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RU im globalisierten Klassenzimmer

Petra Sorg

Religionsunterricht im globalisierten Klassenzimmer.
Positionierungen von Lernenden im multireligiösen Kontext beruflicher Schulen.
Religious Diversity and Education in Europe, Vol. 43.
Münster/New York: Waxmann Verlag 2020. 344 S.,
ISBN 978-3-8309-4133-0
€ 39,90

Im Februar 2020 promovierte Petra Sorg, Schulpfarrerin in Frankfurt, im Fachbereich Ev. Theologie mit einer Studie zur Frage, wie Lernprozesse im Religionsunterricht mit Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen funktionieren. Sie selbst arbeitet an der Julius-Leber-Schule in Frankfurt, der mit über 3000 Lernenden größten Beruflichen Schule der Stadt. Ihre Arbeit erlaubt einen Einblick in die Prozesse des Lernens in multireligiösen Lerngruppen. Bisher lagen kaum Studien darüber vor, was Jugendliche selbst dazu sagen, nun kommen sie als Experten des Lernens selbst zu Wort.

Seit Jahren findet aus ganz pragmatischen Gründen in Berufsschulen kein strikt-konfessioneller Religionsunterricht mehr statt. Je mehr Deutschland zur „Migrationsgesellschaft“ wird, umso lauter wird der Ruf nach einem „interreligiösen“ Religionsunterricht, in der Erwartung, dass damit Verständigung und Toleranz wächst. Wie aber kann der gelingen? Was sind die Bedingungen für „Positionierungen“? Um diese Prozesse empirisch zu erforschen, führte Petra Sorg zunächst eine quantitative Befragung unter Lernenden dreier Frankfurter Berufsschulen (n = 301) durch. Dabei standen die Werthaltungen der Lernenden und die Art, wie sie sich selbst sehen, im Zentrum. Anschließend vertiefte sie die Befunde durch Analysen von „problemzentrierten Interviews“ mit sieben Lernenden, die für bestimmte Gruppen typische Haltungen vertraten.

Ohne auf die Theorien hinter dem Forschungsdesign einzugehen (u.a. von Henri Tajfel zu Identität), gibt es einige wichtige Schlussfolgerungen aus dem quantitativen Teil: Einerseits ergaben sich große Unterschiede zwischen den Religionsgruppen aber – und das ist für das interreligiöse Lernen ziemlich interessant- es ergaben sich auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Muslimische Lernende zeigten, dass sie ihre Identität stärker aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bezogen (soziale Identität). Damit waren sie weniger bereit, Neues zu lernen als Lernende, die ihre Identität aus den eigenen Konzepten bildeten (personale Identität). Andererseits zeigten aber über die Religionszuge­hörigkeit hinweg alle jungen Frauen, dass sie an anderen und anderem deutlich interessierter sind, sozialere Einstellungen vertreten als junge Männer. Diese Geschlechterdifferenz, so die Studie, gilt es in der Religionspädagogik wie im Unterricht stärker zu berücksichtigen. Methoden hingegen spielen eine eher untergeordnete Rolle. Kognitive, problemorientierte Aufgaben über „critical incidents“ bieten geringe Anlässe, Neues zu lernen.

Durch die sieben Interviews konnten diese Ergebnisse weiter differenziert werden. Petra Sorg prä­sentiert diese Personen und ihre Positionierungswege sehr überzeugend. Nur vier Beispiele, die zeigen wie komplex die Prozesse sind: „Marvin“, ein evangelischer Azubi, der zum Islam konvertiert war, konnte seine Überzeugungen als neues Mitglied der muslimischen Männergruppe zwar zeigen, blieb aber innerlich verunsichert, so dass er zu dauerndem Nachdenken genötigt war, was seine Offenheit für Neues förderte. „Abdul“, bei dem der Satz „Wir Muslime sind alle wie ein Leib“ fällt, nahm hingegen Pluralität im Unterricht als Bedrohung wahr. „Fatma“, seine kopftuchtragende Klassenkameradin, hingegen hat dort Neues gelernt: „andere ausreden zu lassen“ und sie „zu verstehen“. Sie hat Respekt erlebt und Vorurteile abgebaut. „Andrej“, in Moskau geboren und seit seinem 8. Lebensjahr in Deutschland, kann mit Religion nichts anfangen, verhält sich im Klassenraum als Zuschauer und wundert sich, dass andere über Religion streiten können.

Im letzten Teil der Studie beschreibt Petra Sorg didaktische Perspektiven. Welche Lernarrangements sind förderlich, um Neues zu lernen? Wichtig ist demnach, dass der Klassenraum als sicherer Ort erfahren wird. Denn drei der vier interviewten jungen Frauen hatten ihn in der früheren Schule als Herrschaftsraum geschildert, in dem sie unter Grenzziehungen und Zuschreibungen zu leiden hatten. Bedeutsam ist weiterhin, dass jede und jede als konkrete Person („concrete other“) und nicht als Mitglied einer Gruppe gesehen wird. Wenn jeder und jede sich als einzigartige Person zeigen kann, dann, so die die Studie, können auch die Begegnungen mit anderen Einzigartigen produktiv werden. Petra Sorg warnt vor einem rein religionskundlichen Unterricht, der die subjektive Seite von Religion (Religion ist im Unterricht immer „meine Religion“) negiert und von Unterschieden ausgeht. Auch sollten keine überzogenen Erwartungen an einem Zuwachs an Kompetenzen gehegt werden, weil das Lernen in hohem Maße von Einstellungen abhängt, die nicht durch den Unterricht erwirkt werden.

Mit dieser umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit hat Petra Sorg einen wichtigen Aspekt ihrer eigenen Praxis reflektiert. Gerade in dieser engen Verbindung von Theorie und Praxis liegen m. E. die größten Chancen für die Qualitätsverbesserung des Religionsunterrichts. Sie gibt empirisch untermauerte Kriterien für das Gelingen von interreligiösem Lernen, und ihre Arbeit ermutigt zu neuen kreativen didaktischen Settings.

Harmjan Dam

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