„Kultur der Ratlosigkeit“

Prof. Dr. Heike Springhart hielt dieses Jahr eine Rede auf der Synode der Badischen Landeskirche und sagte: Wir brauchen eine „Kultur der Ratlosigkeit“. Kurze Zeit danach diskutierten wir bei einer Fortbildung mit vielen jungen KollegInnen darüber und ich war bass erstaunt, dass einige diese Aussage heftig kritisierten, zum Teil mit sehr harschen Tönen. Auch war in den Medien dieser Aufruf in den Mittelpunkt der Rede gerückt worden, teilweise polarisierend: ratlose Bischöfin uäm.

Von mir dagegen erhielt Heike Springhart spontan Beifall. Nun will ich meine Reaktion ergründen:

  1. Die polarisierenden Reduktionen einiger Medien finde ich unfair und abstoßend. In ihrer Rede ging es um viel mehr, und dies sehr differenziert und mit viel Zuversicht und Klarheit.
  2. Was wäre denn ein Gegensatz zur gescholtenen Kultur der Ratlosigkeit? Eine Kultur der Vollmundigkeit vielleicht, oder der Besserwisserei? Wäre uns das wirklich lieber? Im Sinne des „Wertequadrats“ (Schulz v. Thun) stünde uns ein anderer entwicklungsorientierter Blick besser zu Gesichte.
  3. Im Sinne von v.Kibed / Sparrer (Ganz im Gegenteil, Tetralemmaarbeit… S. 171f.) verstehe ich „Nichtwissen“, „Hilflosigkeit“ und „Verwirrung“ als „drei kostbare Ressourcen“. Kraftvolle Helfer für „systemisches Handeln, für das Querdenken, für verschiedene Arten kreativer Prozesse“ (S. 171) und für die Leitung. „..der Versuch (aber)… (etwa) Verwirrung zu meiden, entstammt meist dem Versuch, umfassend zu beherrschen.“ (S. 172).   Ich ergänze zu den DREI die „Ratlosigkeit“ Heike Springharts.
  4. Erst, wer zu sich selbst so ehrlich ist und sich eigene Grenzen (des Verstehens und Ratschlagens) eingesteht, dem können neue, nicht nur bewährte Ideen zufließen. So findet man „neue Zwischenräume für einen realistischen Blick auf die Komplexität der Lage“ (Heike Springhart). Gerade von einer neuen Bischöfin wünsche ich mir genau diese neuen Blicke.
  5. Die eigene Ratlosigkeit anzunehmen ist Teil der Überwindung des sog. Confirmation Bias, dem Vater aller Denkfehler: Die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen (bestätigen) (Peter Wason; Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens). Auch unsere Lieblingstheorien werden hinterfragt. Denn unser Hirn filtert Informationen systematisch aus, die diesen Lieblingstheorien widersprechen.
  6. Heike Springhart befindet sich in guter Gesellschaft. War es nicht Sokrates tiefste Einsicht: „Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß …“ (Platon: Apologie des Sokrates 22d). Nur der delphische Gott Apollon sei wahrhaft weise, die menschliche Weisheit sei sehr wenig wert oder gar nichts (Platon, Apologie 23a). Die wahre menschliche Weisheit ist es, sich des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein. Die Flucht nach vorne führt in den Dialog und die Wahrheitssuche im Gespräch.
  7. Manche Ratlosigkeit wurzelt im einem ethischen Dilemma. Da gilt es Güter abzuwägen. Und dies sollte nicht vorschnell und leichtfertig geschehen. In einer „Kultur der Ratlosigkeit“ schenken wir uns gegenseitig Zeit für diesen ethischen Suchprozess.
  8. Wer zu allem einen Ratschlag parat hat, leidet an Selbstüberschätzung und Schuldvergessenheit.
  9. Wer von einer hohen Amtsperson und Repräsentantin der Kirche mehr erwartet als „Ratlosigkeit“, dessen Bedürfnis nach Unterstützung kann ich verstehen. Ich sehe aber auch, dass dieses Bedürfnis nicht immer und überall und nicht sofort gestillt wird von „Mutter Kirche“. Ratlosigkeit kann auch meine Selbstverantwortung aktivieren, statt mich regressiv in alte Mutterabhängigkeiten zu manövrieren.
  10. Lukas 21, 15 (Elberfelder) wird auf die allgem. Ratlosigkeit in der Endzeit hingewiesen. Lk 24, 4 (am Grab)  eröffnet sich dagegen daraufhin eine neue leuchtende Perspektive. Ebenso an Pfingsten (Apg. 2, 12) und auch bei der rätselhaften  Erscheinung des Petus (Apg 10, 17). Es scheint sich fast ein roter Faden abzuzeichnen: auf die Ratlosigkeit folgt eine Begegnung der besonderen Art (vgl. auch Gal. 4, 20).

                Hartmut Friebolin 4.7.2023

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2 Antworten zu „Kultur der Ratlosigkeit“

  1. Andreas Obenauer sagt:

    Sehr anregend, danke!

  2. Markus Binder sagt:

    Danke für diesen nachdenklichen und – wie ich finde – großartigen Artikel!
    Herzlich grüßt ein Pilger.

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