Lukas 24, 1-12 – Unglaublich österlich!

Hinführung
Bitte entschuldigen Sie! Ich falle heute mit der Tür ins Haus: Glauben Sie, dass Jesus heute lebt? Dann antworten Sie auf den Osterruf: „Der Herr ist auferstanden!“ mit den Worten: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“. Sie dürfen dies ruhig ein paar Mal wiederholen und so in die Osterfreude eintauchen. Vielleicht wollen Sie auch einen Osterchoral singen, der das Osterlachen andeutet? Z.B. EG 103. Sehen Sie am Ende der Strophe die Stelle, wo die Silbe „ja“ auf drei Töne verteilt ist, so dass es so klingt: „Halleluja-HA – HA“. Wir dürfen uns freuen über den Sieg Gottes über die Macht des Todes. De jure, dem Anspruch nach, ist er besiegt. Das ist keine Schadenfreude, kein Auslachen, sondern eine existentielle Freude über die eigene Erlösung.

Bild
Hineingehen ins Dunkel! Wer macht das schon freiwillig. Das Unbekannte ist es, das uns Angst macht. Deshalb haben wir Angst vor dem Tod, weil wir nicht wissen, was da kommt. Ich möchte Sie einladen, als Übung, das Dunkel eine Weile auszuhalten. Vielleicht so ähnlich, wie in der Osternacht. Auch da gehen wir, vielleicht zögernd und tastend in die dunkle Kirche hinein. Machen Sie doch mal das Licht in Ihrem Zimmer aus, löschen Sie die Kerze, und wenn es immer noch nicht wirklich dunkel ist, dann lassen Sie den Rollladen herunter. Und dann nehmen Sie mit allen Sinnen wahr und lauschen auch in sich hinein. Nichts lenkt nun ab. Was finden Sie tief im Dunkeln?
Für die Frauen am Grab, die den Mut hatten, in die Grabhöhle hinein zu gehen (Vers 3a), eröffnet sich ein neuer Horizont. Sie werden ent-täuscht (Vers 3b), ihre Erwartung erfüllt sich nicht. Doch dann erfahren sie viel Größeres: Licht, Lichtgestalten und Worte berühren sie. Und als sie aus der Höhle herauskommen, sind sie nicht mehr dieselben. Ab da ging es nicht mehr um die Analyse des Dunklen, sondern um die Freude und Gewissheit, dass ER und wir erlöst sind von dem Dunkel.


Erwägung
Das Osterevangelium nach Lukas will die Freude (s.o. Hinführung) nicht schmälern. Aber es holt uns in die Realität ambivalenter Gefühle zurück und zeigt uns, dass der Zweifel die Schwester des Glaubens ist. Legen wir die beiden Geschwister Glauben und Zweifel auf eine Linie, dann sind damit nicht die Extreme gekennzeichnet. Dazwischen und daneben gibt es noch viele weitere Schattierungen: Vers 4: „Bekümmert sein“, Vers 5 „Erschrecken“, Vers 11: „nicht glauben“, Vers 12: „sich wundern“. Wenn wir in uns hinein spüren, werden wir noch andere Reaktionen wahrnehmen: Erstaunen, Verwirrung, Fragen, Leere, Sehnsucht, Wut… Ich finde, es lohnt sich diese Vielfalt ernst zu nehmen und auch in Begegnungen mit andern Menschen zu differenzieren. Der Weg von der Botschaft: „Der Herr ist auferstanden!“ bis hin zu der Antwort: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“, ist manchmal weit und verschlungen. Und selbst bei den scheinbar so offensichtlich Ungläubigen gilt es zu unterscheiden: Ist es ein radikaler, vielleicht aggressiver Atheist, oder ist es ein Gleichgültiger, oder ist für ihn/ sie alles nur „Geschwätz“ (Vers 11)? Ist es ein philosophischer Gottsucher oder vielleicht doch wie es Martin Walser sympathisch schrieb: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es“ (in: Über Rechtfertigung, Eine Versuchung, Rowohlt 2012, 33). Oder wie in einem seiner Gedichte: „Ich glaube nichts und ich knie“ (Heilige Brocken. Aufsätze – Prosa – Gedichte, Frankfurt 1988, 74). Wohl glauben zu mögen, dies aber nicht zu können. Wie weit ist der Weg zur österlichen Glaubensgewissheit? Noch einmal Walser: „Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon“ (Mein Jenseits, Berlin 2010, 66). Müssen wir doch erst hineingehen in das Dunkel? Um zu der lichten Gewissheit zu finden: Dass Jesus Christus für uns alle gestorben und auferstanden ist, als wir noch weit weg waren von ihm (vgl. Rö 5, 8). Hartmut Friebolin

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Lukas 8, 22-25 Der schlafende Gottessohn

Persönliche Hinführung
Ich war noch nicht lange auf meiner ersten Pfarrstelle, zwei Kleinkinder, heftig erkältet, die Arbeit wuchs mir über den Kopf, es gab heftige Konflikte mit einer Freikirche vor Ort, im Leitungsgremium, die Sekretärin ging in den Ruhestand, Erzieherin in Kindergarten kündigte, schwierige Schulklassen und und und. Das Wasser stand mir bis zum Hals. Es war kein Burnout…oder doch? Es wurde einfach zu viel, Herzrasen, Schweißausbrüche, unkonzentriert begann ich Aufgaben, um sogleich festzustelle, dass eigentlich anderes dringlicher ist. Dinge wurden nicht fertig. Ich konnte nicht umgehen mit den ständigen Unterbrechungen. Und vor mir türmten sich die „To dos“ bedrohlich. Der alltägliche Wahnsinn eines Berufsanfängers. Was tun? Ich nahm mir eine kleine Auszeit: Einen Tag und eine Nacht im Gästehaus eines Klosters in der Nähe. Auf dem Zimmer lag ein Büchlein mit Bibeltexten und Gebeten. Ich schlug es auf und landete bei der Sturmstillung und bei folgendem Gebet: „Herr, ich bitte dich nicht um ein ruhiges Leben, warm und satt, windstill und wellenlos. Ich bitte dich aber: Bleibe in meinem Boot. Das andere Ufer rückt näher, der Sturm nimmt zu und die Angst.“ Tief berührt saß ich da! Hatte ich tatsächlich gemeint, ich könnte in aller Ruhe, kulturvoll über den See fahren. Und wenn schon ich nicht glänze, vielleicht dann das Wasser und das Mondlicht. Aber nein!!!…. wenn Christus in das Boot tritt, dann wird es unruhig!


Neue Blicke auf eine alte Geschichte:

  1. Der Sturm ist nicht die Ausnahme, sondern der Alltag – wenn Christus dabei ist. Christus ist nicht in erster Linie zudeckender Trost, sondern eröffnender, herausfordernder Ansporn weit hinauszufahren auf das Meer (Vers 22) „Lasst uns über den See fahren. Und sie fuhren los!“
  2. Die Gelassenheit Jesu betrachten, in den Stürmen meines Lebens, in den turbulenten Zeiten. Aber es geht hier nicht um eine in sich versunkene Buddha-Gestalt, hinten im Boot. Es geht um Gott selbst, in Jesus, und der schläft. Die dunklen Stunden, in denen Souveränität flöten geht, da ist Ohnmacht, Trauer, Wut – auf Gott, der scheinbar nicht da ist, abwesend, HAT DER DAS ALLES VERPENNT? Der Herr schläft. Fast unvorstellbar, wie einer bei einem solchen tobenden Meer schlafen kann. Das Brüllen des Sturms, dazu das Wasser im Boot, alles tropfnass, und Jesus schläft. Alles in mir schreit, wie schon im Psalm: „Steh auf Herr, wieso schläfst du?“ Jesus aber schläft – und zwar auf einem Kissen (so bei Markus). Gott schläft. Gott in Jesus schläft. Ich will die Menschwerdung Gottes auch hier wirklich sehen.

Erwägungen

  1. Martin Buber hat das mal „Gottesfinsternis“ genannt. Dass wir in unserer modernen Kultur in erster Linie nicht die Anwesenheit erleben, sondern die Abwesenheit Gottes, die Gottesverfinsterung, wie Martin Buber das genannt hat, seine Verborgenheit.
    Ist das moderner Atheismus – Nein!!! es ist der Hilferuf, ein Gebetsruf: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Es ist nicht die Frage: Gibt es Gott? Sondern es geht um die Frage: Wie ist Gott? Und die Antwort auf diese Frage bestimmt, wie ich lebe. Denn mein Leben soll eine Antwort auf diese Frage sein: Wie ist Gott? Und die Antwort hier: ER schläft! Gott schläft. Ein böses Wort? Während viele Menschen um Leben und Tod ringen und ihr Lebensschiff in arger Bedrängnis liegt, „schläft“ Gott. Kein Wunder, dass sich viele Menschen von ihm abwenden.
    Aber, ist das nicht das große Risiko Gottes? Er zwingt nicht. Diese Geschichte zeigt uns, dass diese Gotteserfahrung auch in der Urkirche schon da war. Es ist eine Frage der Ehrlichkeit, ob wir sie bei uns zulassen. (Oder in Worten von Dorothee Sölle: Halten wir unsere „Fenster der Verwundbarkeit“ offen? – denn durch sie, durch die Fenster der Verwundbarkeit, der Verletzlichkeit auch unsres Glaubens, durch sie kommt Gott herein in diese Welt und zu uns.)
  2. Ein erstaunlich-eindrückliches Bild, der schlafende Gott im Chaos von Kirche und Welt! Dieser unbekümmert schlafende Gott! Und dann diese Jünger (samt den erfahrenen Fischern) mit ihrem Geschrei in der Todesangst! Wieder ein neuer Blick auf diese alte Geschichte: dieser Gott ist ein Gott, der darauf wartet, dass wir hingehen und rufen, sonst macht er nichts, sonst schläft er weiter. Und dann geschieht nichts, vielleicht allerlei, aber doch nichts. Und das ist das Eigenartige an der Gottheit dieses Gottes, dass er mit seiner Gottheit darauf wartet, dass er gerufen wird, vom Menschen gerufen wird. Das ist sehr schwer zu begreifen und schwer zu ertragen: Er will nichts tun, es sei denn, er wird gerufen. Gewollt, bejaht. Das Gebet ist der Mittelpunkt des Glaubens an diesen Gott. Und dieser Gott lässt sich bewegen, er ist wandelbar, aber als der Treue. (Treue, das heißt: er lebt in der ständigen Wiederanknüpfung an sich selbst.) Das Gebet verändert Gott. Ohne das Gebet schläft Gott weiter bis zum St. Nimmerleinstag. Auch wenn ich überzeugt bin, dass er nicht apathisch ist, sondern, dass er im Schlaf oft weint.

Konkretion:
Wir müssen ihn wecken, d.h. ihn zur Gestalt erheben. Das ist das Gebet, das ist jenes Phänomen, das mit Gebet gemeint ist; nicht einfach nur das Dahersprechen von frommen Formeln, nicht einfach nur die kultische Verrichtung, nicht einfach nur das persönliche Zwiegespräch mit dem Erhabenen, das alles auch, ja, aber entscheidend ist und darauf läuft unsere Geschichte zu: Gott zur Gestalt zu erheben, ihn Gott sein lassen. Dem dient das Geschrei der Jünger: „Hej, du, nun komm und steh auf und mach was. Es ist höchste Eisenbahn!“ Die Lage ist ja auch zum Schreien!
Vielleicht erfahren wir dann auch das: Im Schreien, im Gestaltwerden Gottes, im Rufen, werde ich selbst wieder frei – frei zur eigenen Tat, raus aus der Schockstarre, aus der Gottesfinsternis, weil Gott durch mein „Fenster der Verwundbarkeit“ hereinkommt und die Chaosmächte zum Schweigen bringt.

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Unendlichkeit(en)

Was ist Unendlichkeit?
Ein Symbol für Gott. Und ich finde eine ziemlich gutes.
„Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (1. Könige 8, 26f)

Oder mit Anselm von C. : „Gott ist das, worüber hinaus ich nichts größeres denken kann“. Im Grunde soll die biblische Rede von dem ewigen Gott genau dies sagen: Es übersteigt unser Denk- und Wahrnehmungsvermögen.
Aber können wir Unendlichkeit evtl. doch denken, uns doch irgendwie vorstellen?

– Meist redet man (in religiösen Kontext) von Ewigkeit. Dem Ewigen, ohne Anfang und ohne Ende. „…bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Ps. 90,2
Bei Paul Tillich (Religionsphilosoph) findet sich die hilfreiche Unterscheidung: Ewigkeit im Chronos (also im kontinuierlichen Zeitablauf) und die „Ewigkeit im Jetzt“ (Kairos), einem erfüllten Zeitmoment.
Andreas Gryphius betrachtet im Gedicht die Zeit unter den beiden Blickwinkeln:
Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht / die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein / und nehm’ ich den in acht
So ist der mein / der Jahr und Ewigkeit gemacht.

– Ein anderer Zugang findet sich in der Mathematik, da gibt es die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen (1,2,3….) und die Unendlichkeit der reellen Zahlen (-3; 2,7; pi …). Die Menge der reellen Zahlen ist größer als die der natürlichen Zahlen. Und die Mathematiker diskutieren, ob es zwischen den beiden „Unendlichkeiten“ ein Kontinuum gibt oder nicht (s. dazu den Podcast: https://detektor.fm/wissen/spektrum-podcast-unendlichkeiten.) Da geht es um Glaubensfragen!!

– Ich möchte nochmal anders ran gehen (angeregt von Nikolaus von Kues). Ein geometrisches Bild als Hilfestellung: Gott ist wie ein vollkommener Kreis. In diesen Kreis nun zeichne ich ein Dreieck. Dann ein Viereck, dann ein Achteck, und so weiter: ich erhöhe immer weiter die Anzahl der Ecken des Vielecks. Wird dieses in den Kreis gezeichnete Vieleck irgendwann den Kreis „erreichen“? Auf meinem Papier nie. In der Mathematik für x (Ecken) gegen Unendlich schon.


Ich finde dies gleichnishaft überwältigend. Wir Menschen, mit unserer Suche nach Gott, sind mit unserer Erkenntnis wie das zunehmende Vieleck. Wir suchen und fragen, wachsen, entwickeln uns, finden neue Erkenntnisse, machen neue Erfahrungen, besuchen Reliunterricht… Die Anzahl der Ecken erhöht sich. Jedoch werden wir damit nie den vollkommenen Kreis erreichen. Vielleicht aber immer mehr erahnen. Aber im Letzten bleibt es (geometrisch und theologisch) ein himmelweiter Unterschied zwischen uns und Gott und unser Weg zu ihm bleibt ein „Sprung des Glaubens“ (S. Kierkegaard). Das Suchen und Fragen wird nicht unsinnig. Nein! Aber es ist ein demütiges Suchen.

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Corona als Kränkung einer narzisstischen Gesellschaft (15.12.2020)

Coronapandemie als Kränkung der Menschheit
„Kränkungen der Menschheit“ ist ein von Sigmund Freud im Jahr 1917 geprägter Begriff für umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die, so Freuds These, das Selbstverständnis der Menschen in Form einer narzisstischen Kränkung in Frage gestellt haben. Die drei von ihm beschriebenen Kränkungen: kosmologische, biologische, psychologische Kränkung ergänze ich in aller Kürze um weitere. Am Ende steht m.E. die aktuelle Kränkung der Menschheit durch die Coronapandemie und ihre (noch nicht ganz absehbaren) Folgen.

Eine Kränkung, was ist das? (Reinhard HALLER): Da wird ein wunder Punkt getroffen im Einzelnen, aber auch im größeren Maßstab, also das Kollektiv betreffend: Der Selbstwert wird erschüttert, eine Art Demütigung oder Ehrverletzung geschieht, das Gerechtigkeitsempfinden wird verletzt, Ent-täuschungen (von Illusionen) werden hervorgerufen. Diese heftige Ohnmachts- und Kontrollverlusterfahrung der Kränkung kann ins Destruktive kippen: Dämonisierungen, Entstehung von Verschwörungsmythen (Michael Blume), Neid und Gewalt…. Gerade die Paranoia sind symptomatisch für eine narzisstische Welt. (Nach Otto F.KERNBERG die vier Eigenschaften des Narzissmus: 1. große Kränkbarkeit/Rücksichtslosigkeit, 2. Normen gelten nur für die anderen, 3. Hohes Aggressionspotential, 4. Paranoide Haltung: überall lauern Feinde. Dagegen ein gesunder Narzissmus, ders.: Zum „normalen Narzissmus gehören Ehrgeiz, Selbstsicherheit und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer. Ein gesunder Narzisst verfügt über eine innere Kontinuität, hat Freude an sich selbst und am Leben, durchaus auch funktionierende Beziehungen zu seinen “significant others” und besitzt die Motivation, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“).

1. kleinkindliche Kränkung: Es erfährt, dass es nicht die Mitte und der Umfang von allem ist, sondern nur Teil der Welt ist, begrenzt und ein „Mängelwesen“ (A. Gehlen)
2. kosmologische Kränkung: Kopernikus‘ Entdeckung 1543, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (vgl. Kopernikanische Wende).
3. biologische Kränkung: Die Menschheit ist in das Entwicklungssystem der Organismen eingegliedert. (bes. Darwin, 1859)
4. psychologische Kränkung: ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens entziehe sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. S. Freud (1895): Einsicht, (…) dass Ich nicht Herr in meinem eigenen Haus bin.
5. erkenntnistheoretisch Kränkung: Erkenntnis ist nicht objektiv, sondern an Bedingungen geknüpft: Raum und Zeit (I. Kant), ist interessengeleitet, zirkulär, herrschaftsgebunden, konstruiert…. usw. Und diese Kränkung verbunden mit dem Gefühl der Überforderung durch eine enorm gewachsene Komplexität. Dies hat oft die Folge, dass man sich ins Privater zurückzieht, ins Vertraute (Lit. Hartmann Vertrauen), Enge, Lokale, Nationale und auf die allzu „Simplen Wahrheiten“ (M. Gronemeyer)
6. Kränkung des Humanismus: Wozu ist der Mensch fähig (Ausschwitz, Judenverfolgung, NS, 2. Weltkrieg)
7. Kränkung des religiösen Bewusstseins (Nietzsche, Gott ist tot, Kirchenausstritte, Pluralismus, Säkularisierung; Relevanzverlust der Volkskirchen) Gott ist nicht mehr die „alles bestimmende Wirklichkeit“, sondern wurde zur Option.
8. Kränkung des Fortschrittsglaubens und des Machbarkeitswahns (Atomkatastophe Fukuschima 11.3.2011 und Naturkatastrophen)
9. Kränkung des westlichen Überlegenheitsgefühl: 9-11 und weitere Terrorerfahrungen. Verletzlichkeit der westlichen Zivilisation.
10. digitale Kränkung: Computer und Maschinen (künstliche Intelligenz), die unsere geistigen Leistungen erreichen und sogar übertreffen, uns tendenziell überflüssig machen und ohnmächtig werden lassen: Wir können sie nicht mehr beherrschen (vgl. Y. Harari).
11. Kränkung der Privatheit und Intimität: Netzwerküberwachung (NSA, Snowden, Algorithmen der wenigen großen Digi-Firmen: Facebook, Google…). „Wer glaubt, nicht manipuliert zu sein, ist dafür am anfälligsten“ (Y. Harari). „Alexa“ wurde jüngst (Dez. 2020, Landgericht Regensburg)) das erste Mal als Zeugin/Beweismittel in einem Strafprozess verwendet.
12. finanzielle Kränkung (2008 u.ö. Finanzkrise): Materielle Sicherheitsgefühl (Aktien, Immobilien, Verstehen des modernen Finanzsystems, Lobbyisten, Hedgefons) ging flöten. (Immobilienblase als Scheinwelt, hinter der nichts ist – ein typisch narzisstisches Phänomen ist für eine narzisstische Welt ein Spiegel und eine bes. große Kränkung). Bedrohung der privaten Ersparnisse durch eine mögliche kommende Inflation (2022).
13. Kränkung der europäischen Ideale: Europa und die Welt sind nicht solidarisch! Seit 2015 Flüchtlingskrise
14. Kränkung der Zukunftsutopie. Erschüttert wird die Vorstellung, dass es in der Zukunft mindestens genauso gut sein wird wie heute: Wohlstandes, Mobilität, Wissenschaft, Wachstum. Ungeachtet aller technischen/wissenschaftlichen Möglichkeiten, können wir die Natur nicht in einem Zustand erhalten, der uns in Zukunft gewogen sein wird. (Ökologische Krise, Erderwärmung, Artensterben) Irritation für eine narzisstische Gesellschaft, die nur auf sich und nicht auf die zukünftige Generation achtet.
15. Kränkung unseres Sicherheitsbedürfnisses: (Coronapandemie)
Es gibt für mich keinen Anspruch (an den Staat oder das Gesundheitssystem oder den Impfstoff) auf Unversehrtheit. Gesundheit und sogar das eigenen Leben ist ein relatives Gut und wird abgewogen mit wirtschaftlichen Gütern. Die Triage erfordert Opfer, evtl. von mir? Unsere Wissenschaft beruht auf Hypothesen nicht auf Fakten, sie ist überfordert. Mein Recht auf Selbstentfaltung erfährt scharfe Grenzen. Meine ziemlich sichere Arbeit und Verdienst und Erspartes gehören mir evtl. bald nicht mehr. Grundrechte werden den Notstandsgesetzen und dem Infektionsschutzgesetz untergeordnet. Wir haben es nicht mehr „im Griff“. Erleben, wie nahe und ferne Menschen einsam elendiglich sterben müssen. Tabumauern fallen und die eigenen elementaren Ängste vorm leidvollen einsamen Sterben werden wach. Ein kleines Virus bringt die ganze (!) Welt ins Wanken, mein Selbstbild, mein Weltbild.
Die islamistischen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und die weltweite Coronavirus-Pandemie können als zwei große welthistorischen Einschnitte im 21. Jahrhundert gelten. Unheimlicherweise tauchen in ihrem Windschatten viele Ähnlichkeiten auf: Man spricht vom Krieg (Macron), erst jüngst nannte der New Yorker Bürgermeister Beatmungsgeräte Waffen. Wie einst der Schläfer ist auch das Virus ein unsichtbarer Feind; wir teilen uns unwillkürlich ein in gefährliche und ungefährliche Zeitgenossen; mancherorts kommt es zu Pauschalverdächtigungen gegen ganze Bevölkerungsgruppen (samt Aufrufen zur Denuntiotion). Wieder einmal gibt es Einschränkungen im öffentlichen Leben, Nationalismus, Grenzschließungen, Turbulenzen auf den Märkten – und die digitale Überwachung ist weit fortgeschritten (in asiatischen Ländern insbesondere). Es werden große Gelder in die Hand genommen und auf ganz andere Felder verschoben (als urspr. geplant)! Die Ikonografie, eine Bilderwelt prägt. Ebenso unheimlich wie die zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers sind die Bilder von den großen Metropolen, die allesamt leergefegt sind. New York, Madrid, Paris. Das ist eine weit gestreute Albtraumvision, eine postapokalyptische Vision: menschenleere Straßen.
Soll die Pandemie so bekämpfen werden wie einst den islamistischen Terrorismus? (so Stefan Weidner) Anders formuliert: Die Reaktionen einer gekränkten narzisstischen Menschheit sind ähnlich, nur die Auslöser sind verschieden. Ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft verunsichert und zermürbt, führt in Apathie, Egozentrik und Argwohn. Unplausible Verordnungen stören, ja kränken das Gerechtigkeitsempfinden so vieler, bis durch fehlende Transparenz und Plausibilität ein gemeinsamer Verständigungsrahmen verlorenzugehen droht: zum Beispiel den, dass Macht durch Recht legitimiert wird und nicht Recht durch Macht.
Das Bedürfnis nach Sicherheit ist universal. Und es ist ein sehr starkes Bedürfnis in jedem von uns. Durchschauen wir die Mechanismen einer narzisstischen Kränkung? Könnenwir auf die Erfahrung von Hnmacht und Kontrollverlust zugehen und sie „annehmen“ , um wieder in die Selbstleitung (R. Cohn, TZI), die Selbststeuerung zu gelangen? Ja sogar dem Absurden in dieser Welt zu widerstehen und nach Sinn zu fragen, ohne das Leiden, das ohne Sinn ist, zu beschönigen, weil es von Gott nicht gewollt ist! Und doch nach Sinn zu fragen, nicht theoretisch, sondern Praktisch, um in eine Antwort „hineinzuleben“ (Rilke), um eine narzisstisch gekränkte Menschheit zu heilen.
Gibt es einen Ausweg aus dem heillosen Strudel einer narzisstischen Kränkung?
Liegt der Ausweg in dem „Annehmen“ der neuen bedrohlich wirkenden Situation? Um so einen Entwicklungsschritt einzuleiten, die bedeutungsschwangere Situation quasi als „Lehrmeister“ eines neuen Sehens und Bewertens und Lebens fungieren zu lassen? Wäre sodann vielleicht ein etwas demütigerer und einfühlsamerer Umgangs miteinander (gebildete Empathiefähigkeit) die Folge? Etwas mehr Bescheidenheit könnte wachsen gegen alles „Großspurige“, gegen den Neid und das Selbstgefühl der Großartigkeit. Vielleicht auch eine neue Wachheit, wenn wir erkennen, wieviel Böses aus Angst und Kränkung entstehen.
H. Friebolin (15.12.2020)

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R.M. Rilke schreibt in seinem Gedicht: Todes-Erfahrung: Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,Bewunderung und Liebe oder Hass dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund tragischer Klage wunderlich entstellt.Noch ist die Welt … Weiterlesen

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