Rippmann Frömmigkeit

Dorothee Rippmann: Frömmigkeit in der Kleinstadt.
Jenseitsfürsorge, Kirche und städtische Gesellschaft
in der Diözese Konstanz, 1400–1530
.

Zürich: Chronos 2022.
ISBN 978-3-0340-1654-4. Gebunden, 316 Seiten, 53 Farbabbildungen
€ 68

 

Frömmigkeit und Wirtschaft:
Eine lokale Studie zu Stiftungen im Spätmittelalter.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine reiche Überlieferung für drei kleine Orte im ost-schweizerischen Thurgau hat die Forscherin herausgegeben und detailreich erschlossen.

Ausführlich:
Testamente sind eine Quelle, die mehr als jede Biographie oder Predigt etwas darüber aussagt, was Menschen einer bestimmten Zeit über den Sinn ihres Lebens über ihren Tod hinaus denken, die ‚Transzendenz‘ ihres individuellen und endlichen Lebens. In diesem Sinne das Jenseits. Eine berühmte Untersuchung barocker französischer Testamente zeigte, dass diese Quellengattung, die sehr viele Menschen verfassten, weniger etwas über das Individuum erkennen, wohl aber auf die ‚Mentalität‘ von Generationen schließen lassen.[1] Wie Menschen bei vollem Bewusstsein das Erbe regeln, ist weniger ein Ausdruck von Innerlichkeit, sondern umfasst einen umfassenden materiellen Transfer. Nicht nur das Erbe an Ehepartner und Kinder, also Familienegoismus, die Abgabe an die Gemeinschaft/den Staat wie heute; ein beträchtlicher Teil wird im Spätmittelalter aufgewendet für die Begleitung der Seele zum Jüngsten Gericht. Dazu beschenkt man zu Lebzeiten Arme, die guten Werke werden – entsprechend Matthäus 25[2] – auch die Qualen im Fegfeuer ver­kürzen. Doch weit bedeutender erweist sich der Vermögenstransfer an eine Kirche oder an ein Kloster, damit dort regelmäßig eine Messe gelesen wird für den Verstorbenen. Das gestiftete Geld muss ‚ewig‘ reichen für den Unterhalt des Priesters und die Kerzen („Ewigrenten“ 101). In weni­gen Fällen wurde das auch über die Reformation hinaus beibehalten. Dorothee Rippmann hat in diesem sehr gut ausgestatteten Buch eine Praxis des Spätmittelalters in der (heutigen Ost-) Schweiz untersucht und konnte dafür auf außergewöhnlich reiche Quellenbestände in den örtlichen Archiven zurückgreifen.[3]. Welche Mühe und Kleinarbeit hinter diesem Buch steht, das die Befunde auswertet, wird im Anhang deutlich und in der Aufmerksamkeit für die Materialität der Überlieferung (276-285, auch das Kapitel 53-66), die mühevolle Tran­skription der Urkunden (von denen im Text immer wieder Abschnitte zitiert werden[4] ) und dann die systematische Auswertung. Viele (53) Abbildungen in Farbe direkt im Text und mit ausführlicher Legende lassen das Material geradezu handgreiflich werden. Überhaupt ist der Band, fadengeheftet und fest gebunden, feine Buchkunst.[5]

Für eine Bestimmung von Religion als Gegenstand historisch-kulturwissenschaftlicher Untersuchung geht DR von der sozialen Praxis und deren sozial geformtem Symbolsystem aus, „das Weltorientierung, Legitimierung natürlicher und gesellschaftlicher Ordnungen und den Einzelnen transzendierende Sinngebungen mit praktischen Anleitungen zur Lebensführung und biographischen Verpflichtungen verbindet.“[6] DR unterscheidet die adelige, die bürgerliche, die bäuerliche Totenfürsorge.

Der Band erschließt eine Überlieferung dreier Orte: Im Mittelpunkt steht das Stift St. Pelagi­us in Bischofszell, das kleinstädtische Spital dort, dazu die Stiftungen zugunsten der Laien­bruderschaft an der Pfarrkirche in Sulgen sowie der Stiftung einer Messpfründe in der Filialkirche Berg mit der Überlieferung der Jahrzeitbücher und zahlreicher Urkunden. Man kann kritisieren, dass die Formulierungen der Urkunden weniger etwas über die Stifter und deren Frömmigkeit aussagen. Die klerikalen Schreiber verwenden Formeln, die auch in anderen Urkunden dieser Gattung so verwendet werden (DR gibt selbst ein schlagendes Beispiel S. 183f). Dass der wirtschaftlich ökonomische Gehalt so im Vordergrund steht, liegt nicht an den Laien, vielmehr formulieren auch das die Empfänger bzw. zum Lesen der Messen verpflichteten Kleriker.[7] Sie bestimmen auch, wenn der bestelle Kleriker seine Pflichten versäumt, dann wird das Kapital bzw. die Zinsen der Pfarrkirche entzogen und einer anderen Stiftung zugewiesen.

Große Aufmerksamkeit widmet DR neben den Chorherren des Pelagius-Stiftes (151-175) den Stiftungen, die Frauen – oft nach langen Jahren der Witwenschaft – stifteten (Kapitel 11 Frauenstiftungen 203-232; ebenso 139-149). Das zeigt, wie autonom auch Witwen handeln konnten. Weiter liegt der Fokus auf den Ständen: Adlige (67-100), Bauern (101-121), Bürgerinnen und Bürgern der Kleinstadt (129-149). Wenn Einzelne nicht so reich waren, übernahmen Gruppen kollektiv die Aufgabe und sorgten für Messgebete, die sich dann nicht nur für einzelne namentlich Genannte einsetzten, sondern für alle Christgläubigen eintreten. Während des 15. Jahrhunderts kommt es zu „sakraler Verdichtung“, d.h. es wird sowohl von mehr Menschen als auch mehr investiert. Vor allem wünschen sich Bewohner ländlicher Siedlungen eine eigene Kirche, regelmäßige Messen, einen eigenen Priester. Das Phänomen der Stiftungen als Banken, die das Wucherverbot (Zinsen auf Kredite zu nehmen) umgehen, ist zu ersehen, leider nur in wenigen Belegen.[8] Dazu kommen Kapitel zur Frömmigkeit und Jenseitsvorstellungen.

Die Vorstellung, durch eine Mikrostudie das Allgemeine im Einzelnen und Besonderen sichtbar zu machen, ist mit der Edition und Analyse nicht durchwegs gelungen. Aber ein umfangreicher Bestand in einem kleinen Umkreis ist vorgestellt und aufgearbeitet, zu dem im Vergleich es weiterer lokaler Studien bedarf. Im Bereich der Stiftskirchen ist noch viel zu tun.[9]

 

Bremen/Wellerscheid, Dezember 2023                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Michel Vovelle: Mourir autrefois. Attitudes collectives devant la mort aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 1974. Ders.: Les âmes du purgatoire ou le travail du deuil. Paris 1996. Und ders. Gemeinsam mit seiner Frau Gaby: Vision de la mort et de l’au-delà en Provence d’après les autels des âmes du purgatoire XV. – XX. siècle. (Annales. Cahiers 29) Paris: Colin 1970. Angesichts der umstrittenen Bedeutung von ‘Religion’ in der französischen laizistischen Wissenschaft wählte man in der Annales-Schule den Begriff der Mentalität. Vovelles (1933-2018) Untersuchung gilt als Muster der Analyse großer (‚serieller‘) Quellenbestände (statt individueller erzählender Quellen).

[2] Matthäus 25,31-46: Jesus als Weltenrichter erklärt: „Was Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt (Hungrige gespeist, Nackte bekleidet, Fremde aufgenommen, Kranke gepflegt), das habt Ihr mir getan.“ Die Szene ist beispielsweise auf der Gallus-Pforte am Basler Münster dargestellt.

[3] Dorothee Rippmann *1951. Freiberufliche Historikerin, habilitiert an der Uni Basel. Weitere Informationen UZH – Historisches Seminar – Prof. Dr. Dorothee Rippmann (27.5.2022).

[4] Die Autorin setzt voraus, dass Lesende die lateinischen und frühneuhochdeutschen/alemannischen Texte selbst entschlüsseln, was eine kleine Herausforderung darstellt, aber Entdeckungen fördert. Alle Texte, auch die im Buch nicht besprochen werden, sind in einer online-Edition zugänglich (S. 25: https://www.Chronos-verlag.ch/node/28269) und gehören zu einem Forschungsprojekt „Frömmig­keit in der Ostschweiz“.

[5] Ähnlich bibliophil ist der Band zur Zürcher Reformation, hrsg. von Francisca Loetz gestaltet, s. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/11/28/gelebte-reformation/ (28. Nov. 2023).

[6] DR 101. Sie lehnt sich an die Definition von Kaspar von Greyerz 1996, 330 an, vgl. Greyerz 2008, 11-13 an.

[7] Eine treffende Rezension ist zu finden von Alexander Sembdner in: H-Soz-Kult, 29.11.2022, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-112824>.

[8] DR 129-138; 186. Die Spitäler oder Stifte vergaben Kredite, durften dafür aber keine Zinsen nehmen (was nur Kaufleuten im Fernhandel, den ‚Lombarden‘, und Juden erlaubt war; die aber mussten angesichts des hohen Risikos hohe Zinsen nehmen). Die die Kredite erhielten, verpflichteten sich, zusätzlich zur Rückzahlung des Kredits ein Stiftungsgeld obendrein zu zahlen. Das Phänomen heißt oft montes pietatis ‚Berge der Frömmigkeit‘.

[9] Zu Recht orientiert sich DR für Kapitel 9 an der dichten Studie von Oliver Auge zur Stuttgarter Stiftskirche (Stiftsbiographien. Die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts 1250 – 1552. Leinfelden-Echterdingen: DRW-Verlag 2002; Ders. [u.a.] (Hrsg.): Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Württemberg. Ostfildern: Thorbecke 2019), aber das trifft wieder nur einen Teil der Fragestellung; zum andern war die Arbeit von Rosi Fuhrmann: Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation. Stuttgart: Fischer 1995 wegweisend, auf die DR mehrfach Bezug nimmt. Und natürlich sind die v.a. wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen von Hans-Jörg Gilomen grundlegend.

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