Martina Dürkop: Das Archiv für Religionswissenschaft in den Jahren 1919 bis 1939, dargestellt auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Otto Weinreich und Martin P:n Nilsson. (Religionswissenschaft 20) Berlin: LIT 2013. [IX, 506 S., ISBN: 978-3-643-11129-6, €49.90]
Religionswissenschaft 1919-1939 –
deutsch-schwedische Wissenschaftsgeschichte
Das Archiv für Religionswissenschaft war die Institution, welche das Fach Religionswissenschaft nicht nur als Forum der Disziplin nutzte, sondern das wiederum entscheidend zur Ausbildung des Faches beitrug. Denn es wurde vor der Einrichtung der ersten Professur in Deutschland[1] (Berlin 1910, Edvard Lehmann) gegründet, und auch später gab es nur je eine Professur in Leipzig (ab 1912) zunächst besetzt mit (dem dann 1914 zum Erzbischof von Uppsala gewählten Schweden) Nathan Söderblom, und in Marburg mit dem sich sehr anders verstehenden Rudolf Otto (ab 1917, aber mit der Denomination Systematische Theologie). Später vertraten das Fach der Otto-Schüler Gustav Mensching (1936–1972 Prof. in Bonn) und der wegen seiner Mitgliedschaft und Tätigkeit in NS-Organisationen (NSDAP, SS) 1949 in den Ruhestand versetzte Jakob Hauer (1927–1945 Prof. in Tübingen). Bis in die Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts kann man da kaum von einem Fach im Sinne einer akademischen Disziplin mit etwa organisatorischen Strukturen und einem eigenen Fachdiskurs sprechen. Neben der theologischen und der indologischen Richtung gab es aber die profilierte und im dichten Fachdiskurs stehende Religionsforschung zu den antiken Religionen, insbesondere der griechischen. Diese ganz unterschiedlichen Kompetenzen und Perspektiven integrierte das ARW.[2] Ohne die Professuren in Schweden (und die Niederländer, v.a. Geradus van der Leeuw, 1918–1950 Prof. in Groningen), die wissenschaftlich und finanziell die Zeitschrift mit trugen, wäre das ARW nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich nicht lebensfähig gewesen; so aber wurde es zum internationalen „Zentralorgan“ des Faches.[3]
Als es die Religionswissenschaft in der BRD Ende der 1980er Jahre für den Fachdiskurs notwendig einschätzte, – neben dem Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe[4] – auch wieder eine deutschsprachige Zeitschrift zu gründen, stand die Überlegung im Raum, an die große Tradition des ARW anzuknüpfen.[5] Aber dort, wo das ARW in seiner vierten Phase sich selbst wissenschaftlich desavouiert hatte, in Rasseforschung und ‚völkischer‘ Volkskunde,[6] durfte eine Religionswissenschaft nicht anknüpfen. So reifte – nach der Gründung der ZRGG und Numen – der Entschluss, dem aufblühenden Fach ein deutschsprachiges Forum zu eröffnen: die Zeitschrift für Religionswissenschaft.[7] Es folgte mehr in der Tradition des ARW und im alten Verlag B. G. Teubner für die antiken Religionen das Archiv für Religionsgeschichte.[8]
Das ARW wurde 1898 von dem Bremer Gymnasiallehrer und Ethnologen Thomas Achelis begründet [Phase 1, 1898-1906, also noch vor der ersten Universitätsprofessur für Religionswissenschaft], mit Band 7 (Vorwort!) wurde es von einem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Altertumswissenschaftler,[9] dem Schwiegersohn von Hermann Usener,[10] Albrecht Dieterich, neu aufgestellt [Phase 2, 1907-Band 19 (1916-19) im Verlag B. G. Teubner]. Nach dem Ersten Weltkrieg kam die religionsphänomenologische Methode hinzu [Phase 3, 1920-1935], 1936 bis zum letzten Band 37 (1941/42) verdrängten vorwiegend rassegeschichtliche und ‚volkskundliche‘ Thesen [Phase 4] die philologisch-kulturwissenschaftlichen Methoden.
Martina Dürkop untersucht in ihrer Monographie [Diss. Erfurt 2009] Phase 3 und 4 anhand der Korrespondenz der beiden Herausgeber (1923-1935) Otto Weinreich (1886-1972) und Martin Persson Nilsson (1874-1967) die Wissenschaftsgeschichte der Religionswissenschaft in der Zeit zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg.[11] Dieser Briefwechsel ist auf den Seiten 259-462 vollständig ediert. Dazu hat MD weitere archivalische Quellen verwendet, und ein umfangreiches Literaturverzeichnis (467-496) zeugt von intensiver Arbeit. Ein Index erschließt die Namen. So hat MD eine immense Arbeit mit der umfassenden Darstellung der Religionsforschung besonders in Deutschland und Schweden geleistet: Besonders die schwedisch-sprachige Forschung ist hier erstmals umfassend und nicht nur marginal erfasst. Aber auch die Religionsforschung über die Altertumswissenschaft hinaus, die Volkskunde auf dem Weg in eine völkische Wissenschaft, die Anthropologie auf dem Weg zur Rassenkunde werden beleuchtet. Wer waren die Akteure, welche Absichten verfolgten sie?[12] Und dahinter stand ein bedeutender Verlag der Geisteswissenschaften, B.[enedictus] G.[otthelf] Teubner, 1811 gegründet.[13] Die wirtschaftlichen Probleme des Verlagswesens nach dem Ersten Weltkrieg durchziehen fast jeden Brief, die finanzielle Unterstützung aus Schweden rettete über den Stillstand von Veröffentlichungen, wobei der Verlag das Geld für die Zeitschrift auch fürs eigene wirtschaftliche Überleben manchmal abzweigte.
Dass die Forschung der theologischen Fakultäten dabei nicht vertreten, das Altertum und Ethnologie überproportional repräsentiert sind, liegt an den beiden Herausgebern und auseinander driftenden Fachdiskursen.[14] Für den Ausschnitt der Religionsforschung in der Zwischenkriegszeit, der sich aus den Wissenschaftlern ergibt, die Beiträge für das ARW lieferten, hat MD einen wertvollen Baustein geliefert, der insbesondere die schwedische Forschung erschließt.
Bremen, September 2013 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
[1] Der erste Lehrstuhl für das neu begründete Fach – nach der programmatischen Grundlegung durch den deutsche Indologen in Oxford Friedrich Max Müller als Science of Religion (also systematisch nach naturwissenschaftlichen Modellen aufgebaut; die Einführung erschien Introduction to the Science of Religion: Four Lectures, London 1873; dt. Einleitung in die Vergleichende. Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen, Strassburg 1874) – wurde in der Schweiz, in Genf, 1873 eingerichtet (dazu Christoph Uehlinger: Religionswissenschaft in der Schweiz: Geschichte und aktuelle Perspektiven, in http://www.ch-hochschullehrer.ethz.ch/pdfs/10_Bull1-2010_web.pdf 5-12; Philippe Borgeaud 13-17 zu Genf),in den Niederlanden, in Leiden, mit Cornelis Petrus Tiele (Prof. 1877 – 1901).
[2] Im Folgenden kürze ich die Autorin mit ihren Initialen MD ab. Das Archiv für Religionswissenschaft mit ARW. OW steht für Otto Weinreich, MN für Martin Nilsson.
[3] Im Brief Nr.13 hofft OW, dass „durch eine Unterstützung Ihrer [Stockholmer Religionswissenschaftlichen] Gesellschaft das Archiv zu einem Zentralorgan ausgebaut werden könnte.“ S. 266.
[4] Das HrwG in 5 Bänden, hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Mathias Laubscher (bzw. an seiner Statt ab Band 4 Karl-Heinz Kohl, wie Laubscher Ethnologe), Stuttgart [u.a.] Kohlhammer 1988-2001.
[5] Nach dem Irrweg des ARW wurden nach 1945 zwei andere Zeitschriften geründet: Die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 1( 1948)- von Hans-Joachim Schoeps und Ernst Benz mit einem Schwerpunkt in Jüdischen Studien und Europäischer Religionsgeschichte. Und als Organ der International Association for the History of Religions folgte Numen 1(1954)-. Diese war zwar zunächst offen für andere Sprachen, entwickelte sich dann aber zu einem rein englischsprachigen Journal. Numen (mit lateinischem Nvmen) verweist in der Anfangsphase auf das Numinose.
[6] Hubert Cancik hat – mit altertumswissenschaftlicher Expertise – diese Phase beschrieben: Antike Volkskunde 1936, in: Der Altsprachliche Unterricht 25, 3 (1982), 80-99 (= Zur Geschichte der klassischen Philologie und des Altsprachlichen Unterrichts I (hg. v. Hubert Cancik und Rainer Nickel).
[7] Die ZfR „im Auftrag der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte“ mit Band 1 (1993) begründet von Burkhard Gladigow und Günter Kehrer, Monika Horstmann, Kurt Rudolph, Hubert Seiwert im Diagonal-Verlag, Marburg (Steffen Rink; Thomas Schweer). Seit Jahrgang 19(2011) beim Verlag de Gruyter, Berlin/Boston.
[8] Das ARG hrsg. von Jan Assmann, Fritz Graf, John Scheid, Tonio Hölscher, Ludwig Koenen begann mit Band 1(1999) im Verlag des ARW, B.G. Teubner (dessen altertumswissenschaftliches Programm dann 1999 von K. G. Saur gekauft und später bei de Gruyter die verlegerische Betreuung fand).
[9] Zum Konzept der Altertumswissenschaft s. Christoph Auffarth: Ein Gesamtbild der antiken Kultur. Adolf Erman und das Berliner Modell einer Kulturwissenschaft der Antike um die Jahrhundertwende 1900. In: Bernd U. Schipper (Hrsg.): Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854-1927) in seiner Zeit. Berlin; New York 2006, 396-433.
[10] Zur Bedeutung von Hermann Usener für die Religionswissenschaft und die Kulturwissenschaft s. Hans-Joachim Mette: Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856-1979. In: Lustrum 22 (1979/80), 5-106, bes. 71-73. Dieterich sammelte eine große Schülerschaft, die seine Ideen weiter verfolgten, als AD schon 1908 starb, zweieinhalb Jahre nach Usener. Zur Bedeutung von Usener (u.a. für die Warburg-Schule) s. Roland Kany: Mnemosyne als Programm: Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin. Tübingen: Niemeyer 1987.
[11] Enger am Fach als Manfred Bauschulte: Religionsbahnhöfe der Weimarer Republik: Studien zur Religionsforschung 1918-1933. Marburg: Diagonal 2007. Zur Wissenschaftsgeschichte der Zeit wichtig Horst Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft : das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches. Stuttgart: Steiner 1999. Fritz Heinrich: Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung. Petersberg: Imhof 2002, 83-200. Steven M. Wasserstrom: Religion after Religion: Gershom Scholem, Mircea Eliade, and Henry Corbin at Eranos. Princeton, NJ: Princeton UP 1999.
[12] Die sorgfältig recherchierten Bio-Blibliogramme sind gut in die Argumentation integriert. Sie sind weitgehend fehlerfrei. S. 274 A. 2 Symbolae Osloenses und S. 211 Hans Heinrich (nicht Henniing, so auch im Index) Schaeder; sonstige Fehler im Text erklären sich in der Regel leicht. 135 sollte zu Weber ergänzt werden „der Althistoriker Wilhelm Weber“.
[13] Wechselwirkungen: Der wissenschaftliche Verlag als Mittler. 175 Jahre B. G. Teubner 1811 – 1986. Stuttgart: Teubner 1986. Darin zu den Altertumswissenschaften im Verlag Reinhold Merkelbach. Der letzte Verlagsleiter war fast dreißig Jahre Heinrich Krämer. Während der mathematisch-naturwissenschaftliche Zweig den Namen mitnahm, konnte Saur und de Gruyter nur die berühmte Textreihe unter dem Traditionsnamen weiterführen, die Bibliotheca Teubneriana. Die Verleger Giesecke und Devrient hatten / haben ihr starkes Standbein im Druck von Wertpapieren/Geldscheinen.
[14] Der scharfe Widerspruch der (evangelischen) Dialektischen Theologie zur religionsgeschichtlichen Schule und die Zensur der katholischen Kirche gegenüber der historischen Forschung in Gestalt des Modernismus klammerten das Christentum aus der Frage nach Genese, Synkretismus und Kontinuitäten aus. Bemerkenswert die solitäre Gestalt des Franz Josef Dölger (katholisch) mit dem Projekt „Antike und Christentum“ und (evangelisch) etwa Hans Lietzmann und Walther Bauer.