Gewaltpotenziale im Islam und im Christentum

Rz-Mohagheghi-Stosch-GewaltHamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.):
Gewalt in den Heiligen Schriften von Islam und Christentum.
Beiträge zur Komparativen Theologie, Band 10.
Paderborn: Schöningh 2014, 186 S., Personenregister — ISBN 9783506772817 —

Angesichts der gegenwärtigen Weltkonflikte und einer zunehmenden Brutalität gegenüber unschuldigen Menschen stellt sich automatisch die Frage, wie die Religionen hier mit Gewalt umgehen. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben zusammen mit den Autoren Aggressionspotenziale innerhalb von Bibel und Koran untersucht, um den Spuren von religiöser Gewaltrechtfertigung nachzugehen. Dabei entsteht jedoch keine gemeinsame Zielrichtung. Es geht auch weniger um eine an den Friedenstendenzen in den Religionen sich ausrichtende Hermeneutik. Die Beitragenden beschäftigen sich stattdessen stärker mit den verschiedenen Formen von Gewaltverständnissen und Gewaltäußerungen in Bibel und Koran.  Diese zeigen sich extrem problematisch, wenn zeitlose und fundamentalistische Interpretationen daraus abgeleitet werden, die das eigene gewaltsame Verhalten legitimieren sollen.

Gegenwärtig-sachgemäße Auslegung bietet dagegen die Möglichkeit, die Versöhnungstendenzen in diesen Religionen  stärker zu betonen. Hier zeigen sich allerdings einige Autoren etwas zu vorsichtig in der Weiterführung exegetisch-historischer Erkenntnisse. Insgesamt ist hier jedoch ein Fundament gelegt, dass die dialogoffene Auslegung jüdischer, christlicher und islamischer Texte im Sinne einer religiös motivierten Friedensethik und Gewaltminderung vorantreiben kann.

Ausführliche Beschreibung: hier

Reinhard Kirste

Rz-Mohagheghi-Stosch-Gewalt, 05.10.14     Creative Commons-Lizenz

 

Buch des Monats April 2012: Anfänge der jüdischen Mystik

Peter Schäfer: Die Ursprünge der jüdischen Mystik. Aus dem Amerikanischen von Claus Jürgen Thornton. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag 2011, 671 S. Register — ISBN 978-3-458-71037-0
Originaltitel: The Origins of Jewish Mysticism. 
Princeton University Press 2011
    Peter Schäfer arbeitete von 1974-1983 als Professor für Judaistik am Martin Buber-Institut der Universität zu Köln, 1983 wechselte er an die Freie Universität Berlin. Seit 1998 hat er zugleich die Ronald-O.-Perelman-Professur für Jüdische Studien an der Princeton University inne. Er gehört zu den international renommiertesten Judaistik-Forschern und erhielt 2007 den hoch dotierten Preis der “Andrew W. Mellon Foundation”.
Seine breit gefächerte Veröffentlichungsliste enthält u.a.:

— Geschichte der Juden in der Antike.
     Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur  arabischen Eroberung (
1983)
— Mirror of His Beauty: Feminine Images of God from the Bible to the Early Kabbalah(2004)
— Wege mystischer Gotteserfahrung : Judentum, Christentum und Islam (
2006)
Jesus im Talmud (2007)
—-
The Jewish Jesus. How Judaism and Christianity Shaped Each Other (2012)


Die Geschichte der jüdischen Mystik vor der Kabbala ist erstaunlicherweise bislang noch nicht geschrieben worden. Peter Schäfer greift mit seinem Werk hier gezielt ein. Trotz seiner gut verständlichen Sprache werden diejenigen, die nicht mit der Materie vertraut sind, den Spannungsbogen und die facettenreichen exegetischen Details zwischen jüdischer Apokalyptik, Auslegung der nachbiblischen Traditionen und Mystik nicht immer leicht durchschauen. Denn der weite Weg beginnt mit einer ungewohnten Sicht auf die apokalyptisch geprägte Thronwagenvision des Propheten Ezechiel (Kap. 1) hin zu den sog. apokryphen Henoch-Schriften. Weiterhin stellt Schäfer Qumran, Philo von Alexandrien vor und endet bei der der vorkabbalistischen Merkava(Merkaba)-Mystik. Die vielen Zitate, die die Intentionen von Verfassern und Redaktoren verdeutlichen, belegen auch die Intentionen der einzelnen Schriften.      
Ausgesprochen hilfreich zur Orientierung sind die zusammenfassenden Ergebnisse
(S. 447-482). Die historisch-exegetischen und literarkritischen Details sind in einem ausführlichen Anmerkungsteil untergebracht (S. 483-598).
Die schwierige Einschätzung von den Anfängen der Kabbala im Europa des 12. Jahrhunderts geschieht dabei unter Bezug auf frühere Entwicklungslinien. Das ernüchternde Fazit: 
Es lässt sich kein präzises Ergebnis ausmachen: Die Ursprünge der jüdischen Mystik bleiben letztlich im Dunkel. So überlegt Schäfer auch im Diskurs und teilweiser deutlicher Abgrenzung von anderen Forschern, seit wann man überhaupt von jüdischer Mystik sprechen kann. Die Geschichte von der jüdischen Apokalyptik über die Qumran-Rollen bis hin zur sog. mystischen Hekhalot-Literatur der Spätantike stellt sich durchaus als Konglomerat verschiedener Strömungen dar.
Über die historische Aufarbeitung hinaus zeigt die Lektüre der herangezogenen Texte etwas Grundsätzliches: Menschen treiben immer wieder fragend die Sehnsucht weiter, wie man Gott nahe kommen oder in sich aufnehmen kann. Das führt auch dazu, dass Schäfer nicht „definiert“, sondern „jüdische Mystik“ durch entsprechende Annäherungen umschreibt und sich gegen eine allgemeine Kategorie „Mystik“ wehrt. Das hängt schließlich damit zusammen, dass mystische Formen sich aus unterschiedlichen „cultural, religious and historical settings“ entwickelt haben. „Wir sollten auch nicht vergessen, daß das, was wir Mystik nennen, kein Äquivalent in irgendeiner der Sprachen hat, in denen unsere Quellen erhalten sind“ (S. 481).
Dieser Erkenntnis folgend, ergibt sich für die von Schäfer vorgestellten und kommentierten Texte immerhin eine systematische Entwicklungslinie in acht Abschnitten mit einer Bilanz im 9. Abschnitt.
1.  Der alttestamentliche Prophet Ezechiel  (6. Jh. v. Chr.) erlebt eine intensive Berufungsvision (Ezechiel [Hesekiel] 1), gewissermaßen unter kosmischen Bedingungen. Das Aufscheinen der Herrlichkeit Gottes in diesem von himmlischen Wesen gezogenen Thronwagen ist zugleich eine Annäherung an Gott:   
„Der Gott, der Ezechiel erscheint, ist der Gott der Erzväter, der Gott des Universums, der (noch) nicht auf den Tempel beschränkt ist“ (S. 81).
2./3.  Henoch und sein Kreis, der Aufstieg zum Himmel und Henochs geistige Gefährten in der Bibel und in der nachbiblischen Wirkungsgeschichte: Es geht um die Prägung der Henoch-Vision durch diejenige Ezechiels. Im sog. Wächterbuch erfolgt eine strahlende Vision des „Großen“ (S. 93) mit seinen Engeln. Im Testament Levis, dem Jakobssohn, wird u.a. seiner Weihe zum Priester nachgegangen. Er verweist auf den eschatologischen Priester angesichts korrumpierter irdischer Priester. Schließlich beschäftigt sich Schäfer noch mit den Bilderreden Henochs, um dann das slawische Henochbuchvorzustellen. Die Apokalypse Abrahamszeigt die  Verwandlung des Erzvaters in einen Engel im Gegensatz zum götzendienerischen Verhalten des Volkes Israel. So wurde der Tempel zerstört, aber eine schwache Hoffnung bleibt. In den Apokalypsen der Propheten Jesaja und Zephanja wird das künftige Schicksal des Einzelnen betont. Auch Jesaja wird in seiner Schau engelgleich bei seinem Aufstieg bis zum 7. Himmel, aber es bleibt bei ihm ein Erdenbezug. Hier zieht Schäfer im Sinne der geistigen Gefährten Henochs noch die neutestamentliche Johannesapokalypse heran, die für die spätere Merkava-Mystik eine große Rolle spielt.
4.  Der vierte große Block wird durch die Qumran-Literatur geprägt. Hier hebt Schäfer nach der geschichtlichen Einleitung hervor: Qumran als Gemeinschaft von wahren Priestern, als eine Gemeinschaft mit den Engeln. Diese werden die Gemeinde auch in der (zu erwartenden) eschatologischen Schlacht begleiten. Qumran ist jedoch zugleich auch eine liturgische Gemeinschaft mit Engeln. Angesichts der vielen Spekulationen um die Gemeinschaft von Qumran ist dies ein spannender, aber auch ernüchternder Zugang im Blick auf die wirkungsgeschichtliche Bedeutung derjenigen Texte, die die Qumaran-Gemeinschaft prägten: Damaskusschrift, Gemeinderegel, Hymnenrolle, Kriegsrolle
Der Autor hebt zur Verdeutlichung besonders die Sabbatopferlieder, und den Selbstverherrlichungshymnus (vermutlich vom wieder erstandenen „Lehrer der Gerechtigkeit“) hervor. Auch hier das ernüchternde Fazit: „Nichts in den Texten von Qumran erlaubt uns, die Vorstellung einer unio mystica, einer mystischen Vereinigung mit Gott, in sie hineinzulesen, eine Kategorie, die von Religionshistorikern (besonders solchen mit christlichen Hintergrund) hochgehalten wird“ (S. 215).
5.  Mit dem Zeitgenossen Jesu, dem Philosophen Philo von Alexandria, verlässt Schäfer die apokalyptische Szenerie und geht auf die absolute Transzendenz von Philos Gott und seiner Vielgestaltigkeit ein, die sich im Logos manifestiert. Im Blick auf den Menschen unterscheidet der Philosoph zwischen Leib, Seele, Sinne und Geist. Mystisches klingt bei der Gotteserkenntnis sowie in der Bildsprache Philos an, und zwar durch die Verwandlung der Seele in ein göttliches Wesen.
6./7. Ausführlich kommt Schäfer in diesen beiden Kapiteln auf die Exegese der Rabbinen zu sprechen: Bearbeitung, Auslegung und Ergänzungen zum biblischen Kanon von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter. Es geht um Gottesannäherung durch Exegese ohne Himmelsreise, und zwar durch Auslegung der Tora und mit Hilfe der Fixierung mündlicher Traditionen in der Mischna. Sie bilden die Grundlage für den Babylonischen und Jerusalemer Talmud. Hinzu kommen die Ergänzungen in der Tosefta. Man darf sie sicher auch als Reaktion auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. sehen. Natürlich blickt Schäfer wiederum auf die Vision von Ezechiel 1 und den Fortgang dieser Auslegungsgeschichte, die sich nun zu einer Auslegungskette verfestigt. Damit hat sich der Autor die Basis für die sog. Merkava-Literatur gelegt, in der es letztlich darum geht, die verdichtende „Anschauung“ auf Gottes Thron zu entschärfen, vielleicht darf man sogar sagen zu rationalisieren. Die beiden Talmude mit ihren aufschlussreichen redaktionellen Bearbeitungen und erweiterten Geschichten machen eine anti-apokalyptische und anti-ekstatische Tendenz deutlich.
8. Durch diese Kritik der vor-kabbalistischen Strömungen im Judentum lohnt es nun diese Merkava-Mystiker genauer zu untersuchen, deren letzte Formen bis ins 9. Jahrhundert reichen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den sog. Gedulla- und Quedusha-Hymnen, die diese Aufstiege (in einer Reihe von Aufstiegsberichten) zur Gottesschau beschreiben und den Mystiker an die Seite Gottes rücken. Märtyrer-Erzählungen bekommen angesichts messianischer Heilserwartung verstärktes Gewicht. Auf dem Weg zum „Aufstieg in die Thronwelt“, müssen diverse Schwellen überschritten und Gefahrensituationen ausgestanden werden. Und vieles erinnert an ähnliche Vorstellungen aus der weit gefächerten Gnosis und dem Neuplatonismus. Nicht der Exeget steht mehr im Mittelpunkt des Verstehenwollens, sondern der Adept. Es kann hier nicht auf diese umfassende Darstellung der Merkava-Mystiker und der Hekhalot-Literatur bis hin zum 3. Henoch eingegangen werden. Schäfer zieht das Fazit: Angesichts der Unterscheidung von Körper und Seele (was sowohl für den Mystiker wie die Gottesvorstellung gilt) in der Hekhalot-Literatur bis hin zum magischen Gebrauch des Gottesnamens führen diese (spekulativen) Auslegungstendenzen letztlich wieder zurück in die Apokalyptik.
9.  Ergebnisse:  
Insgesamt stellt sich eine differenzierte Vielfalt von Verständnisweisen der sog. Thronwagenmystik dar, ohne dass der Rezensent sagen kann, alle Verästelungen früher jüdischer Mystik-Vorstellungen wirklich nachvollziehen zu können. Die Visionen des Aufstiegs zu Gott treiben menschliche Sehnsüchte dazu, Gott oder dem Göttlichen apokalyptisch, ekstatisch oder eher rationalistisch-exegetisch nahe zu kommen. Damit bleiben solche Suchbewegungen letztlich offen. Es werden nicht einmal ansatzweise endgültige Antworten gegeben. Peter Schäfer ist diesen durchweg zu hinterfragenden Antworten der Gottes-Annäherungen im spätantiken-frühmittelalterlichen Judentum mit ausführlicher und präzis bohrender Schärfe nachgegangen. Er hat mit dieser umfassenden und detailgenauen Abhandlung eine bisher bestehende Lücke im Klärungsprozess mystischer Literatur des spätantiken und mittelalterlichen Judentums geschlossen.
Wer sich durch das wahrhaftig nicht leicht zu lesende Werk von Peter Schäfer durchgearbeitet hat, besonders wenn er oder sie kein Spezialist jüdischer religiöser Literatur für Apokalyptik, Rabbinen-Exegese und vor-kabbalistischer Mystik ist, wird als aufmerksame/r Bibelleser/in die symbolträchtige Apokalyptik des Alten und Neuen Testaments in einem neuen, oft ungewohnten Lichte sehen. Gott bleibt das große Geheimnis und alle erklärende Begrifflichkeit gerät vor diesem Geheimnis an eine nicht zu überwindende Grenze.
Reinhard Kirste
Buch des Monats April 2012

Innerislamische Kontroversen um Koexistenz und Gewalt

Zusammenfassende Rezension   
Ausführliche Besprechung:
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Tilman Seidensticker (Hg.): Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt.
Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011; VIII, 184 S., Index der modernen muslimischen Denker
ISBN 978-3-447-06534-4

Das Wort „Islam“ verbindet sich für viele mit „Gewalt“. Sich auf den Islam berufende Terroristen rechtfertigen ihr Tun damit, dass sie behaupten, diese Gewalttätigkeiten seien von der islamischen Tradition her gerechtfertigt. Allerdings richtet sich die Gewalt nicht nur gegen „Ungläubige“, sondern vielfach auch gegen Muslime selbst. Nun gibt es durchaus Gewalt befürwortende und Gewalt ablehnende Richtungen innerhalb der islamischen Welt. Der Jenaer Arabist und Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker hat nun mit einer Reihe von Fachleuten (überwiegend der jüngeren Wissenschaftler-Generation) diese „Islamischen Kontroversen über Berechtigung von Gewalt“ genauer untersucht.

Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September in den USA und am Beginn des „arabischen Frühlings“ stellt sich die Frage nach der möglichen Zwangsmentalität einer Religion besonders intensiv. Es lässt sich ja kaum vorhersagen, welche Entwicklungen in der islamischen Welt insgesamt dominieren werden. Die dogmatisch auftretenden Fundamentalisten fordern eine Rückkehr zu den Regeln und Statuten der Urgemeinde, wohlgemerkt, wie sie diese verstehen. Die Konsequenz ist oft genug, dass sie ihr Verständnis auf konfliktreiche Art und gegen alles „Westliche“ in die Gegenwart zu übertragen versuchen. Andersdenkende werden als Häretiker oder Ungläubige diffamiert. Aber das ist nur die eine Seite, wenn man einmal genauer die innerislamischen Kontroversen betrachtet.
Es geht grundsätzlich um die Spannung zwischen Toleranz und Gewalt, zwischen Verteidigung von islamischen Errungenschaften und Kampfansage an die Ungläubigen, die in den unterschiedlichen Auslegungen von djihadzum Ausdruck kommen, nämlich (Mariella Ourghi, Freiburg). Das Absolutheitsdenken scheint in diesem Zusammenhang eine wesentliche Positionsverschärfung mitzubringen: Monopolanspruch auf das Paradies (so Johanna Pink, Berlin). Dagegen stehen flexiblere und Dialog offene Haltungen wie die von Said Nursi (1876 [?]–1960, kurdischer Herkunft, Türkei) und Mahmud Taha (1909 /1911–1985, Sudan), bis hin zur sog. Mardin-Intiative muslimischer Intellektueller von 2010. Die Djihad-Doktrin zwischen gewaltsamem Vorgehen gegen Ungläubige und Verteidigung des (wahren) Glaubens braucht also eine dringende Neubesinnung, um den Terrorismus gegen sog. falsche Muslime und „westliche Ungläubige“ auszubremsen. Hermeneutischen Monopolansprüchen bei der aktualisierenden Auslegung der Prophetentradition, der Hadithe, muss darum ein Riegel vorgeschoben werden. Selbst innerhalb des islamistischen Spektrums gibt es inzwischen eine wachsende Ablehnungsfront gegen extreme, sich auf den Koran und die Prophetentradition berufende Gewaltbereitschaft (Rotraud Wielandt, Bamberg). Die Frage bleibt allerdings, ob es eine neue Hermeneutik gegen islamistische Gewalt aus der derzeitigen religiösen Gemengelage heraus geben wird. Die extreme Spannbreite der Djihad-Verständnisse zwischen rückwärts gewandter Veränderung und liberaler Reform hat bekannte Namen an den jeweiligen „Eckpunkten“. Sie reichen von al-Maududi über Sayyid Qutb bis zu Fazlur Rahman und Mahmoud Taha.
Dieser Sammelband gibt differenzierende Einführungen in zeitgenössische Kontroversen zum Thema „Gewalt“. Er ist für alle empfehlenswert, die als aufmerksame Zeitgenossen die innerislamisch-theologischen, islamistischen und gesellschaftspolitischen Bewegungen besser verstehen wollen. Da das Spektrum dieser Debatte noch wesentlich größer ist, als in dieser Zusammenstellung angezeigt werden konnte, wäre sicher ein Fortsetzungsband sinnvoll.
Reinhard Kirste

Zwischen Glaubensgewissheit und Gewalt im Islam und Christentum

Jürgen Werbick / Sven kalisch / Klaus von Stosch (Hg.): Glaubensgewissheit und Gewalt Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum.  
Beiträge zur Komparativen Theologie Band 3. Paderborn u.a.: Schöningh 2011, 183 S., Namensregister — ISBN 978-3-506-77058-5

Der katholische Systematiker an der Universität Paderborn, Klaus von Stosch, hat sich zum Ziel gesetzt, mit FachkollegInnen auch aus anderen Religionen einen eigenständigen Weg in der interreligiösen Gegenüberstellung aktualisierend und dialogoffen zu verfolgen. Seine Besonderheit liegt in einem hermeneutischen Ansatz, den er als „Komparative Theologie in die Debatte einbringt. Dieser soll sich auch von den religionspluralistischen Ansätzen abheben. Den offensichtlichen Schwerpunkt bilden dabei Verhältnisbestimmungen von Christentum und Islam. In der dazu gehörenden Buchreihe sind bisher 5 Bände erschienen und zwei weitere kurz vor dem Erscheinen (1). Sie nehmen überwiegend Identitäts-problematiken in der Spannung von Glauben, Gewalt und Freiheit auf.
Der hier vorzustellende 3. Band entstand im Rahmen einer Tagung zum Exzellenzprogramm „Religion und Politik in vormodernen und modernen Gesellschaften“ an der Universität Münster. Er nimmt sich der sog. „letzten Dinge“ an. Angesichts apokalyptischer Vorstellungen, die bis in die Populärkultur reichen, sind die Religionen mit ihren Eschatologien entsprechend herausgefordert. Zugleich fordern solche Vorstellungen mit ihren Glaubensansprüchen bisherige Glaubens- und Lebensmuster heraus, umso mehr auch in ihnen ein „Gewaltförmigwerden“ (S. 9) auffällig ist. Die Frage der Erlösung angesichts der gegenwärtigen Unerlöstheitserfahrungen muss darum in Islam und Christentum intensiv und ggf. revidierend bedacht werden.
Nachdem Martin Ebner, Neutestamentler an der Universität Münster, den Verunsicherungsfaktor eines Endgerichts angesprochen hat, weist er auf die darin liegende Chance, nämlich, dass das „Ende“ nicht in unserer Hand liegt. Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide, vom Religiösen Centrum der Universität Münster, steigt darum sogleich mit einer veränderten Interpretation des Jenseits im Sinne von Transformation/Verwandlung ein, bei der Gott in seiner Barmherzigkeit erscheint. Damit verwandelt er den apokalyptischen Gedanken des Strafgerichts zugunsten einer Vervollkommnung des Menschen. In ähnliche Richtung von christlicher Seite argumentiert der Baseler Systematiker Reinhold Bernhardt. Er trennt strikt das Handeln des Menschen vom Handeln Gottes. Nur so kann die “pervertierte Selbstermächtigung des Menschen“ (S. 63) zurückgenommen und die Spirale apokalyptisch eingefärbter Gewalt gestoppt werden. Der Mitherausgeber und Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick wendet sich gegen religiöse End-Gewissheiten (S. 67) im Stile von Siegermentalität und apokalyptischem Terrorismus. Erlösung geschieht nicht durch Vernichtung, sondern im Sinne einer apokalyptischen Hoffnung, die die Unmenschlichkeit des Vorletzten offenlegt (S. 81), getragen von der „Widerstands-Vergewisserung“ gegen die Unmenschlichkeit für ein Leben ohne Tod. Die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi von der Universität Paderborn hebt in ihrer Erwiderung auf diesen Ansatz hervor, dass die Motivation für das „Tun des Guten“ durch den Beistandswillen Gottes verstärkt wird.
Sven Kalisch, ebenfalls Mitherausgeber, ist nach seiner Abkehr vom Islam nun Professor für „Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit“ an der Universität Münster. Er stellt Jenseitsvorstellungen in der islamischen Theologie vor mit Schwerpunkten auf die islamische Mystik des Mittelalters und die aufklärerische Mu‘tazila. Hier ist die „Lehre von der Exklusivität des Heils im Islam“ zum Teil verinnerlicht worden. Damit tritt neben Auferstehung und Gericht, Paradies und Hölle, der Gedanke der Sinnerfüllung des Lebens stärker hervor. Von diesen teilweise recht unorthodoxen Überlegungen her hinterfragt auch der Mitherausgeber Klaus von Stosch in seiner Erwiderung die „letzten Gewissheiten“ generell auf das in ihnen liegende Gewaltpotential. Die Entwicklung des Monotheismus in Israel ermöglichte faktisch durch die Abschaffung der Götterhierarchie auch die Zurückweisung menschlicher Hierarchien. Dies scheint jedoch nicht nur ein Vorzug des Monotheismus zu sein, weil der Glaube an den einen einzigen Gott auch zur Abgrenzung und sogar zum Völkermord diente. Es gilt im Sinne christlicher Vollendungshoffnung (offensichtlich anders als im Islam) die „Gewaltpotenziale in dem jeweiligen Denken zu identifizieren und zu pazifizieren“ (S. 115).
Der Leiter des islamischen (schiitischen) Zentrums in Hamburg, Ayatollah Ghaemmaghami stellt mit der Hilfe von M. Djavad Mohagheghi, dem Ehemann von Hamideh Mohagheghi (übrigens im Autorenverzeichnis nicht erwähnt), die Friedensintentionen des Koran in den Vordergrund und sieht auch Möglichkeiten, religiöse Monopolansprüche um einer versöhnten Gesellschaft willen beiseite zu lassen. Das allerdings entbindet nicht vom (möglichen bewaffneten) Verteidigungskampf bei Bedrohung der (religiösen) Freiheiten (nicht nur des Islams). Die endgültige Glück-Seligkeit jedoch ist mit der Erkenntnis der „rechtmäßigen Wahrheit“ verbunden und steht unter eschatologischem Vorbehalt. Wahrheit als „Begründetheit“ ist jedoch menschlich möglich (S. 126f). Bei aller Dialogoffenheit des Korans gegenüber anderen Religionen schimmert jedoch sehr deutlich ein inklusives Vereinnahmungsverständnis des Glaubens durch. In ihrer Antwort auf die Überlegungen des Ayatollah fragt Anja Middelbeck-Varwick von der Freien Universität Berlin darum mit Recht, ob bei aller Zustimmungsfähigkeit zu den islamischen Friedensintentionen wirklich der Abschied von der Absolutheit schon geleistet sei. Sie stellt diese Rückfrage aber auch an das Christentum, lässt allerdings offen, wie Joh 14,6 unter multireligiösen Bedingungen zu verstehen sei. Dafür legt sie Wert auf die Betonung der eschatologischen Unterschiede in beiden Religionen: Im Christentum hat die Erwartung des Reiches Gottes erhebliche gegenwärtige Konsequenzen für die Gläubigen.
Die „eschatologischen Erkundungen“ der BeiträgerInnen haben bei aller Unterschiedlichkeit deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf „das Letzte“ die vorletzten Dinge nicht ausblenden darf. Aber gerade diese Spannung von Letztem und Vorletztem birgt erhebliche Konflikt- und Gewaltpotentiale in sich. Diese schlagen oft gefährlich gegen Andersdenkende und „Ungläubige“ durch, besonders wenn gegenwärtige Ereignisse und Entwicklungen Glaubensverunsicherung erzeugen, aber veränderndes Handeln jetztgefragt ist.
Reinhard Kirste, Rz-Werbick-Glaubensgewissheit, 08.02.12
Anmerkung1:
Themen der bisher erschienenen bzw. in Erscheinung begriffenen Bände –
alle aus dem Schöningh-Verlag Paderborn
  1.   Jürgen Werbick / Klaus von Stosch / Muhammad Sven Kalisch (Hg.): Verwundete Gewissheit.
    Strategien zum Umgang mit Verunsicherung in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 1 (2010)
    http://blogs.rpi-virtuell.de/ein-sichten/2010/08/03/verwundete-glaubensgewissheit-und-gewaltreaktionen-in-der-begegnung-von-christentum-und-islam/ (Ein-Sichten, 03.08.10)
  2.  Hamideh Mohagheghi / Klaus von Stosch (Hg.):
    Moderne Zugänge zum Islam. Plädoyer für eine dialogische Theologie
    Beiträge zur Komparativen Theologie 2 (2010):

    http://blogs.rpi-virtuell.de/ein-sichten/2011/01/16/moderne-zugange-zum-islam/
    (Ein-Sichten 16.01.11)
  3.  Jürgen Werbick / Klaus von Stosch / Muhammad Sven Kalisch (Hg.):
    Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 3 (2011)
  4. Michael Hofmann / Klaus von Stosch (Hg.): Islam und Literatur.
    Islam in der deutschen und türkischen Literatur.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 4 (2011)
  5.  Klaus von Stosch / Muna Tatari (Hg.): Gott und Befreiung.
    Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 5 (2011)
  6.  Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 6 (2012)
  7. Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch (Hg.): Trinität –
    Anstoß für das islamisch-christliche Gespräch.
    Beiträge zur Komparativen Theologie 7 (2012)