läßt sich nicht theoretisch verstehen, sondern nur praktisch bestehen.

Im äußersten sinnlosen Leid haben Juden, aber auch Christen die Gestalt des biblischen Ijob vor Augen: Gott ist und bleibt für den Menschen letztlich unbegreiflich, und doch ist es dem Menschen möglich, diesem unbegreiflichen Gott unbedingtes Vertrauen entgegenzubringen, der ihn schließlich doch vom Leiden erlöst.

Für Christen – und warum nicht auch für Juden? – gibt die historische Gestalt des leidenden und sterbenden »Gottesknechtes«, des Schmerzensmannes aus Nazaret, sinnvolle Antwort, dies aber nur aufgrund der geglaubten Auferweckung Jesu zu neuem Leben durch und mit Gott.

So haben denn ungezählte jüdische (und auch einige christliche) Zeitgenossen in der Hölle von Auschwitz grenzenlos darauf vertraut, daß es einen Sinn hat, das eigene Leid hinzunehmen, den einen »nicht-eingreifenden« verborgenen Gott betend anzurufen und anderen Menschen, soweit noch möglich, beizustehen.