Persönliche Hinführung
Ich war noch nicht lange auf meiner ersten Pfarrstelle, zwei Kleinkinder, heftig erkältet, die Arbeit wuchs mir über den Kopf, es gab heftige Konflikte mit einer Freikirche vor Ort, im Leitungsgremium, die Sekretärin ging in den Ruhestand, Erzieherin in Kindergarten kündigte, schwierige Schulklassen und und und. Das Wasser stand mir bis zum Hals. Es war kein Burnout…oder doch? Es wurde einfach zu viel, Herzrasen, Schweißausbrüche, unkonzentriert begann ich Aufgaben, um sogleich festzustelle, dass eigentlich anderes dringlicher ist. Dinge wurden nicht fertig. Ich konnte nicht umgehen mit den ständigen Unterbrechungen. Und vor mir türmten sich die „To dos“ bedrohlich. Der alltägliche Wahnsinn eines Berufsanfängers. Was tun? Ich nahm mir eine kleine Auszeit: Einen Tag und eine Nacht im Gästehaus eines Klosters in der Nähe. Auf dem Zimmer lag ein Büchlein mit Bibeltexten und Gebeten. Ich schlug es auf und landete bei der Sturmstillung und bei folgendem Gebet: „Herr, ich bitte dich nicht um ein ruhiges Leben, warm und satt, windstill und wellenlos. Ich bitte dich aber: Bleibe in meinem Boot. Das andere Ufer rückt näher, der Sturm nimmt zu und die Angst.“ Tief berührt saß ich da! Hatte ich tatsächlich gemeint, ich könnte in aller Ruhe, kulturvoll über den See fahren. Und wenn schon ich nicht glänze, vielleicht dann das Wasser und das Mondlicht. Aber nein!!!…. wenn Christus in das Boot tritt, dann wird es unruhig!
Neue Blicke auf eine alte Geschichte:
- Der Sturm ist nicht die Ausnahme, sondern der Alltag – wenn Christus dabei ist. Christus ist nicht in erster Linie zudeckender Trost, sondern eröffnender, herausfordernder Ansporn weit hinauszufahren auf das Meer (Vers 22) „Lasst uns über den See fahren. Und sie fuhren los!“
- Die Gelassenheit Jesu betrachten, in den Stürmen meines Lebens, in den turbulenten Zeiten. Aber es geht hier nicht um eine in sich versunkene Buddha-Gestalt, hinten im Boot. Es geht um Gott selbst, in Jesus, und der schläft. Die dunklen Stunden, in denen Souveränität flöten geht, da ist Ohnmacht, Trauer, Wut – auf Gott, der scheinbar nicht da ist, abwesend, HAT DER DAS ALLES VERPENNT? Der Herr schläft. Fast unvorstellbar, wie einer bei einem solchen tobenden Meer schlafen kann. Das Brüllen des Sturms, dazu das Wasser im Boot, alles tropfnass, und Jesus schläft. Alles in mir schreit, wie schon im Psalm: „Steh auf Herr, wieso schläfst du?“ Jesus aber schläft – und zwar auf einem Kissen (so bei Markus). Gott schläft. Gott in Jesus schläft. Ich will die Menschwerdung Gottes auch hier wirklich sehen.
Erwägungen
- Martin Buber hat das mal „Gottesfinsternis“ genannt. Dass wir in unserer modernen Kultur in erster Linie nicht die Anwesenheit erleben, sondern die Abwesenheit Gottes, die Gottesverfinsterung, wie Martin Buber das genannt hat, seine Verborgenheit.
Ist das moderner Atheismus – Nein!!! es ist der Hilferuf, ein Gebetsruf: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Es ist nicht die Frage: Gibt es Gott? Sondern es geht um die Frage: Wie ist Gott? Und die Antwort auf diese Frage bestimmt, wie ich lebe. Denn mein Leben soll eine Antwort auf diese Frage sein: Wie ist Gott? Und die Antwort hier: ER schläft! Gott schläft. Ein böses Wort? Während viele Menschen um Leben und Tod ringen und ihr Lebensschiff in arger Bedrängnis liegt, „schläft“ Gott. Kein Wunder, dass sich viele Menschen von ihm abwenden.
Aber, ist das nicht das große Risiko Gottes? Er zwingt nicht. Diese Geschichte zeigt uns, dass diese Gotteserfahrung auch in der Urkirche schon da war. Es ist eine Frage der Ehrlichkeit, ob wir sie bei uns zulassen. (Oder in Worten von Dorothee Sölle: Halten wir unsere „Fenster der Verwundbarkeit“ offen? – denn durch sie, durch die Fenster der Verwundbarkeit, der Verletzlichkeit auch unsres Glaubens, durch sie kommt Gott herein in diese Welt und zu uns.) - Ein erstaunlich-eindrückliches Bild, der schlafende Gott im Chaos von Kirche und Welt! Dieser unbekümmert schlafende Gott! Und dann diese Jünger (samt den erfahrenen Fischern) mit ihrem Geschrei in der Todesangst! Wieder ein neuer Blick auf diese alte Geschichte: dieser Gott ist ein Gott, der darauf wartet, dass wir hingehen und rufen, sonst macht er nichts, sonst schläft er weiter. Und dann geschieht nichts, vielleicht allerlei, aber doch nichts. Und das ist das Eigenartige an der Gottheit dieses Gottes, dass er mit seiner Gottheit darauf wartet, dass er gerufen wird, vom Menschen gerufen wird. Das ist sehr schwer zu begreifen und schwer zu ertragen: Er will nichts tun, es sei denn, er wird gerufen. Gewollt, bejaht. Das Gebet ist der Mittelpunkt des Glaubens an diesen Gott. Und dieser Gott lässt sich bewegen, er ist wandelbar, aber als der Treue. (Treue, das heißt: er lebt in der ständigen Wiederanknüpfung an sich selbst.) Das Gebet verändert Gott. Ohne das Gebet schläft Gott weiter bis zum St. Nimmerleinstag. Auch wenn ich überzeugt bin, dass er nicht apathisch ist, sondern, dass er im Schlaf oft weint.
Konkretion:
Wir müssen ihn wecken, d.h. ihn zur Gestalt erheben. Das ist das Gebet, das ist jenes Phänomen, das mit Gebet gemeint ist; nicht einfach nur das Dahersprechen von frommen Formeln, nicht einfach nur die kultische Verrichtung, nicht einfach nur das persönliche Zwiegespräch mit dem Erhabenen, das alles auch, ja, aber entscheidend ist und darauf läuft unsere Geschichte zu: Gott zur Gestalt zu erheben, ihn Gott sein lassen. Dem dient das Geschrei der Jünger: „Hej, du, nun komm und steh auf und mach was. Es ist höchste Eisenbahn!“ Die Lage ist ja auch zum Schreien!
Vielleicht erfahren wir dann auch das: Im Schreien, im Gestaltwerden Gottes, im Rufen, werde ich selbst wieder frei – frei zur eigenen Tat, raus aus der Schockstarre, aus der Gottesfinsternis, weil Gott durch mein „Fenster der Verwundbarkeit“ hereinkommt und die Chaosmächte zum Schweigen bringt.