Coronapandemie als Kränkung der Menschheit
„Kränkungen der Menschheit“ ist ein von Sigmund Freud im Jahr 1917 geprägter Begriff für umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die, so Freuds These, das Selbstverständnis der Menschen in Form einer narzisstischen Kränkung in Frage gestellt haben. Die drei von ihm beschriebenen Kränkungen: kosmologische, biologische, psychologische Kränkung ergänze ich in aller Kürze um weitere. Am Ende steht m.E. die aktuelle Kränkung der Menschheit durch die Coronapandemie und ihre (noch nicht ganz absehbaren) Folgen.
Eine Kränkung, was ist das? (Reinhard HALLER): Da wird ein wunder Punkt getroffen im Einzelnen, aber auch im größeren Maßstab, also das Kollektiv betreffend: Der Selbstwert wird erschüttert, eine Art Demütigung oder Ehrverletzung geschieht, das Gerechtigkeitsempfinden wird verletzt, Ent-täuschungen (von Illusionen) werden hervorgerufen. Diese heftige Ohnmachts- und Kontrollverlusterfahrung der Kränkung kann ins Destruktive kippen: Dämonisierungen, Entstehung von Verschwörungsmythen (Michael Blume), Neid und Gewalt…. Gerade die Paranoia sind symptomatisch für eine narzisstische Welt. (Nach Otto F.KERNBERG die vier Eigenschaften des Narzissmus: 1. große Kränkbarkeit/Rücksichtslosigkeit, 2. Normen gelten nur für die anderen, 3. Hohes Aggressionspotential, 4. Paranoide Haltung: überall lauern Feinde. Dagegen ein gesunder Narzissmus, ders.: Zum „normalen Narzissmus gehören Ehrgeiz, Selbstsicherheit und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Ein gesunder Narzisst verfügt über eine innere Kontinuität, hat Freude an sich selbst und am Leben, durchaus auch funktionierende Beziehungen zu seinen „significant others“ und besitzt die Motivation, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“).
1. kleinkindliche Kränkung: Es erfährt, dass es nicht die Mitte und der Umfang von allem ist, sondern nur Teil der Welt ist, begrenzt und ein „Mängelwesen“ (A. Gehlen)
2. kosmologische Kränkung: Kopernikus‘ Entdeckung 1543, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (vgl. Kopernikanische Wende).
3. biologische Kränkung: Die Menschheit ist in das Entwicklungssystem der Organismen eingegliedert. (bes. Darwin, 1859)
4. psychologische Kränkung: ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens entziehe sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. S. Freud (1895): Einsicht, (…) dass Ich nicht Herr in meinem eigenen Haus bin.
5. erkenntnistheoretisch Kränkung: Erkenntnis ist nicht objektiv, sondern an Bedingungen geknüpft: Raum und Zeit (I. Kant), ist interessengeleitet, zirkulär, herrschaftsgebunden, konstruiert…. usw. Und diese Kränkung verbunden mit dem Gefühl der Überforderung durch eine enorm gewachsene Komplexität. Dies hat oft die Folge, dass man sich ins Privater zurückzieht, ins Vertraute (Lit. Hartmann Vertrauen), Enge, Lokale, Nationale und auf die allzu „Simplen Wahrheiten“ (M. Gronemeyer)
6. Kränkung des Humanismus: Wozu ist der Mensch fähig (Ausschwitz, Judenverfolgung, NS, 2. Weltkrieg)
7. Kränkung des religiösen Bewusstseins (Nietzsche, Gott ist tot, Kirchenausstritte, Pluralismus, Säkularisierung; Relevanzverlust der Volkskirchen) Gott ist nicht mehr die „alles bestimmende Wirklichkeit“, sondern wurde zur Option.
8. Kränkung des Fortschrittsglaubens und des Machbarkeitswahns (Atomkatastophe Fukuschima 11.3.2011 und Naturkatastrophen)
9. Kränkung des westlichen Überlegenheitsgefühl: 9-11 und weitere Terrorerfahrungen. Verletzlichkeit der westlichen Zivilisation.
10. digitale Kränkung: Computer und Maschinen (künstliche Intelligenz), die unsere geistigen Leistungen erreichen und sogar übertreffen, uns tendenziell überflüssig machen und ohnmächtig werden lassen: Wir können sie nicht mehr beherrschen (vgl. Y. Harari).
11. Kränkung der Privatheit und Intimität: Netzwerküberwachung (NSA, Snowden, Algorithmen der wenigen großen Digi-Firmen: Facebook, Google…). „Wer glaubt, nicht manipuliert zu sein, ist dafür am anfälligsten“ (Y. Harari). „Alexa“ wurde jüngst (Dez. 2020, Landgericht Regensburg)) das erste Mal als Zeugin/Beweismittel in einem Strafprozess verwendet.
12. finanzielle Kränkung (2008 u.ö. Finanzkrise): Materielle Sicherheitsgefühl (Aktien, Immobilien, Verstehen des modernen Finanzsystems, Lobbyisten, Hedgefons) ging flöten. (Immobilienblase als Scheinwelt, hinter der nichts ist – ein typisch narzisstisches Phänomen ist für eine narzisstische Welt ein Spiegel und eine bes. große Kränkung). Bedrohung der privaten Ersparnisse durch eine mögliche kommende Inflation (2022).
13. Kränkung der europäischen Ideale: Europa und die Welt sind nicht solidarisch! Seit 2015 Flüchtlingskrise
14. Kränkung der Zukunftsutopie. Erschüttert wird die Vorstellung, dass es in der Zukunft mindestens genauso gut sein wird wie heute: Wohlstandes, Mobilität, Wissenschaft, Wachstum. Ungeachtet aller technischen/wissenschaftlichen Möglichkeiten, können wir die Natur nicht in einem Zustand erhalten, der uns in Zukunft gewogen sein wird. (Ökologische Krise, Erderwärmung, Artensterben) Irritation für eine narzisstische Gesellschaft, die nur auf sich und nicht auf die zukünftige Generation achtet.
15. Kränkung unseres Sicherheitsbedürfnisses: (Coronapandemie)
Es gibt für mich keinen Anspruch (an den Staat oder das Gesundheitssystem oder den Impfstoff) auf Unversehrtheit. Gesundheit und sogar das eigenen Leben ist ein relatives Gut und wird abgewogen mit wirtschaftlichen Gütern. Die Triage erfordert Opfer, evtl. von mir? Unsere Wissenschaft beruht auf Hypothesen nicht auf Fakten, sie ist überfordert. Mein Recht auf Selbstentfaltung erfährt scharfe Grenzen. Meine ziemlich sichere Arbeit und Verdienst und Erspartes gehören mir evtl. bald nicht mehr. Grundrechte werden den Notstandsgesetzen und dem Infektionsschutzgesetz untergeordnet. Wir haben es nicht mehr „im Griff“. Erleben, wie nahe und ferne Menschen einsam elendiglich sterben müssen. Tabumauern fallen und die eigenen elementaren Ängste vorm leidvollen einsamen Sterben werden wach. Ein kleines Virus bringt die ganze (!) Welt ins Wanken, mein Selbstbild, mein Weltbild.
Die islamistischen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und die weltweite Coronavirus-Pandemie können als zwei große welthistorischen Einschnitte im 21. Jahrhundert gelten. Unheimlicherweise tauchen in ihrem Windschatten viele Ähnlichkeiten auf: Man spricht vom Krieg (Macron), erst jüngst nannte der New Yorker Bürgermeister Beatmungsgeräte Waffen. Wie einst der Schläfer ist auch das Virus ein unsichtbarer Feind; wir teilen uns unwillkürlich ein in gefährliche und ungefährliche Zeitgenossen; mancherorts kommt es zu Pauschalverdächtigungen gegen ganze Bevölkerungsgruppen (samt Aufrufen zur Denuntiotion). Wieder einmal gibt es Einschränkungen im öffentlichen Leben, Nationalismus, Grenzschließungen, Turbulenzen auf den Märkten – und die digitale Überwachung ist weit fortgeschritten (in asiatischen Ländern insbesondere). Es werden große Gelder in die Hand genommen und auf ganz andere Felder verschoben (als urspr. geplant)! Die Ikonografie, eine Bilderwelt prägt. Ebenso unheimlich wie die zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers sind die Bilder von den großen Metropolen, die allesamt leergefegt sind. New York, Madrid, Paris. Das ist eine weit gestreute Albtraumvision, eine postapokalyptische Vision: menschenleere Straßen.
Soll die Pandemie so bekämpfen werden wie einst den islamistischen Terrorismus? (so Stefan Weidner) Anders formuliert: Die Reaktionen einer gekränkten narzisstischen Menschheit sind ähnlich, nur die Auslöser sind verschieden. Ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft verunsichert und zermürbt, führt in Apathie, Egozentrik und Argwohn. Unplausible Verordnungen stören, ja kränken das Gerechtigkeitsempfinden so vieler, bis durch fehlende Transparenz und Plausibilität ein gemeinsamer Verständigungsrahmen verlorenzugehen droht: zum Beispiel den, dass Macht durch Recht legitimiert wird und nicht Recht durch Macht.
Das Bedürfnis nach Sicherheit ist universal. Und es ist ein sehr starkes Bedürfnis in jedem von uns. Durchschauen wir die Mechanismen einer narzisstischen Kränkung? Könnenwir auf die Erfahrung von Hnmacht und Kontrollverlust zugehen und sie „annehmen“ , um wieder in die Selbstleitung (R. Cohn, TZI), die Selbststeuerung zu gelangen? Ja sogar dem Absurden in dieser Welt zu widerstehen und nach Sinn zu fragen, ohne das Leiden, das ohne Sinn ist, zu beschönigen, weil es von Gott nicht gewollt ist! Und doch nach Sinn zu fragen, nicht theoretisch, sondern Praktisch, um in eine Antwort „hineinzuleben“ (Rilke), um eine narzisstisch gekränkte Menschheit zu heilen.
Gibt es einen Ausweg aus dem heillosen Strudel einer narzisstischen Kränkung?
Liegt der Ausweg in dem „Annehmen“ der neuen bedrohlich wirkenden Situation? Um so einen Entwicklungsschritt einzuleiten, die bedeutungsschwangere Situation quasi als „Lehrmeister“ eines neuen Sehens und Bewertens und Lebens fungieren zu lassen? Wäre sodann vielleicht ein etwas demütigerer und einfühlsamerer Umgangs miteinander (gebildete Empathiefähigkeit) die Folge? Etwas mehr Bescheidenheit könnte wachsen gegen alles „Großspurige“, gegen den Neid und das Selbstgefühl der Großartigkeit. Vielleicht auch eine neue Wachheit, wenn wir erkennen, wieviel Böses aus Angst und Kränkung entstehen.
H. Friebolin (15.12.2020)
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