Abbruch einer Tradition?
Bestattungen und Trauer heute in historischer Perspektive
Barbara Happe: Der Tod gehört mir. Die Vielfalt der heutigen Bestattungskultur und ihre Ursprünge. 176 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen. Berlin: Reimer 2012. [29,95 EUR]
Zusammenfassend: Friedwälder, anonyme Bestattung, Schlager bei der Beerdigung. Ist das das Ende der christlichen Bestattungskultur? Barbara Happe kann aus ihrer großen geschichtlichen Kenntnis heraus zeigen, dass Ähnliches schon ganz lange praktiziert wurde und nicht heidnisch oder gegenchristlich zu verstehen ist.
Im Einzelnen: Barbara Happe[1] hat schon in ihrer Dissertation Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870 (Tübingen 1991) eine gut recherchierte Geschichte der Friedhöfe geschrieben. Einen lokalen Friedhof hat sie dann beschrieben Der Friedhof „Unter den Linden“ in Reutlingen […] 1800 – 1992 [Reutlingen 1994]. Dieses letztere Buch enthält einen der schönsten Druckfehler, den ich kenne: Ein berühmter Reutlinger Fabrikant hatte für sein Grabmal eine germanische Schicksalsgöttin gestalten lassen, eine Norne. Seine Frau hatte drum herum christliche Engel drapieren lassen; das war ihr zu heidnisch. Der Korrektor des Buches verchristlichte vollends das Grabmal, indem er Norne zu Nonne korrigierte. Das Beispiel kann zeigen, wie die individuelle Erinnerungskultur von Konventionen eingeholt, überdeckt und gemischt wird. Aus ihrer großen Kenntnis der Geschichte und der Gegenwart der Friedhofskultur hat BH jetzt ein beeindruckendes Buch geschrieben. Man könnte sagen, es geht um das Problem der Säkularisierung, aber es zeigt sich vielfach überraschend etwas anderes, nicht das Ende der Religion, sondern die Vielfalt individueller Entwürfe, die am Ende sich doch oft wieder als eine gemeinsame Haltung erweisen: der Tod gehört mir.
Es beginnt spannend mit der Abschiedsfeier von Max Frisch, der als Atheist seine Trauerfeier geplant in einer Kirche seiner Vaterstadt Zürich inszenierte (S. 7-9). Ein atheistisches Bekenntnis „Ich löse mich in Atome auf, die wieder in den Kreislauf der Materie zurück kehren“ in einer Kirche. Und warum in einer Kirche? Habermas zitierend deutet BH das als Transformation der Religion. – Sie schildert zunächst das Grab bei den Heiligen, in und um die Kirche, schöne Beispiele archäologisch illustriert.[2] Die Einheit von Heilig und Grab, von Kirche und Kirchhof hebt die Reformation auf. Ob das Luther zuzuschreiben ist (der sein Grab unter der Kanzel in der Kirche fand!) oder dem Platzmangel auf den Kirchhöfen, Luther hat das programmatisch frei gegeben. Die Rückkehr der Toten in die Kirchen, sprich die Umnutzung von nicht mehr für den Gottesdienst benötigter Kirchen zu Orten der Stille und der Ruhe der Toten (jetzt als Aschenurnen), hat BH in einem anschaulichen Kapitel Urnenkirchen dargestellt 120-133. Die neue Einheit Tote und Bäume, Park, Natur führt BH in einprägsamen Beispielen vor: Der alte Fritz in seinem Grab unterm Rasen, mit Kartoffeln geschmückt (S. 48 f). Oder Bismarck und „Herr von Ribeck auf Ribeck im Havelland“, beides von Theodor Fontane poetisch dargestellt (S. 50). Pyramiden, Ägypten als Garant der Ewigkeit, als Ort für die Asche von 100 Millionen, vor den Nazis erdacht, wahnhaft schön! (S. 53-57). Das Grab außerhalb der Stadt im städtische Friedhof, das Reihengrab, die anonyme Bestattung, das Gräberfeld mit der Namenspyramide oder Säule dabei (Jedermanns Grab, S. 58-72).
Ein zentraler Teil des Buches, das die Ergebnisse der Forschung von BH präsentiert ist die Frage nach der Feuerbestattung (74-95). Gerade 120 Jahre ist es her, dass Verbrennung in Deutschland wieder realisiert wurde (Gotha 1890) gegen massive Widerstände. Erst nur Sozialisten und Atheisten ist die Einäscherung denkbar geworden, nicht zuletzt aus ökonomischen, ökologischen, aus Raumgründen wird sie normal. In der DDR schon fast die Regel wächst die Akzeptanz auch anderswo. In eindrücklichen Grafiken ist das dargestellt: Europa mit Schweiz an der Spitze (82%), Deutschland schon 62%, das katholische Polen nur 7% trotz seiner kommunistischen Vergangenheit. Aber der vergehende Körper: ist das auch das vergehende Individuum, das keine Zeichen hinterlässt? (96-119) Gemeinschaftsgräber nehmen zu. Ein Nachteil? Und dann das Grab im Wald (134-163 Vom Waldfriedhof zum Friedwald). Der Zwang zur Einäscherung, zum heidnischen Grab in der Heide, das könnte man an Hilligenlohe in Hude (zwischen Bremen und Oldenburg) schildern. Das letzte Kapitel schildert die grablose Bestattung, das Verstreuen der Asche, im Fluss, auf der See, in der Luft.
Barbara Happe ist ein wunderbares Buch gelungen: Ergebnisse einer statistischen Untersuchung hat sie in einem historisch fundiertem Buch, mit sofort einleuchtenden Grafiken wie S. 109 (Der Graben zwischen Erdbestattung und Einäscherung zwischen Nordost- und Südwestdeutschland – nicht: ex-DDR gegen alte BRD!), Illustrationen, Fotografien und wunderbaren Zitaten dargestellt. Ein ebenso kluges wie aufregendes und aufklärendes Sachbuch. Gratulation!
15. November 2012 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
[1] Im Folgenden mit den Initialen abgekürzt BH.
[2] Als Verfasser einer mittelalterlichen Eschatologie (1996, erweitert als Himmlische Wege und irdischer Lohn, 2002) erlaube ich mir folgende Korrektur: die exklusiven Plätze nahe dem Altar sind attraktiv, nicht „weil der Christus am Weltende zuerst in der Kirche erscheint“ (21), sondern weil die (als Reliquie) im Altar begrabenen Heiligen sich für die am nächsten bei ihnen Begrabenen als Fürsprecher beim Weltenrichter Christus verwenden (Interzession).