Als Russland die Ukraine angegriffen hat, sagte man mir: „Nächsten Herbst stehen die Russen am Rhein“. Naja… Nun ist es seltsam ruhiger geworden um die Frage nach dem christlichen Pazifismus.
Mit Freunden haben ich viel überlegt, was würden wir in einem Unrechtsregime tun? Wie sähe unser gewaltfreier Widerstand aus? „Harry Potter“ weist einen Weg:
Mit meinen Söhnen höre ich gerne die Hörbücher zu Harry Potter. Momentan: „… und der Orden des Phönix“. Gegen Ende übernimmt die diktatorische, gegen SchülerInnen Gewalt anwendende „Inquisitorin“ Dolores Umbridge die Schulleitung. Dumbledore musste fliehen. Wie lebt man in Hogwarts (Mikrokosmos) mit den Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten von Umbridge?
Schweigend erleiden? Oder: Aufbegehren! Die Zwillinge Fred und George Weasley gehen in den aktiven Widerstand. Kreativ boykottieren sie, streuen Sand ins Getriebe, nehmen Umbridge in Beschlag mit den verrücktesten Ideen, bringen sie an den Rand der Verzweiflung. Es braucht dazu nur zwei kluge Schüler von 1000.
Wie war dies bei realen Aufständen in den letzten 100 Jahren. E.Chenoweth und M.J.Stephan haben das analysiert („Why civil resitance works, ISBN 978-0-231-15683-7): Ergebnis: Gewaltfreie Aufstände sind beinahe doppelt so erfolgreich, wie bewaffnete Revolutionen. Und es braucht nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung, um ein Unrechtssystem ins Wanken zu bringen.
Im Widerstand gegen das Apartheitsregime in Südafrika kippte der gewaltfreie Kampf irgendwann: Gewalt gegen Dinge wurde normal (Fensterscheiben wurden zerschlagen uam.). So auch bei Fred und George. Ich denke aber auch an D. Bonhoeffers Aufruf zum Pfarrerstreik – später bis hin zum Tyrannenmord.
In Hogwarts heißt es, dass sich die anderen LehrerInnen an den Aktionen passiv beteiligen, indem sie Umgridge nicht halfen, die Unordnung in der Schule zu beseitigen. Harry Potter gründet eine geheime Selbstverteidigungsgruppe (DA = „Dumbledores Armee“).
Was würden wir tun? Mit einem „Verantwortungspazifismus“ erkennen, dass Gewaltlosigkeit nicht das einzige ethisch bindende Prinzip ist. In bestimmten Situationen akuter Not kann Gewalt nicht ausgeschlossen werden. Auch wenn rechtserhaltende Gewalt notwendig wird, Gewaltanwendung ist dennoch nicht gerecht und stets mit Schuld verbunden. Und wie sähe ein Schul-Training mit Friedensübungen aus? Bonhoeffer gründete in Pommern seine DA, in der Nähe von Stettin, ein geheimes Seminar und ein Bruderhaus, um dort Menschen (geistlich) zu prägen.
Das Böse – eine Macht? Unser Schatten? Das Dunkel? Ist es „nur“ die Abwesenheit von Licht (Thomas v. Aquin). Hat die Dunkelheit eine Seinskraft? Nur Einbildung? Nur eine Denknotwendigkeit? Meine Haltung ist geprägt von Martin Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“. Luther rechnet ja durchaus mit der Macht des Bösen. Er sagt aber, dass man gerade in den Situationen, in denen es einem nicht so gut geht, die Aufmerksamkeit gerade nicht auf das Böse lenken soll. Wohin ich meine Aufmerksamkeit richte, dorthin geht auch meine Energie. Mit dieser meiner Energie er-mächtige ich das Böse gerade zu einer übersubjektiven Realität. Ignoranz somit als positive Kraft. Unser Schatten (bei C.G. Jung: Jene Teile und Eigenschaften von uns, die unbewusst sind und dem Ich-Ideal widersprechen). Gibt es einen spielerischen tanzenden Umgang mit dem Bösen? Eine Form der „Überwindung“. Oder ist das ein Spielen mit dem Feuer? „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Römer 12 „Gott will im Dunkeln wohne“ (EG 16)?? – „…und hat es doch erhellt“. Ist das Böse Nichts? Oder ist es nicht nicht? und trotzdem ein „Nichts“, das sich ausbreitet, wie bei Michael Ende in der unendlichen Geschichte? Ist es das „Brummen des Abgrundes“ wie in dem anderen Kirchengesangbuchlied? „Tobe, Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen.“ (EG 396,3) Ist es eine Macht, die zwar de-jure (ihrem Anspruch nach) besiegt ist und trotzdem noch wirkmächtig ist? Erst im Vorgriff auf das Eschaton als besiegt gilt oder wie Karl Barth sagt: völlig besiegt ist. Ist das Böse eine geistige Wirklichkeit, die selbst nichts Böses tun kann, die uns aber dazu bringen kann, dass wir es tun? Florian Kröger erkundet in seinem neuen Buch „Unter Wahnsinnigen – Warum wir das Böse brauchen“ (2023) die finsteren Winkel der menschlichen Seele und betrachtet die Facetten des Bösen aus der Nähe: an ausgewählte Schauplätze des Bösen, mit persönlichen Geschichten einiger vermeintlich böser Menschen.
Wie entspannt diese Hunde an der Leine gehen! Die Leine ist Verbindung. Selten Kontrolle. Der Hund hat viel mehr Kraft. Aber es gibt etwas, das diese Kraft bändigt. In einem Kreuzgang (Millstatt Benediktinerstift in Kärnten ) finde ich eine ähnliche Situation: Aber es ist hier kein Hund, sondern eine Fratze des Todes, ein zottiger Gnom. Aber diese Todesmacht, sie ist nicht vernichtet, sie ist nicht zerstört. Sondern sie ist in ihre Schranke gewiesen. Der Blick dieses Gnoms ist ausdruckslos, starr blickt er in unsere Richtung. Die Säule drückt ihn nieder, macht ihn bewegungsunfähig. Seine Macht ist gebändigt. Die Hände sind fast kindlich-hilflos gefaltet, er wird still gehalten. So dass dieses kleine Mädchen sogar hingehen und diese Fratze am Schnauzbart ziehen kann. Ganz entspannt ohne Kraftaufwand hält sie ihn fest. Wie ein Kind einen großen aber gutmütigen Hund festhält. Wirklich halten könnte sie ihn nicht. Ihre zarte Gestalt könnte das gar nicht. Ist sie also nur keck und frech? Man könnte diesen Eindruck bekommen. Aber es ist mehr: Es ist der Mut, der aus dem Glauben an die Macht Christi kommt. Der Mut des Vertrauens. Ihr Blick geht nach unten. Und hier ist das Kreuz wichtig: Sie trägt es um den Hals und hält es vorsichtig mit ihrer linken Hand zwischen den Fingern. Und ein zartes Lächeln spielt um ihrer Mundwinkel. Sie würdigt den Gnom keines Blickes, es ist kein großartiger Triumph, kein großer Enthusiasmus. Aber da ist der Mut, der aus dem Glauben an die Auferstehung kommt. Sie kann frei stehen. Denn der Tod ist entmachtet. Er ist de jure besiegt, d.h. seinem Anspruch nach besiegt, sein Anspruch auf unser Leben wurde aufgehoben. Im Kolosserbrief Kapitel 2 Vers 15 heißt es: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt“.
9. November 1938 als Wende. Tyrannenmord? Putsch? Gewaltfreier Widerstand?
Der 9.11. 38 öffnete Bonhoeffer die Augen über die Brutalität und Erbarmungslosigkeit der Nazis. Heute vielleicht müssen wir die Augen öffnen für das Böse in W. Putin und der Hamas.
Reinhold Niebuhr hatte Dietrich Bonhoeffer schon zuvor gesagt: „Das Deutschland der Nazis ist kein Ort für gewaltfreien Widerstand. Gandhis Erfolg hingen vom britischen politischen Liberalismus ab.“ Und H. Fischer schrieb zu Gandhis ganz anderer Situation: dass ein britischer „Richter zu Gandhi sagte, es tue ihm leid, dass er ihn verurteilen müsse. Das könnte es bei den Nazis nie gegeben haben. Ich habe ihm damals gesagt: Bei den Nazis würde jeder Widerstand mit Inhaftierung, mit KZ und möglicherweise mit dem Tode enden. Das ist etwas, was er (Bonhoeffer) selbst, glaube ich, nie eingesehen hat, weil er an das Gute in allen Menschen glaubte, ganz fest glaubte.“
Der 9.11. (Reichspogromnacht) war Bonhoeffers geistiger und strategischer Wendepunkt.
Vorher war seine Strategie 1. Keine Flucht in den Elfenbeinturm (Uni-Kariere im New York oder Berlin) 2. Er rief auf zum Pfarrerstreik. 3. Er plante mehrfach nach Indien zu reisen, um direkt bei M. Gandhi etwas für den gewaltfreien Widerstand gegen die Nazis zu lernen. Gandhi lädt Bonhoeffer sogar ein, bei sich zu wohnen. (Anmerkung: Vor sechs Jahren erst ist B.´s Brief an Gandhi von 1934 aufgetaucht, übersetzt v. W.Huber).
Doch es kommt anders! 4. Sozialer Einsatz: B. übernimmt in einem Soz. Brennpunkt in Berlin eine Konfirmandengruppe. (Prägung der Jugend) 5. Er wurde Vorsitzender einer Jugendbewegung (Wichtige Rede auf der dänischen Insel Fanø: Frieden gibt es nicht durch Sicherheit). 6. B. gründet seinen eigenen Ashram in Pommern: In der Nähe von Stettin gründet er ein geheimes Seminar und ein Bruderhaus, um dort Menschen (geistlich) zu prägen für die Reform der KIRCHE (s. u. dazu). Und diese erneuerte Kirche sollte im Staat etwas verändern. 7. Ein anderer, Herbert Fischer, war hingegen ein Jahr bei Gandhi. Aber er sagte: „Also, eines muss ich sagen: Bonhoeffer hat getan, was Gandhi mir eigentlich vorgeworfen hatte, nicht getan zu haben. Er sagte: `Wenn Du für Gewaltlosigkeit bist, dann solltest Du dort dafür kämpfen, wo die Nazis sind! Dort ist es notwendig, und dort gilt es, Widerstand zu organisieren!‘ „.
Bonhoeffers Wandel nach dem 9.11.: 1. Plötzlich finden wir kaum mehr Predigten von B. Kaum Veröffentlichungen. Er wollte nun arbeiten, ohne aufzufallen. 2. B. wird vom Propheten zum Putschisten. 3. Eine Schattenregierung wird gebildet. B. nutzt seine Kontakte nach London und die USA. 4. Der Tyrannenmord und die Schuldübernahme dafür werden geistlich und organisatorisch erarbeitet.
Sehr eindrücklich seine Worte zum Ashram in Pommern: „Um in den gegenwärtigen und kommenden kirchlichen Kämpfen das Wort Gottes zur Entscheidung und zur Scheidung der Geister zu predigen, um in jeder neu erwachsenen Notlage sofort zum Dienst der Verkündigung bereit zu sein, bedarf es einer Gruppe völlig freier, einsatzbereiter Pastoren. Sie müssen bereit sein, unter allen Umständen, unter Verzicht auf alle finanziellen und sonstigen Privilegien des Pfarrerstandes zur Stelle zu sein, wo der Dienst gefordert wird. Indem sie aus einer Bruderschaft herkommen und immer wieder in sie zurückkehren, finden sie dort die Heimat und die Gemeinschaft, die sie für ihren Dienst brauchen. Nicht klösterliche Abgeschiedenheit, sondern innerste Konzentration für den Dienst nach außen ist das Ziel.“ Diese grundsätzliche Erwägung zur Einrichtung des Bruderhauses in Finkenwalde vereint die praktische „christliche Lebensführung in Gebet, Meditation, Schriftstudium und brüderliche Aussprache“ (Beichte) mit dem „Dienst nach außen“, das heißt für den Kirchenkampf gegen die Verfälschung des Evangeliums durch die „Deutschen Christen“, (damalige Bezeichnung für die hitlertreue Nazikirche). „Ashram in Pommem“ bedeutet in diesem Sinne: kommunitäre Lebensform mit sozialem und politischem Engagement, mit spirituellen Exerzitien (Meditations- und Kontemplationsübungen) und freiwilliger Armut und einfacher Lebensweise.
Vgl. auch https://www.dietrich-bonhoeffer-verein.de/dietrich-bonhoeffer/bonhoeffers-friedensverstaendnis/
Foto unten auf der dänischen Insel Fanö; Bonhoeffer links unten.
Berlin direkt, 29.10.2023: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, d.h. wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein … „. (Zitat Pistorius)
Ich habe solche Töne noch nie von einem Bundesminister gehört. Worauf sollen wir da ein- oder umgestimmt werden? Naivität ist nicht die Alternative. Aber: Nicht an „Krieg“ – will ich mich- „gewöhnen“, sondern den Frieden konkret trainieren, das ist die Alternative: in den Schulen, den Familien, den Betrieben, der Uni… „Sie lernten nicht mehr Krieg zu führen“ heißt es in der biblischen Verheißung. Nachdem ich selbst 1 Jahr einen wöchentl. Kurs in „realistischer Selbstverteidigung“ gemacht habe, bekam das ganze einen seltsamen inneren Drive: jetzt will ich auch mal wissen, ob es klappen würde! Das ist die Kehrseite und Gefahr einer Hochrüstung und Militarisierung der Geister (so z.B. über viele Jahre in der russ. Bevölkerung). Bei mir selbst kam dann auch prompt eine Situation, wo mich einer angreifen wollte. Und… (Oh wie gut! oh wie schade?) auf der anderen Straßenseite war ein Mensch mit Zivilcourage, er fing an rumzubrüllen, sodass der Angreifer sich wieder verzog.
Was ich sagen will: habt acht vor der Manipulation eurer Geister. Oder mit der schwedische Autorin Ellen #Key (1849-1926), sie beschrieb die Auswirkungen des Krieges auf den menschlichen Geist: „Alles, aber auch alles am Krieg ist barbarisch. Aber die schlimmste Barbarei des Krieges ist, dass er Menschen zwingt, gemeinschaftlich Taten zu begehen, gegen die sie sich individuell mit ihrem ganzen Wesen auflehnen würden.“ Bleibt behütet!!
Prof. Dr. Heike Springhart hielt dieses Jahr eine Rede auf der Synode der Badischen Landeskirche und sagte: Wir brauchen eine „Kultur der Ratlosigkeit“. Kurze Zeit danach diskutierten wir bei einer Fortbildung mit vielen jungen KollegInnen darüber und ich war bass erstaunt, dass einige diese Aussage heftig kritisierten, zum Teil mit sehr harschen Tönen. Auch war in den Medien dieser Aufruf in den Mittelpunkt der Rede gerückt worden, teilweise polarisierend: ratlose Bischöfin uäm.
Von mir dagegen erhielt Heike Springhart spontan Beifall. Nun will ich meine Reaktion ergründen:
Die polarisierenden Reduktionen einiger Medien finde ich unfair und abstoßend. In ihrer Rede ging es um viel mehr, und dies sehr differenziert und mit viel Zuversicht und Klarheit.
Was wäre denn ein Gegensatz zur gescholtenen Kultur der Ratlosigkeit? Eine Kultur der Vollmundigkeit vielleicht, oder der Besserwisserei? Wäre uns das wirklich lieber? Im Sinne des „Wertequadrats“ (Schulz v. Thun) stünde uns ein anderer entwicklungsorientierter Blick besser zu Gesichte.
Im Sinne von v.Kibed / Sparrer (Ganz im Gegenteil, Tetralemmaarbeit… S. 171f.) verstehe ich „Nichtwissen“, „Hilflosigkeit“ und „Verwirrung“ als „drei kostbare Ressourcen“. Kraftvolle Helfer für „systemisches Handeln, für das Querdenken, für verschiedene Arten kreativer Prozesse“ (S. 171) und für die Leitung. „..der Versuch (aber)… (etwa) Verwirrung zu meiden, entstammt meist dem Versuch, umfassend zu beherrschen.“ (S. 172). Ich ergänze zu den DREI die „Ratlosigkeit“ Heike Springharts.
Erst, wer zu sich selbst so ehrlich ist und sich eigene Grenzen (des Verstehens und Ratschlagens) eingesteht, dem können neue, nicht nur bewährte Ideen zufließen. So findet man „neue Zwischenräume für einen realistischen Blick auf die Komplexität der Lage“ (Heike Springhart). Gerade von einer neuen Bischöfin wünsche ich mir genau diese neuen Blicke.
Die eigene Ratlosigkeit anzunehmen ist Teil der Überwindung des sog. Confirmation Bias, dem Vater aller Denkfehler: Die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen (bestätigen) (Peter Wason; Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens). Auch unsere Lieblingstheorien werden hinterfragt. Denn unser Hirn filtert Informationen systematisch aus, die diesen Lieblingstheorien widersprechen.
Heike Springhart befindet sich in guter Gesellschaft. War es nicht Sokrates tiefste Einsicht: „Denn von mir selbst wusste ich, dass ich gar nichts weiß …“ (Platon: Apologie des Sokrates 22d). Nur der delphische Gott Apollon sei wahrhaft weise, die menschliche Weisheit sei sehr wenig wert oder gar nichts (Platon, Apologie 23a). Die wahre menschliche Weisheit ist es, sich des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein. Die Flucht nach vorne führt in den Dialog und die Wahrheitssuche im Gespräch.
Manche Ratlosigkeit wurzelt im einem ethischen Dilemma. Da gilt es Güter abzuwägen. Und dies sollte nicht vorschnell und leichtfertig geschehen. In einer „Kultur der Ratlosigkeit“ schenken wir uns gegenseitig Zeit für diesen ethischen Suchprozess.
Wer zu allem einen Ratschlag parat hat, leidet an Selbstüberschätzung und Schuldvergessenheit.
Wer von einer hohen Amtsperson und Repräsentantin der Kirche mehr erwartet als „Ratlosigkeit“, dessen Bedürfnis nach Unterstützung kann ich verstehen. Ich sehe aber auch, dass dieses Bedürfnis nicht immer und überall und nicht sofort gestillt wird von „Mutter Kirche“. Ratlosigkeit kann auch meine Selbstverantwortung aktivieren, statt mich regressiv in alte Mutterabhängigkeiten zu manövrieren.
Lukas 21, 15 (Elberfelder) wird auf die allgem. Ratlosigkeit in der Endzeit hingewiesen. Lk 24, 4 (am Grab) eröffnet sich dagegen daraufhin eine neue leuchtende Perspektive. Ebenso an Pfingsten (Apg. 2, 12) und auch bei der rätselhaften Erscheinung des Petus (Apg 10, 17). Es scheint sich fast ein roter Faden abzuzeichnen: auf die Ratlosigkeit folgt eine Begegnung der besonderen Art (vgl. auch Gal. 4, 20).
Lange wissen wir es schon: von klein auf – vielfältige Bewegungsaktivitäten sind notwendig für die geistige, emotionale und soziale Entwicklung. Wahrnehmen, Denken Sprachentwicklung… alles hängt an der körperlichen Bewegung. Warum sitzen unsere SchülerInnen die meiste Zeit? Aber auch spirituelles #Wachsen gibt es nur verbunden mit einer (neuen) Körpererfahrung. Krankheit, Ektase, Berggipfelerfahrung, HerzOP, der Tanz des Derwischs, Atem, der frei und weit wird, Bogenschießen,… ODER auch jene Erfahrung: ich spüre am eigenen Körper, wie die schwer mit Schnee bedeckten Zweige Entlastung erfahren, als ich mit dem Wanderstock die Lasten abklopfe (vgl Gal 6 Zur Freiheit…, Mt 11 Kommt her zu mir…). ODER: Die Mönche, die beim Meditieren im Kreuzgang wandeln. ODER: ich stehe am Meer und ich fühlte mich wie der kleine Mönch vor dem mächtigen Meer in Caspar David Friedrichs Gemälde. ODER: Der Tanz als Ausdruck von spielerischer Kreativität und Lebendigkeit, mit dem -nach Sprüche 8,31- alles anfing? ODER: man denke an den schönen Hinweis von R. #Rohr auf die Notwendigkeit eines „verkörperten Glaubens“ und die Überwindung des platonischen Dualismus von Körper und Geist. ODER (Foto 2): Auf der Biennale in Venedig 2022 wurde der Beitrag der Niederlande (When the body says yes) in einer Kirche aufgebaut: Farbensatte Kissen luden zum entspannten Schauen ein… Was weiß mein Körper schon lange bevor mein Geist, mein Verstand es erahnt? Wieviel Weisheit Gottes ist in mir bereits gespeichert und sucht Ausdruck? Wo hat sich Gott mir in einer körperlichen Erfahrung gezeigt, und ich habe es übersehen?
Hinführung „So nicht!“ Freilich ist es schwer, wenn man gesagt bekommt: Denk mal nicht an einen „blauen Elefanten“. Dann tut man es leider erst recht. Trotzdem muss ich zunächst einiges ausgrenzen. Jesus will kein Beispiel für einen frühchristlichen Turbokapitalismus geben, im Sinne eines: Wer viel hat, der bekomme noch mehr. Er will keine Angst machen vor der Höllenfinsternis, im Sinne eines dualistischen Endzeitbildes: die einen in die Freude, die anderen in die Finsternis. Er will uns keinen Antikommunismus lehren, in dem gleich bedürftige Menschen eben unterschiedlich viel haben und bekommen. Er will uns nicht den Idealismus austreiben, dass in der Kirche die „Loser“ immer die „Guten“ sind. Ich meine dagegen, dass uns Jesus mit diesem Gleichnis hineinziehen will in die Freude Gottes. Und es gibt einige Hinweise im Text, die es nahelegen hier seinen Fokus zu erkennen.
Einladung zu einem Bild der Freude Die Jünger zeigen Jesus den Tempel: ihr Symbol für die Herrschaft Gottes. Durch den hier erwarteten Messias soll sein Reich errichtet werden. Jesus aber nimmt ihnen diese Sicherheit: „Nicht ein Stein wird auf dem anderen bleiben“ (Mt 24,1 f), ein Satz, der etwa 40 Jahre später Wirklichkeit wird. Dagegen setzt er nun seine Gleichnisse vom Reich Gottes, das schon jetzt anbricht. Zwei Dinge sind ihm dabei wichtig: 1. Gott nicht auf das eigene Bild von ihm festzulegen 2. Das, was Gott in uns hineingelegt hat, weiterwirken zu lassen. Der dritte Knecht, er hat Angst und Respekt vor dem strengen, fordernden Herrn. Weil er ihn so bewertet, vergräbt er das Geld. Dann muss er nicht mehr darauf aufpassen und macht nichts falsch. Die anderen beiden Knechte, sie setzen das Vermögen sofort ein und arbeiten damit. Mit dem anvertrauten Gut haben sie auf diese Weise weitergewirkt, als sei es ihr eigenes. Wenn wir ihr furchtloses Tun betrachten, wohinein werden wir gezogen: in ihre Freude, ihre Anstrengungen, in ihre Erwartungen, ihre Wirkmächtigkeit? In der Zeit der Stille finde ich es lohnend, dem nachzuspüren: Was passiert da Positives, als der Herr zurückkommt? Also das Zurückkommen und die gelungene Wiederbegegnung zwischen dem Herrn und den beiden ersten Knechten meditieren, bis auch unser Herz die Freude daran mitempfindet. Diese Freude ist ja ein Vorgeschmack dessen, was im Zusammensein mit diesem Herrn endgültig auch bleiben wird (V.21+23).
Erste Erwägung Der dritte Knecht legt den Herrn auf sein Bild von ihm fest: hart, fordernd in seinen Ansprüchen. Dass es aber nicht um Anspruch auf Leistung geht, ist daran ersichtlich, dass der Herr es in Ordnung findet, wenn der Knecht das Geld auf die Bank gebracht hätte, um von allein Zinsen zu bringen. Worum es geht, ist also das sinnvolle Weiterwirken von dem, was der Herr gegeben hat. Jesus zeigt seinen Jüngern: Das kommende Reich Gottes offenbart sich – mehr als durch den Tempel (s.o.) – in der lebendigen Beziehung zu Gott. Wir können also auch erwägen, wie die Verbundenheit zu Gott bei den beiden ersten Knechten zum Ausdruck kommt. Sie beziehen sich beim Wiedersehen sofort darauf, dass der Herr ihnen die Zentner anvertraut hat (V. 20.22). In diesem Geist des Vertrauens haben sie gewirkt. Wir können uns vorstellen, wie sie mit Freude ihm ihre Zentner übergeben. Das ist der Unterschied zum dritten Knecht. Die beiden ersten haben kein vorgefasstes Gottesbild wie er. Sie sind frei für den Herrn, als er wiederkommt und erleben dadurch seine Freude. Sie werden in diese einbezogen. Frage: Wie sieht das denn bei mir selbst aus? Mit meinem Bild von Gott? Meinem Gottesbild? Gibt es da auch Dinge, auf die ich Gott festnagle? Wo halte ich Abstand und vergrabe etwas von mir, z. B. aus Angst, aus Minderwertigkeitsgefühl, aus Sorge vor Enttäuschung?
Zweiter Erwägung Jesus macht seinen Jüngern durch dieses Gleichnis klar, dass nicht die Zerstörung des Tempels, sondern solches Vergraben das ersehnte Himmelreich unmöglich macht. Es untergräbt die wirkungsvolle Gemeinschaft mit Gott, die schon hier beginnt, wenn Gott jedem/er etwas anvertraut. Wir können nun erwägen, was der widersprüchliche Vers 29 b bedeutet: „Wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ Wie denn nun? Entweder er hat nicht, dann kann ihm doch nichts genommen werden, oder er hat etwas. Das ist paradox, widersinnig! Oder doch nicht? Meint das vielleicht: Der dritte Knecht verhält sich mit dem, was ihm Gott gegeben hat, eben so, als habe er nichts. Das ist bei Gott unmöglich (vgl. V.30). Übertragen auf uns: Wie die Knechte Gaben anvertraut bekommen haben, so hat jede/r von uns unendlich Kostbares (das Evangelium, meine Würde, den Glauben…) anvertraut bekommen. Jesus lockt also dazu, das Leben als eine Art Bewährungszeit zu leben, in der wir das von Gott uns anvertraute Gut einsetzen. Gerade in Zeiten der Müdigkeit oder von Grenzerfahrungen gibt dieser Text Orientierung: Bei Gott kommt es nicht auf Menge, Größe oder Leistung an, sondern allein auf das lebendige Umgehen mit dem Anvertrauten, ein lebendiges Umgehen, Arbeiten, Handeln, Verschenken, Wuchern… mit dem Anvertrauten. Ich will mich erinnern: Was habe ich bekommen? – an Gaben, an Erfahrungen im Glauben, an Erkennen von Gott und seinem Wirken? Dies will in einen lebendigen Prozess übergehen, in Begegnungen mit Menschen, in Aufgaben, Ermöglichungsgrund werden für das Aufbauen von Gemeinschaft, für das Stärken von müden Seelen… „Was dir ins Ohr gesagt ist, das verkünde von den Dächern“ (Mt. 10, 27) Frage: Wo wollen wir das in nächster Zeit bewusst tun? Nicht aus Druck oder Angst heraus, sondern um einzutauchen in die Freude Gottes. Hartmut Friebolin
„Und er lebte bei den wilden Tieren.“ Von wem ist hier die Rede?
Nicht von Johannes oder Elia… sondern von #Jesus! Vgl. Mk 1, 13. Anders als bei den Evangelisten Matthäus und Lukas lesen wir nichts von den konkreten Herausforderungen der Zeit in der Wildnis. Aber, eben dass er bei den wilden Tieren lebte. Mein theologisches Hirn sagt mir gleich: Das ist ein Hinweis auf Jesaja 11, 6-9: Der Beginn des #Friedensreiches, wo Mensch und Tier friedlich miteinander leben können. Und mit ihm, Jesus, beginnt dies. Eine eher psychologische #Deutung wäre diese: So, wie in den drei „Versuchungen“ elementare Bedürfnisse des Menschen angesprochen werden, so sind auch die wilden Tiere Repräsentanten (externalisierte Persönlichkeitsanteile) menschlicher Antriebe und Wünsche und Ängste. In der Stille und Einsamkeit begegnet Jesus auch dieser inneren Welt. Und sie werden nicht „abgeschnitten“, sondern er lebt mit ihnen, sie haben ihren Raum und ihre Grenzen. Aber Jesus lebte mit der eigenen ungeordneten #Wildheit! Wie wäre es weiter, diesen Hinweis mal für sich zu nehmen: Was hat er da wohl erlebt, mit den Tieren? Welche waren es? Was haben sie ihm wohl gezeigt und gelehrt? #Gott benutzt ja öfters #Tiere als Botschafter, etwa die Eselin, um dem #Bileam, der etwas schwer von Begriff zu sein scheint, etwas zu zeigen (vgl. 4. Mose 22, 22ff.). Haben dich Tiere schon mal etwas gelehrt? Ich könnte da von vielen erzählen: natürlich mein Labrador, aber auch ein Bussard, ein wilder Hund, der mich fast zwei Wochen in den rumänischen Karpaten freiwillig begleitet hat, Wildschweine, die ich beobachtet habe, wie sie Jäger verarscht haben, ein Rudel wilde Hunde, die uns eingekesselt haben… Warum nur biblische Texte interpretieren und nicht auch unsere Lebenswelt? Warum nur geschichtliche Ereignisse deuten und nicht auch im Alltäglichen Sinn suchen und vielleicht Gott entdecken? Denken wir an den brennenden #Dornbusch am Rand der Steppe, die Höhle des #Elia und auch seine Raben, an die #Jakobsleiter und die Ereignisse am Fluss #Jabbok, was #Maria zu hören bekommt, Jesu Geburt im Stall, die Wüstenerfahrungen des Johannes, die Wandlung des Paulus… Hier geschieht #Gottesbegegnung außerhalb offiziell heiliger Bezirke: In der Natur, im Alltag, fern ab der persönlichen Sicherheiten und des warmen Nestes.
Wie lautet die kürzeste Definition von „Religion“? Religion ist #Unterbrechung (J.B. Metz) Entweder: A. Entweder ich unterbreche etwas, um innehalten zu können Oder: B. Oder ich werde unterbrochen, und richte meinen Fokus auf das Unerwartete, das mich unterbrochen hat. A. Einfach mal etwas nicht tun, ist aktiver Widerstand gegen die heillose Hektik unserer Zeit, gegen Konsumrausch und Selbstoptimierungszwang. Nichtstun ist Unterbrechung, ein Zu-sich-kommen und ein In-Distanz-treten zu dem, was wir unhinterfragt täglich tun, wozu wir ständig angetrieben werden, was von uns gefordert und verlangt wird: immer mehr, immer schneller, immer besser. Auch eine Feuerpause und ein #Waffenstillstand sind Unterbrechungen und haben religiöse Qualität. Entschleunigung, Innehalten und Besinnung auf das Wesentliche in unserem Leben, Raum schaffen für Kreativität und Veränderung. Hin-Hören! („Geheimnisse reden zu mir eine lebendige Sprache. Ich höre das Herz des Himmels pochen in meinem Herzen.“ Rose Ausländer) B. Und wenn ich in meinem sinnvollen Tun und Schaffen und Gehen unterbrochen werde? Etwas liegt im Weg. Einer bittet um Hilfe. Ein Plan wird durchkreuzt. Eine Erwartung wird enttäuscht. Kein alternativloser Sachzwang. Auch Jesus hatte ein Ziel vor Augen: Da hören wir dieses ungewohnte Wort „stracks“ (Lk 9, 51b „…da wandte er sein Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wandern.“). Doch genau dabei wird er immer wieder unterbrochen und er lässt sich unterbrechen: Von Menschen, die ihn brauchen. Lebendige #Religion!
Bist du ein Kämpfer? Eine Kämpferin? Wofür? Für Ideale, um Menschen zu gewinne? Um gegen den Zeitgeist anzustürmen? Kämpfer für mehr Gerechtigkeit? Kämpfer des Glaubens? Oder, um zu überleben? Beim Wandern habe ich in einem Buch gelesen, das heißt „Kämpfen und Lieben“. Der Autor sagt, dass immer beides notwendig ist: Wer nur liebt – neigt dazu harmlos zu werden – wer nur kämpft, der wird erbarmungslos – es braucht beides. Die Liebe braucht die Qualität des Eroberns und des Beschützens und der Kampf bedarf der Liebe, damit wir nicht blindwütig werden.
Foto: privat
Eine Skulptur von Barlach (Museum in Mannheim): sie fasziniert mich seit über 25 Jahren Sie heißt landläufig „Der Geistkämpfer“ (vgl. Eph. 6) – Barlach selbst zog den Titel „Überwindung“ vor. Zwei Ebenen sehe ich: eine Horizontale und eine Vertikale: – der Mensch gehört immer zu beiden zugleich: bestimmt vom Sieg und der Kraft des Auferstanden und zugleich unseren Kampf zu kämpfen, unserer Berufung zu folgen. Dieser Engel ist kein himmlisches Wesen – sondern das sind wir!!! Wir Menschen – lassen wir uns nicht durch die Flügel irritieren. Es geht hier um einen sehr irdischen Kampf – der aber gerade im Bild die „Luft anhält“ – so könnte man sagen: ein Innehalten, weil das Tier – die Stimmen aus dem Dunkel, die Mächte der Finsternis – für einen Moment beherrscht wird. Der Kämpfer hat deutlich die Oberhand. Das Tier muss den Schwanz einziehen, aber diese Macht bleibt ungeheuer kraftvoll: die Nackenhaare sträuben sich, es buckelt und fletscht die Zähne. Dennoch bleibt der Kämpfer souverän. Sein Stand, dieser Stand hat für mich eine große Leichtigkeit und zugleich einen großen Ernst – wenn man ihm ins Gesicht schaut. Der Eindruck der Leichtigkeit wird durch die Engelsflügel unterstützt. Dieser Kämpfer ist leicht und zugleich hellwach, bereit zum Handeln. Seine Hände umgreifen das Schwert, als wenn ihm allein daraus seine Kraft zufließen würde. Ernst ist er, man sieht die Stirnfalten, die etwas zusammengekniffenen Augen, die den Kopf des Tieres nicht direkt ansehen – er stiert nicht auf das Böse – er hat es aber ganz genau im Augenwinkel. Dieser Kämpfer ist eher ein schmaler David als ein breitschultriger Goliat – leichtfüßig und innerlich im Lot, in der Balance – die dunklen Mächte ernstnehmend, aber sie auch nicht in den Vordergrund schiebend. Nicht die Angst beherrscht ihn, sondern das Gottvertrauen, dass die Mächte der Finsternis, de iure (ihrem Anspruch auf uns nach) besiegt sind. Hartmut Friebolin
In der wilden Verdonschlucht (Südfrankreich, Provence) habe ich diese seltsame Leiter fotografiert. Hinab ins tiefe klare Wasser reicht sie. Ob es eine Leiter für Taucher ist? Ich deute sie symbolisch: Ein Hinabsteigen in die eigene Seele. Was finde ich da, am Seelengrund? Angst, Leere oder Gott? Kann ich Paulus glauben und dort Christus erfahren (vgl. Gal2,20)? „Die Mitte der Seele ist Gott“, sagt Johannes vom Kreuz. Spiegelbildlich: Ihr kennt vielleicht die Himmelsleiter? Jakob hat sie im Traum gesehen. Die Engel sind da (zuerst) hinauf und dann wieder hinabgestiegen. Für Jakob war dieser Ort dann ein heiliger Ort, wo Himmel und Erde sich berühren, Gott und Welt. (1. Mose 28, 12) Am Anfang des Johannesevangeliums wird dieser Traum des Jakob aufgenommen und beschrieben, wie sich über Jesus der Himmel öffnet und die Engel Gottes über ihm hinauf- und hinabfahren (Joh 1, 51). Der Himmel also nicht an einem Ort, sondern in einer Person.