White gaze

Blicke, die töten oder “schön machen”
Innerhalb nur weniger Sekundenbruchteile testen wir unser Gegenüber. Gefährlich oder nicht gefährlich? Daß wird das machen, ist menschlich – allzu menschlich. In der Frühzeit hing davon ab, ob man überlebt oder nicht: Ob man die Umriss des Säbelzahntigers im Gebüsch erkennt oder nicht, ob man im Anderen den Freund oder den Feind erkennt. In der Grundanlage sind wir ängstlich-skeptisch.

Heute müssen wir uns aber durchschauen: Mit welchen Schablonen, mit welchen Filtern mit welchen schwarz-weiß- Brillen wir der Realität begegnen und Menschen und Dinge bewerten und beurteilen.

Ein einziger Blick kann widerlicher sein, als mit strahlend weißen Turnschuhen in Hundekot zu treten. So beschreibt Hengamed Yaghoobifarah im Essay „Blicke“, wie die Angehörigen von Minderheiten Diskriminierung im Alltag erfahren.

Ein Blick sucht Kategorien. Er ordnet Menschen ungefragt ein: dick, queer, behindert, Ausländerin. Im Blick vollzieht sich das Othering – die Abgrenzung der vermeintlich eigenen gegenüber einer vermeintlich andersartigen Gruppe. Dieser wertende Blick vermittelt Minderheiten, dass sie nicht den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft entsprechen.

Im Englischen wird dieser Blick als white gaze, also als „weißer Blick“ bezeichnet. Der Blick des weißen Deutschen testet innerhalb eines Sekundenbruchteils, ob das Gegenüber „weiß genug“ ist, um zum Beispiel in Deutschland „deutsch genug“ zu sein. Alles, was dieser weißen Norm nicht entspricht, gilt als „anders“ oder „fremd“.
Dieses Othering führt zu Alltagsrassismus. Der weiße Polizist liest eine Person mit einem Blick als nicht-deutsch oder muslimisch und fragt ohne Anhaltspunkte nach ihren Papieren. Eine weiße Frau umklammert ihre Handtasche, weil eine Person in die Bahn steig, die sie als Roma und gefährlich liest. An der polnischen Grenze zur Ukraine, werden bestimmte Flüchtlinge mit schnellen Blicken „aus-ge-lesen“.
Der „weiße Blick“ wird den Zugehörigen der Mehrheitsgesellschaft schon im jüngsten Alter antrainiert. Wie trainieren wir ihn wieder ab? Mit Vertrauen, mit echten Begegnungsräumen?
Erkenne dich selbst und deine Art, Menschen mit Blicken zu “töten”.

Wie anders der Blick den Liebenden: “Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau.” – schreibt Gabriela Mistral im Gedicht (https://www.deutschelyrik.de/scham.html). Das Ich wird am Du. Im Blick des Anderen (Emmanuel Lévinas: Die »Spur des Unendlichen« im Anblick des Anderen macht diesen für mich unendlich kostbar. Das zwingt mich in eine strikte »Verantwortung« für ihn.). Blicke die aufbauen, Blicke die Leben schaffen. „Der Blick Gottes bewahrt die Welt vor dem Zurückstürzen ins Nichts.“ (D. Bonhoeffer in: Schöpfung und Fall, DBW Band 3, Seite 42). „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,…“ (Ps 139,16). Für mich sehr bewegend: Der Blick Jesu! Von dem jungen Mann, der zu Jesus kam und sich für die Nachfolge interessierte hören wir: „Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb“ (Mk 10,21). Und Petrus, zuerst erlebt er den „weißen Blick“ der Leute: „Du bist doch auch einer von denen“). Anders dann der Blick Jesu: Als die Blicke sich begegnen (Lk 22, 61), der Blick von Jesus und der Blick von Petrus, weint er bitterlich. War es ein Blick der Liebe, gibt es eine Art von Beschämung, die nicht demütigt?

Literatur: Eure Heimat ist unser Albtraum, (hg. v. Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah) 2019

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