Gustav Adolf Krieg: Deutscher Kirchengesang in der Neuzeit. Eine Gesangsbuchanthologie.
Berlin: Verlag der Weltreligionen 2013. [984 S. mit Noten. ISBN 978-3-458-70040-1 Leinen. EUR 54.00]
Die singende Gemeinde: Nicht-vorgeschriebene Religion? Evangelische und katholische Gesangbücher.
Zusammenfassend: Sowohl in der Kirche wie in der Familie gesungen, haben die religiösen Lieder Sonntag und Alltag bis vor einer Generation geprägt und die konfessionelle Identität bestätigt.
Ausführlich: Das Buch ist ganz anders angelegt als das entsprechende in der gleichen Reihe zu den lateinischen Hymnen und ihren Nachwirkungen (besprochen auf dieser Web-site).[1] Gustav Adolf Krieg[2] nimmt sich nicht die einzelnen Lieder und ihre Verwendung in einem kulturgeschichtlichen Kontext vor, nicht die großen Dichter von Luther über Paul Gerhardt zu Jochen Klepper, sondern die Bücher, die für den Gemeindegesang, für das Singen in der Familie und im Dorf ausgewählt und in Großauflagen gedruckt wurden: Massenmedien der Neuzeit und der Moderne. Die nicht abgeschlossen Datenbank zu den Gesangbüchern umfasst mehr als 28.000 Titel.[3] Denn Singen ist eine Kommunikationsform, die eine informelle Gemeinschaftsform herstellt, die die Wir-Identität komplementär herstellt in Abgrenzung von anderen Gruppen. Zwar werden diese Glaubenslieder auch bei den großen nationalen Tagen gesungen, wie „Großer Gott, wir loben dich.“ (Nr. 381 im aufgeklärt-katholischen Wien 1774, seit 1819 auch in evangelischen Gesangbüchern [S. 922 im Stellenkommentar]), aber der Ort des Gesangbuchs ist katholisch die Kirche, evangelisch außer der Kirche besonders die Familie, die sog. Hausandacht. Bis in die Sechziger Jahre konnten die meisten Deutschen oft mehr als nur den ersten Vers der populären Lieder auswendig mit singen.[4] Das Kirchenlied bildet einen „Spiegel der Kultur- und Mentalitätsgeschichte par excellence“.[5]
GAK stellt seine Gesangbuchzusammenstellung unter die These: „In jedem Falle setzen Gesangbücher ein Christentum voraus, das den Laien eigenständige Frömmigkeitspraktiken gegenüber dem Klerus zubilligt.“ (596) Das gilt freilich weder für die katholische singende Gemeinschaftsbildung noch für die protestantischen Formen. Nicht nur dass Zwingli und Calvin – im Gegensatz zu Luther – wenig von Musik hielten; auch für die evangelische Hausandacht sind Gesangbücher nicht einfach Ausdruck der Laien, sondern theologisch-poetische Vor-Schriften des „Glaubens“. Freilich feilten die Liederdichter an der Verständlichkeit der Texte, vermieden nur-poetische Wörter; freilich dichten viele Nicht-Kleriker. Die Melodien dürfen nicht zu kompliziert sein, aber es gibt genug anspruchsvolle und rhythmisch herausfordernde Musik. Einige Texte haben die Dichter sogar zu beliebten Schlagern neu unterlegt, sog. Kontrafakturen. Berühmt etwa „Oh Welt, ich muss Dich lassen.“, das Heinrich Isaak zunächst dichtete, weil er seine bisherige Arbeitsstelle verlassen musste („Innsbruck, ich muss dich lassen.“ Von GAK nicht aufgenommen).[6] Luther lehnte sich oft an die populären Leisen an (von dem am Strophenende wiederkehrenden Kyrie eleison).
Das Besondere dieser Sammlung besteht darin, dass GAK gerade auch heute nicht mehr gesungene Lieder – oft einschließlich der Noten der Melodien – vorstellt. Es beginnt mit dem Reformationsjahrhundert: den ersten evangelischen Gesangbüchern 1524-1534 und dem ersten katholischen Gesangbuch seit 1537 (Texte 9-124; Kommentar 596-653). – Gegenreformation und Konfessionalismus (Texte 125-315; 654-725). – Der Pietismus 1680-1778 (Texte 316-455; 726-767). –Aufklärung 1757-1812 (Texte 456-589; 768-812). Er endet mit der Restauration 1813 (590-592). Der Kommentar beschreibt die Entwicklung noch etwas weiter (813-824), leider kann das nur in knappen Zügen geschehen: Die Wiederkehr der Konfessionen, Gesangbuchgeschichte im Kontext nationaler Entwicklungen (Restauration wird nur evangelisch buchstabiert, die massive „Heilige Allianz“ unter katholischen Vorzeichen ist nur angedeutet), was auf die Ebene reduziert wird: von den regionalen Gesangbüchern zu den national einheitlichen (evangelisch 1853; katholisch 1962). Eine Analyse der Liederrevision im Nationalstaat und nicht zuletzt im Nationalsozialismus wäre eines langen Kapitels wert.[7]
Die knapp 300 Jahre Gesangbuchgeschichte bricht GAK ab. Entstanden ist eine Sammlung, die diese wichtige Gattung in ihrer historischen Entwicklung und die Sprache prägenden Bedeutung erkennen lässt.
27.1.2014
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
[1] Der Klang der Ohrwürmer: Lateinische Hymnen auch außerhalb der Kirchen. Alex Stock (Hrsg.): Lateinische Hymnen. 2012. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/01/14/lateinische-hymnen/
[2] Im Folgenden meist abgekürzt mit den Initialen GAK.
[3] http://www.gesangbucharchiv.uni-mainz.de/104.php (26.1.2014).
[4] „Vers“ ist in dem Zusammenhang der umgangssprachliche Ausdruck für Strophe, nicht für die Zeile.
[5] Ein Doktorandenkolleg in Mainz hat 1996- die Gattung „Kirchenlied“ untersucht. Richard Faber zitiert in der Einleitung zu Säkularisierung und Resakralisierung. Zur Geschichte des Kirchenlieds und seiner Rezeption, hrsg. von Richard Faber. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 7 Hermann Kurzke, einen der Initiatoren. Die weiteren Veröffentlichungen aus dem Forschungsprojekt sind verzeichnet: http://www.gesangbucharchiv.uni-mainz.de/142.php (26.1.2014). Siehe auch den Beitrag von Christoph Auffarth: „Ein Hirt und keine Herde“. Zivilreligion zu Neujahr 1900. In: C.A.; Jörg Rüpke (Hrsg.): Ἐπιτομὴ τῆς Ἑλλάδος. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier. (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 6) Stuttgart 2002, 203-223.
[6] Es liegt kurz vor der Reformationszeit, aber Bach hat es mehrfach verwendet, etwa in der Kantate In allen meinen Taten, BWV 97 (1734).
[7] Sprechende Beispiele bei Ingeborg Weber-Kellermann: Das Buch der Weihnachtslieder. München: Goldmann 1982. Mainz: Schott 112008. Matthias Biermann: „Das Wort sie sollen lassen stahn…“ – Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der evangelischen Kirche 1933 bis 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, ²2011. Cornelia Kück: Kirchenlied im Nationalsozialismus. Die Gesangbuchreform unter dem Einfluß von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen. Leipzig: Evangelische Verlags-Anstalt 2003.