Rezension zu
Eva-Maria Kenngott, Rudolf Englert, Thorsten Knauth (Hrsg.), Konfessionell – interreligiös -religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion. Praktische Theologie heute Band 136. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2015
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Die Ausweitung religiöser und weltanschaulicher Vielfalt ist gesellschaftlich gesehen zwar kein neues Phänomen, aber sie beschäftigt zunehmend den Religionsunterricht. Dies zeigt nicht zuletzt die jüngste Denkschrift des Rates der EKD, die den Religionsunterricht als jenen Ort an der Schule ausweist, der sich in zentraler Weise mit dieser Pluralität auseinandersetzt. Die Frage ist allerdings, welche Organisationsformen und didaktischen Modelle, aber auch welche bildungstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Begründungsfiguren und nicht zuletzt welche juristischen Argumentationslinien im Blick auf einen pluralitätsfähigen Religionsunterricht zukunftstauglich sind. Der von Eva-Maria Kenngott, Rudolf Englert und Thorsten Knauth herausgegebene Band versucht mit unterschiedlichen Fachbeiträgen Antworten auf die Fragestellung zu geben, auch in der aufgezeigten Breite und Tiefe.
Dabei ist schon der historische Entstehungskontext der in diesem Band versammelten Beiträge aufschlussreich. Die Texte entstanden zum Teil für eine Vortragsreihe an der Bremer Universität, mit der die politisch gewollte Neuorientierung des Religionsunterrichts im Stadtstaat Bremen wissenschaftlich flankiert und inspiriert werden sollte. In Bremen zeigt sich exemplarisch, dass sich der Religionsunterricht aufgrund der gesellschaftlichen Dynamik, die auch religiös-weltanschauliche Fragen berührt, im Umbruch befindet. Mittlerweile ist aus dem Bremischen Sondermodell des „Biblischen Geschichtsunterricht“ das „Fach Religion“ geworden, das sich didaktisch eng an dem Hamburger Modell des „Religionsunterrichts für alle“ orientiert.
Im ersten Teil des Bandes wird der mit dem Titel „konfessionell-interreligiös-religionskundlich“ markierte weite Bogen der derzeit im deutschen Sprachraum vorfindlichen Organisationsmodelle und Formen des Religionsunterrichts aufgespannt und mit einem Seitenblick auf Europa versehen. Dabei präsentieren jeweils authentische Vertreter/innen ihre Modelle, und sie tun dies dankenswerterweise durchaus selbstkritisch, diskursoffen, vorsichtig und ohne rechthaberische Attitüden. Insgesamt lässt sich im Überblick über alle Beiträge des ersten Teils des Bandes der Befund konstatieren, der auch von den Herausgebern im Schlusskapitel hervorgehoben wird, dass sich die ehemals auf Abgrenzung bedachten Modelle konfessionellen und religionskundlichen Religionsunterrichts tendenziell aufeinander zu bewegen. Der konfessionsbezogene Unterricht, der von Rudolf Englert aus katholischer und von Bernhard Dressler aus evangelischer Perspektive porträtiert wird, öffnet sich der Realität religiös-weltanschaulicher Vielfalt und schließt aus Gründen interreligiöser Verständigungsfähigkeit selbstverständlich auch religionskundliche Aspekte mit ein. Der Hamburger Religionsunterricht – dargestellt von Thorsten Knauth – versteht sich bewusst als Unterricht nach Art. 7,3 und zielt didaktisch auf die lebensweltbezogene Erschließung religiöser Bedeutungswelten durch die Schüler/innen in dialogischen Lernarrangements. Das ist etwas anderes als eine religionswissenschaftlich angeleitete, distanziert-analytische Betrachtung religiöser Phänomene. Auch der religionskundliche Unterricht, der sich derzeit in der deutschsprachigen Schweiz etabliert, ist in seinem Selbstverständnis nach Auskunft Dominik Helblings kein „Stricken ohne Wolle“; in ihm geht es durchaus auch um ein „learning from religion“, insofern Schüler/innen in der Begegnung mit religiösen Phänomenen zu Nachdenklichkeit und eigenem Fragen angeregt werden und Orientierung für ihre Lebensgestaltung gewinnen. Ähnliches gilt auch für das Modell LER in Brandenburg, deren Geschichte Eva-Maria Kenngott differenziert nachzeichnet: es knüpft in ihrer Sicht an die preußische Toleranztradition an und wurzelt konzeptionell in der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung. Mit der Einführung dieses staatlich verantworteten, für alle verbindlichen Faches sollte sichergestellt werden, dass auch in dem mehrheitlich nicht-christlichen Umfeld der ostdeutschen Schule die Dimension des Religiösen präsent bleibt.
Vor besondere Herausforderungen sieht sich in der Sicht Amin Rochdis der bekenntnisgebundene islamische Religionsunterricht in Deutschland gestellt. Als Lernangebot an der öffentlichen Schule kann er nicht in der katechetischen Vermittlung tradierter islamischer Lehrmeinungen aufgehen, wie das gegenwärtig viele Muslime erwarten. Er muss ein fachdidaktisch eigenständiges Profil theologischer Arbeit entwickeln, das darauf zielt, Schüler/innen zu einer eigenständigen und kritischen Auseinandersetzung mit islamischer Tradition im Horizont ihrer lebensweltlichen Situation als muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland zu befähigen. Aus dieser Perspektive wäre es sicher zukunftsweisend, die konfessionelle Kooperation, deren baden-württembergische Variante Lothar Kuld skizziert, im Blick auch auf den islamischen Religionsunterricht weiter zu denken.
Als Möglichkeit, die unterschiedlichen Formen von Religionsunterricht systematisch darzustellen, bietet Peter Schreiner aus europäischer Perspektive jene eingängige Differenzierung an, die zwischen learning (in) religion, learning about religion, learning from religion und learning through religion unterscheidet. Es ist deutlich, dass die in diesem Band porträtierten Modelle des Religionsunterrichts innerhalb dieses Spektrums jeweils eigene Akzente setzen, aber zunehmend auch unterschiedliche Mischungen dieser Formen realisieren.
Dem entsprechend bietet der erste Teil des Bandes auch nicht nur eine phänomenologische Bestandsaufnahme der vorfindlichen Organisationsmodelle von Religionsunterricht, sondern enthält darüber hinaus wichtige Impulse für ein weiterführendes sachbezogenes Gespräch zwischen den Unterrichtsformaten. So etwa, wenn Bernhard Dressler kritisch über den Wert der Wertevermittlung nachdenkt, die sowohl in kirchlich-konfessionellen als auch in religionskundlichen Kontexten als zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts apostrophiert wird. Religionsunterricht kann und soll in seinen Augen eben kein Werteunterricht sein, dessen Funktionalität leicht durchschaubar in der Legitimation gesellschaftlicher, oftmals durchaus „unmoralischer“ Ordnungen und Herrschaftsverhältnisse bestehe. Der gegenwärtig hoch gehandelte Wertbegriff könne seinen Ursprung in den Niederungen der Ökonomie als Waren-, Gebrauchs- und Tauschwert nicht verleugnen. Werte sind nicht sachhaft vorhanden, sondern werden kommunikativ ausgehandelt. Gerade angesichts neoliberal – marktlogischer Verzweckung von Werten müsse man klarstellen, dass Werte den Maximen der Würde der Person und deren Grundrechten nachgeordnet seien. Wenn der Religionsunterricht sich auf die Vermittlung von Werten reduziert, banalisiert er sich selbst und verliert, so Dressler, seinen Gegenstand: Religion als spezifische Form kultureller Praxis und eigenständiger Modus der Welterschließung.
Diese Impulse werden im zweiten Teil des Bandes vertieft. Dieser Teil versammelt v.a. Beiträge aus dem Umfeld des religionskundlichen Unterrichts, die allerdings mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und auch auf unterschiedlichen Niveaus an den Gegenstand herangehen. Bemerkenswert sind im Sinne der oben beschriebenen Tendenz zur Konvergenz der Modelle die Überlegungen von Joachim Willems zu einer religionskundlichen Didaktik. Auch der religionskundliche Unterricht ist für Willems ein bildender Unterricht, in dem es um die wechselseitige Erschließung von Selbst und Welt geht. Folglich „…muss den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu einer existentiellen Auseinandersetzung mit den Inhalten des Unterrichts und auch mit den Deutungsangeboten der Religionen gegeben werden.“ (S.171) Wo sind hier die Grenzen zu einem sich konfessionell verstehenden Religionsunterricht? Willems zieht die Grenzen dort, wo Schüler/innen unterrichtlich angehalten werden, selbst eigene Erfahrungen mit konfessionell bestimmten Selbst- und Weltdeutungsmustern zu machen. Im Rückgriff auf ethnologische Theorien sieht er die Aufgabe des religionskundlichen Unterrichts demgegenüber darin, Lernenden die hermeneutische Fähigkeit zur „dichten Beschreibung“ zu vermitteln, mit der religiöse Phänomene eben nicht nüchtern-distanziert betrachtet, sondern anteilnehmend-intuitiv gedeutet werden. Angesichts der Tatsache, dass auch konfessionell gebundenen Schüler/innen die „eigene“ Konfession oft sehr fremd erscheint, ist der Rückgriff auf religionsethnologische Methoden auch für den konfessionellen Religionsunterricht durchaus eine Option.
Interessant für alle Unterrichtsmodelle dürfte auch die staatskirchenrechtliche Reflexion von Nicolett Wels zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates im Blick auf LER sein. Staatliche Neutralität bedeute eben nicht Indifferenz oder gar eine atheistische Grundhaltung, sondern ziele vielmehr positiv auf eine wohlwollende und fördernde Haltung des Staates gegenüber den Glaubensgemeinschaften. Ebenso sei das Paritätsgebot nicht als Aufforderung zur formalen Gleichbehandlung aller Weltanschauungen zu verstehen; aus historischen und kulturellen Gründen sei die vorrangige Behandlung des Christentums im religionskundlichen Unterricht durchaus geboten.
Dass das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot, wie es im Beutelsbacher Konsens für die Politische Bildung formuliert wurde, auch für alle Formen des Religionsunterrichts gelten, betonen neben Wels auch andere Autoren. Diese Kriterien, ebenso wie das Kriterium des Wissenschaftsbezug, auf den Henning Schluß in seinem Beitrag besonders abhebt, rücken den konfessionellen und religionskundlichen Unterricht doch näher zusammen als dies oft wahrgenommen wird.
Auf eine letzte in den Beiträgen des Bandes angelegte Konvergenz sei hier noch verwiesen. In seinem sehr grundsätzlichen bildungstheoretischen Beitrag zum Verhältnis von Bildung und Religion kommt Dressler im Rückgriff auf Jürgen Habermas zu dem Ergebnis, dass religiöse Bildung im Sinne eines reflexiv-distanzierten Nachdenkens über religiöse Praxis so zu allgemeiner Bildung gehöre, dass auch ein „religiös unmusikalischer“ Mensch daran teilhaben könne und solle. Das trifft sich durchaus mit der Intention eines religionskundlichen Unterrichts, der die religiöse Dimension bewusst halten will auch in Kontexten, in denen Menschen sich explizit nicht religiös verstehen. Freilich macht Dressler gleichzeitig auch auf Grenzen eines solchen religiösen Bildungsverständnisses aufmerksam. Er verweist darauf, dass man unterscheiden müsse zwischen der Außensicht auf religiöse Praxis und der religiösen Rede selbst, die mit ihren Symbolen und Metaphern „semantische Überschüsse“ enthalte, die im reflexiven Diskurs darüber nicht eingeholt werden. Was diese Unterscheidung für die konzeptionelle Ausgestaltung religiöser Bildung bedeutet, wäre ein Ansatzpunkt für ein engagiertes fachdidaktisches Gespräch zwischen den verschiedenen Unterrichtsmodellen.
Einzig der Beitrag von Katharina Frank fällt aus diesem Duktus der Konvergenz betonenden Reflexion der Modelle heraus. Sie unterscheidet kategorial zwischen einem religionskundlichen und einem religiösen Modell, verortet auf der einen Seite Wissenschaftlichkeit, empirische Referenzen und die Beschränkung auf einen objektiven Beobachterstatus, und unterstellt auf der anderen Seite religiöse Vereinnahmung und Inklusion der Schüler/innen „ins Religionssystem“ (S. 207). Diese strikte Unterscheidung zweier Modelle religiöser Bildung wird auch nicht plausibler, wenn sie sich als systematisches Ergebnis qualitativ-empirischer Forschung darstellt.
Insgesamt ist die Intention des hier besprochenen Bandes, und in seinem letzten resümierenden Kapitel wird das auch herausgestellt: Er will Bewegung bringen in die Debatte um einen pluralitäts- und zukunftsfähigen Religionsunterricht. Im Unterschied zu der eingangs erwähnten EKD-Denkschrift, die das konfessionell-kooperative Modell prominent behandelt, werden hier die alternativen Modelle nicht vorschnell zur Seite gelegt und die Erträge eines vorurteilsfreien Diskurses zwischen den unterschiedlichen Formen religiöser Bildung sichtbar gemacht.
Vielleicht liegt die Zukunft des Religionsunterrichts in einem reflektierten Nebeneinander sich regional differenzierender Modelle. Zu wünschen wäre eine weiter gehende gegenseitige Öffnung und wechselseitige kritische Befragung, wie sie in diesem Band angelegt und empfohlen wird. Vermutlich haben sich in der Praxis des real existierenden Religionsunterrichts in Deutschland die verschiedenen Unterrichtsmodelle ohnehin längst viel weiter angenähert als dies in der akademischen Debatte wahrgenommen wird.
Dr. Rainer Möller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Comenius-Institut Münster