Buch des Monats Januar 2012: Umgang mit Krankheit und Lebenskrisen

Annelie Keil: Auf brüchigem Boden Land gewinnen: Biografische Antworten auf Krankheiten und Krisen. München: Kösel 2011, 253 S. — ISBN 978-3-466-30907-8
Annelie Keil, auch durch Fernsehauftritte bekannt gewordene Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, war bis 2004 Professorin und Dekanin an der Universität Bremen. Sie hat in ihren Vorträgen und Veröffentlichungen immer wieder auf die psychosomatischen Zusammenhänge von Krankheiten und Lebenskrisen hingewiesen. Ihr nun vorgelegtes Buch lässt sich auch als biografisch geprägte Reise durch die Höhen und Tiefen der eigenen Lebenslandschaft sehen. Was sie jedoch in diesen Rahmen bedenkt, ermöglicht den Lesenden durchaus, orientierende Überlegungen und Entschlüsse für das eigene Leben anzugehen. Denn hier spricht die lebenserfahrene Professorin nicht abgehoben psychologisch, sondern arbeitet Lebensgeschichten auf. Die angesprochenen Beispiele lassen gewissermaßen Transfers zu, weil sich vom Einzelbeispiel her Erfahrungen übertragen lassen und trotz aller Brüchigkeit des Lebens, Risiken eingegangen werden können (S. 17). 
Die Chance und die Schwierigkeit bestehen darin, dass Leben ein ständiger Prozess der Wandlung mit Höhen und Tiefen ist. Wenn wir keine Navigationsinstrumente haben, verlieren wir uns in der Fremde hoffnungslos und unser Leben gleitet ins Chaos ab. In der Spannung von Lust, Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Gelingen und Scheitern melden sich Seele und Körper gleichermaßen. So fließen in das erzählende Reflektieren Beispiele aus der eigenen Lebenspraxis, der Krankenforschung und der intensiven Begegnung mit Betroffenen ein.

In drei Schritten koordiniert Annelie Keil ihre Erfahrungen und grundsätzlichen Einsichten, zuerst im Blick auf die Hürdenläufe und Zickzacklinien des Lebens, dann im Blick auf die Krankheit als biografischem Aufruhr und schließlich im Blick auf die notwendige biografische Arbeit an sich selbst. In der Spannung zwischen Geburt und Tod fordert der Umgang mit den einzelnen Lebensphasen und dem Älterwerden eine zentrale Beachtung des eigenen Selbst ein: „Leben macht als solches nicht weiser, aber die Weisheit des Lebens fordert Kinder und alte Menschen heraus, sich den Ereignissen, Erfahrungen und dem eigenen Erlebnis des Lebens zu stellen, damit es am Ende das eigene Leben genannt werden kann …“ (S. 42). Große und kleine Herausforderungen nötigen einerseits zur Lebendigkeit, machen gar jung, lassen die Hoffnung nicht sterben. Diese haben andererseits auch die Gefahr von Traumata und des Unbeweglich-Werdens in sich. Zwischen Beharrung und Chaos sind Halt gebende Faktoren nötig wie die Familie, die Schulerfahrungen, der Ort an dem man lebt. „Bei allen Unterschieden wie Ähnlichkeiten in den menschlichen Herausforderungen und >Schicksalsschlägen< bleibt unvorhersagbar und offen, welche konkreten biografischen Antworten, fantasiereiche Ausdrucksformen, Krisenlösungen und Bewältigungsmuster die einzelnen Menschen während ihre Lebens immer wieder finden, um ihr persönliches Leben in den Griff zu bekommen …“ (S. 30)

So erinnert die Autorin an die Biografie „als Umsetzungsgeschichte der Datenbank, in der das Leben subjektiv gestaltet und mit Bedeutung versehen wird“ (S. 63), denn das „biografische Bewusstsein [arbeitet] ständig in den Spielräumen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und entscheidet darüber, was im Nachdenken bewusst werden darf“ (S. 63). Dazu ist eine „Ökonomie des Lebens“ nötig mit „Zukunftswerkstätten, in denen es um einen kreativen, achtsamen wie kritischen Umgang mit menschlichen wie gesellschaftlichen Entwicklungen geht“ (S. 80.81). Für solche Entwicklungsstrategien macht sich die Autorin stark. Sie sind besonders dringend angesichts von Abbrüchen und Abschieden. Die Krankheit ist darum einer der heftigsten Zeichengeber, weil sie die Brüchigkeit schonungslos offenbart: „Der ganze Körper ist leibhaftige Bühne, auf der erscheint, was dem Leben im Fall der Krankheit geschieht. Er muss zum Ausdruck bringen, was gerade gespielt wird, wer ausfällt oder kompensieren muss, wer die Musik bestellt hat und wer wann bezahlt“ (S. 150).
Was ist nun für die notwendige biografische Arbeit angesichts der Gratwanderung des Lebens zu bedenken? Wie schätze ich menschliche Begegnungen von Geburt an ein? Wo stand ich im Lebenszusammenhang am Rand, wo in der Mitte? Wie sieht es mit den eigenen Gefühlslandschaften und Eigenschaften zwischen Wohlgefühl und Ablehnung aus? Wie sind die persönlichen Bezugssysteme einzuschätzen im Blick auf die Eltern, die Familie, die kulturellen und religiösen Prägungen? Um Negativlisten kommt niemand herum. Die Antwort auf einzelne Fragen wird schwanken zwischen Müssen, Sollen, Wollen, Können und Dürfen. „Zwischen Erleiden und Entscheiden bestimmen wir also einen Teil unseres Lebens selbst“ (S. 229). Der steinige Weg bis hin zum „Dürfen“ leugnet nicht die Schatten, aber gegen alle Widerstände wie Krankheit und Verlust leben zu wollen und zu dürfen, ist letztlich eine „grenzenlose Aufforderung“ (S. 236).
Annelie Keil hat kein systematisches Buch geschrieben, aber ein biografisch bewusstes, ein die Lebensstränge und Brüche überprüfendes und sortierendes. Sie tut dies in leicht lesbarer und oft origineller Sprache. Die dazu gehörenden Beispiele sind keineswegs beliebig gewählt, sondern haben anregenden Charakter. Sie motivieren, eigene Lebenssituationen reflektierend Revue passieren zu lassen und für die Zukunft die Weichen bewusst zu stellen. Mehrfach lädt sie im Buch ein, die persönliche Lebensgeschichte, nicht nur zu erzählen, sondern auch aufzuschreiben, die individuelle, scheinbar kleine Geschichte in den Gesamtzusammenhang der Menschheitsgeschichte einzubringen. Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit, die Dunkelseiten der eigenen Biografie nicht abzuspalten, sondern zu integrieren und Freiheit auf das Kommende hin zu gewinnen. So lässt sich das eigene oft schwankende Lebensgefühl bewusst und aufmerksam in das gesellschaftliche Ganze einbringen und „Land gewinnen“. Von daher ist es ein wichtiges Buch für Lebensorientierung.
Reinhard Kirste, Rz-Keil, 31.12.11

Buch des Monats Januar 2012: Umgang mit Krankheit und Lebenskrisen

Die erfahrene Sozial und Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil aus Bremen bespricht in diesem Buch zum einen die Brüche des Lebens und zum anderen die Chancen der eigenen Biografiearbeit. Sie tut dies in besonderer Achtsamkeit. Jeder Mensch ist angesichts der Lebenskurven herausgefordert, in die persönliche Balance zu kommen.  Zwischen Scheitern und Gelingen tun sich Möglichkeiten für Befreiungen auf.

Annelie Keil:
Auf brüchigem Boden Land gewinnen.
Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen.
München: Kösel 2011
— Rezension hier —

Interkulturelle Annäherungen

Mit dem Thema:
“Das menschliche Zusammenleben: Probleme und Möglichkeiten in der heutigen Welt.
Eine interkulturelle Annäherung“
greift der IX. Internationale Kongress für Interkulturelle Philosophie, der vom 14. – 16. Februar 2011 in San José (Costa Rica) stattfand,  in eine kontroverse Debatte ein, die sich an der de-humanisierenden Weltentwicklung entzündet.
Der Kongress rückte die normative Grundlage des Zusammenlebens in den Mittelpunkt. Die Debatte verdeutlicht, dass eine Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens eine tiefgreifende Transformation voraussetzt. In den Beiträgen aus verschiedenen Traditionen Asiens, Afrikas, Europas und Lateinamerikas kommen Ressourcen für ein menschlicheres Zusammenleben zur Sprache. Aus ihnen wird deutlich, dass der Aufbau einer gerechteren Gesellschaftsordnung lediglich einen notwendigen Ausgangspunkt für ein menschlicheres Zusammenleben bildet. Darüber hinaus bedarf es einer „Änderung des Geistes“, die uns antreibt, unsere Praxis an der Agape der urchristlichen Gemeinden zu orientieren und derart das Zusammenleben auf dem Prinzip der Konvivialität zu gründen.

Nähere Informationen zu diesem Kongress: hier
Ein Tagungsbericht ist vorbereitet.
Er erscheint in Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie  61 (2012).

Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Thema und der Debatte dieses Kongresses sei an dieser Stelle auf den Dokumentationsband verwiesen. Er enthält sämtliche Vorträge in ungekürzter Fassung.

Fornet-Betancourt Raúl (Hg.):
Das menschliche Zusammenleben: Probleme und Möglichkeiten in der heutigen Welt. Eine interkulturelle Annäherung.
Dokumentation des IX. Internationalen Kongresses für Interkulturelle Philosophie, Wissenschaftsverlag Mainz 2011
— Bestellmöglichkeit hier —

Identitätsfindung durch verschiedene Kulturen

Der Philosoph Hamid Reza Yousefi (geb. 1967) hat sich im Blick auf die Praktische Religionswissenschaft und eine interkulturell geprägte Philosophie – auch durch eine beachtliche Zahl von Veröffentlichungen  – bereits einen Namen gemacht, man denke nur an seine Reihe der “Bausteine zur Mensching-Forschung.”
In diesem biografisch angelegten Buch beleuchtet er seine Lebensentwicklung zwischen Iran und Deutschland, ein Weg, der bei allen glückvollen Ergebnissen durch Hindernisse geprägt war und auch noch ist.
Hamid Reza Yousefi:
Dornenfelder
(eine biografische Skizze)
Reinbek b. Hamburg: Lau-Verlag 2011
— Rezension hier —

In den Ein-Sichten wurde bereits besprochen:
H.R. Yousefi / H. Waldenfels / W. Gantke  (Hg.)
Wege zur Religion (2010) — Rezension hier —

Buch des Monats Dezember 2011: Spiritualität und Engagement

Durch eine geschickte Vermittlung kamen der Liedermacher und Poet, Konstantin Wecker, und der Zen-Meister und Mitgründer der Peacemaker, Bernard Glassmann, zu einem ausführlichen Gespräch in Berlin zusammen . Ihr Engagement zwischen Entschlossenheit, Handeln, Sensibilität, Achtsamkeit und Stille findet zum einen seinen Ausdruck in den jeweiligen Biografien der beiden und ihren unterschiedlichen Erfahrungen. Diese laufen aber auf ein gemeinsames “Hier und Jetzt” hin, wie es auch der Buchtitel aussagt: “Es geht ums Tun und nicht ums Siegen”

Konstantin Wecker / Bernard Glassmann
– Christa Spannbauer (Hg.):
Es geht ums Tun und nicht ums Siegen.
Engagement zwischen Wut und Zärtlichkeit
München: Kösel 2011
— Rezension hier —

 

Mehr als Humanismus – eine “gläubige” Ethik?

Der 1925 geborene belgische Jesuit Roger Lenaers versucht angesicht der Herausforderungen in der modernen Gesellschaft eine neue Ethik zu formulieren. Diese setzt sich von religiös-kirchlichen Absolutheitsansprüchen ab und bietet eine “hellsichtige Liebesethik” an, die das Füreinander und Miteinander in den Mittelpunkt stellt. Das Wesentliche sollte darum a-theistisch und verständlich für alle formuliert werden:

Roger Lenaers:
In Gott leben ohne Gott
Kleve: edition anderswo 2011
— Rezension hier —

Mit diesen Überlegungen schreibt Lenaers seinen 2005 erschienen Band fort, in dem er angesichts der kirchlichen Erosionserscheinungen in der westlichen Welt eine schonungslose Analyse einer im Mittelalter steckengebliebenen Kirche vornimmt und sich für eine Neuformulierung des christlichen Glaubens einsetzt:

Roger Lenaers:
Der Traum des Königs Nebukadnezar.
Das Ende einer mittelalterlichen Kirche
Kleve: edition anderswo 2005
— Rezension hier —

 

Unbekannter Balkan?

Die Universität Graz hat sich mit einer Vorlesungsreihe im Wintersemester 2009/2010 intensiv darum bemüht, die Wissensdefizite im Blick auf den Balkan zu reduzieren. Die Beiträge beleuchten den Wandel der südostauropäsichen Gesellschaften in ihrer religiösen und kulturellen Vielfalt. Der Balkan als wesentlicher Teil Europas muss stärker in das allgemeine Interesse rücken.

Basilius J. Groen / Saskia Löser (Hg.):
Der Balkan. Religion, Gesellschaft, Kultur
Theologie im kulturellen Dialog 21.
Innsbruck: Tyrolia 2011
— Rezension hier —

Karen Armstrong: Achsenzeit – Impulse für Menschlichkeit


Karen Armstrong: Die Achsenzeit.
Vom Ursprung der Weltreligionen
München: Siedler Verlag 2006
— Rezension hier —


Als dieses Buch der bekannten englischen Autorin erschien, gab es in den deutschen Feuilletons manche Häme über die Fokussierung von Verantwortung und Mitgefühl im Rahmen der Achsenzeit. Das scheint sich wohl inzwischen etwas geändert zu haben, sieht man auf die indirekte Wiederaufnahme dieser Debatte in der ZEIT im Blick auf das Gottesbild.  Hier kommt  Karen Armstrong mit Überlegungen aus ihrem neuesten Buch selbst zu Wort (Eintrag bei rpi-virtuell vom 06.11.2011).

Die englische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong sagt schließlich nicht mehr  und nicht weniger, als dass in der Zeit zwischen 900 und 200 v. Chr. die religiös-kulturelle Welt zwischen China und dem Mittelemer einen ungeheueren Wandel erfuhr: Die kriegerischen Götter im Himmel werden durch die Suche nach Erleuchtung, Weisheit und durch den Impuls zu verantwortlichem Handeln ersetzt.
Hier kommt eine nachhaltige geistesgeschichtliche Wirkung zur Sprache, auf die die INTR°A-Bibliothek verwies, indem sie Armstrongs “Die Achsenzeit” zum Buch des Monats Dezember 2009 erklärte.

Karen Armstrongs spannend zu lesende Abhandlung leistet mehr als eine Ideengeschichte der Weltreligionen. Sie zeigt vielmehr, wie in der Achsenzeit die ethischen Qualitäten der verschiedenen religiösen Traditionen sowie Philosophie und Ethik neue Möglichkeiten für menschliches Zusammenleben eröffneten.

Gerade weil in Deutschland viele das Wort “Achsenzeit” noch gar nicht gehört haben und  mancher Philosoph und Theologe eine solche Zeitachse als wirklichkeitsfremd und historisch unsachlich abtut, lohnt es sich, dieses Buch in seiner religiös-wirkungs-geschichtlichen Bedeutung erneut  ins Licht zu stellen.

Buch des Monats Oktober 2011: Neuformierung von Religion(en)

Derzeit wird viel und intensiv über die (wachsende) Bedeutung oder die zunehmenden Bedeutungslosigkeit in den westlichen Gesellschaften diskutiert. Unter religionswissenschaftlichen, aber keineswegs abstrahierenden Analysen zeigen die Autoren, dass es nicht nur an der Zeit ist, sondern dringend notwendig ist, die Rolle der Religion(en) in der Gesellschaft neu auszuhandeln:

Martin Baumann / Frank Neubert (Hg.):
Religionspolitik – Öffentlichkeit – Wissenschaft
Studien zur Neuformierung der Religion in der Gegenwart.
CULTuREL 1
Zürich: Pano 2010
— Rezension hier —

Vgl. Weitere Buchbesprechungen aus der INTR°A-Bibliothek  zu:
“Wiederkehr der Religion?”, Religionen in der Moderne, Säkularisierung

Buch des Monats September 2011: Wiederkehr der Religion?

Die Versuche, die veränderten Bedingungenen von Religion und Religiosität in den modernen gleichzeitig religiös-pluralen Gesellschaften, besonders von denen in Europa, zu analysieren und zu bewerten, sind unterschiedlich. Sie werden oft genug von bestimmten religiösen oder a-religiösen Interessen ängstlich oder begeistert gesteuert.  Der Religionswissenschaftler und Soziologe Volkhard Krech von der Ruhruniversität Bochum lässt sich nicht auf Spekulationen ein, sondern analysiert sorgfältig, wie die religiöse Gemengelage zwischen Säkularisierung, Individualisierung und Sakralisierung unter dem Leitmotiv der Kommunikation einzuschätzen ist. So entstand kein Buch für die schnelle Lektüre, aber es lohnt:

Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion?
Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft
Bielefeld: Transcript 2011
— Rezension hier —

Titel mit ähnlicher Thematik, die bereits unter Ein-Sichten besprochen wurden: