Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 1
Die Wunder Jesu.
Hrsg. von Ruben Zimmermann.
In Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer, Judith Hartenstein, Christan Münch, Enno Edzard Popkes, Uta Poplutz. (Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1) Gütersloh: Gütersloher Verlags-Haus 2013. [XIII, 1084 S., Ill., graph. Darst.]
Wunder sind ein alter Hut?
Antike Wundererzählungen
Zusammenfassend: Wunder stehen im Widerspruch zum modernen Weltbild. Wunder sind ein zentraler Bestandteil der Bedeutung Jesu. Das Handbuch beantwortet das Dilemma nicht durch eine metaphorische oder symbolische Deutung, sondern nimmt sie als Erzählung ernst. Eine Befreiung aus einer falsch gestellten Alternative. Tolles Buch, das man auch privat anschaffen sollte, jedenfalls gehört es in jede Lehrerbibliothek!
Im Einzelnen: Ruben Zimmermann[1] hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen ein Kompendium organisiert und herausgegeben, das schon unverzichtbar als Handbuch gerne benutzt wird: Das Kompendium der Gleichnisse Jesu.[2]. Der große Vorzug des ersten Kompendiums liegt in seiner Vollständigkeit, einem mehrperspektivischen Zugang, der Herausarbeitung von Kontext und theologischen Besonderheiten des jeweiligen Evangeliums. In dem hier neu erarbeiteten umfangreichen Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen nehmen sich die 65 Autoren des Teams die Wundererzählungen vollständig vor, in dem ersten Band alle Wunder, die dem Wundertäter Jesus zugeschrieben sind. RZ teilt nicht typologisch auf (Speisungswunder, Heilungswunder, Naturwunder, Strafwunder etc.[3]), sondern nach den Evangelien, ihren Erzählzusammenhängen und den Gemeinden, von und für die sie erzählt werden. Damit ist schon ein deutlicher Perspektivwechsel erkennbar: Es geht nicht mehr um die Frage, ob es Wunder gibt. Ob durch den Wandel vom antiken Weltbild zur modernen rational-naturwissenschaftlichen Erkenntnis die ganzen Mirakel (wie Bultmann sie abgrenzt von dem großen Wunder des Glaubens, das sich an der Menschwerdung und an der Auferstehung Christi festmacht) bedeutungslos geworden sind, abgesehen von dem, was Jesus fordert: nicht Staunen, sondern Glauben. Nicht staunen über einen außerirdischen Erlöser und Wundertäter, sondern das aktive Annehmen im Glauben. Gegenüber der alten Fragestellung kehrt RZ zur Exegese zurück: Es geht erstens um die Erzählung, dabei nicht nur um die Wirkung bei den Zuschauern (erschrecken, leugnen, staunen, glauben, weitererzählen trotz Verbot), sondern um die Handlung des Wundertäters (das ist mehr als eine „Symbolische Handlung“, wie Theißen das nennt), bei den Synoptikern um – exemplarische – Linderung von Not; im Johannes-Evangelium um Zeichen der Überfülle, wenn der Messias kommt. Und schließlich sind Wunder Zeichen für die Anwesenheit Gottes – hinter dem konkreten Wundertäter – und sein Sieg über die Not erzeugenden Mächte des Teufels und der Dämonen.
Das Handbuch ist in sieben Abschnitte eingeteilt: Der (nicht gezählte) Einleitungsteil zu grundlegenden Fragen zu den neutestamentlichen Wunderzählungen und diese im größeren Rahmen von antiken Wundererzählungen 1-162. Dann Erzählungen in den einzelnen Corpora im NT: Logienquelle Q (165-189), Markusevangelium (193-376), Matthäusevangelium (379-510), Lukasevangelium (513-655), Johannesevangelium (659-777), die apokryphen Evangelien (781-903). Sorgfältig sind auf 180 S. die Verzeichnisse erarbeitet: eine Tabelle aller Jesus-Wunder (905-915), die Mitarbeiter, 76 Seiten Literatur, Stellenregister AT, NT, pagane Literatur, Rabbinische und „außerkanonische christliche Schriften“. Ein Sachregister ist sehr wertvoll, allerdings bei vielen Einträgen mit vielleicht 80 Nachweisen wäre eine Unterteilung nötig.
Man wird das Kompendium handbuchmäßig nutzen, d.h. für die einzelnen Wundererzählungen. Um sie vergleichbar zu halten, hat RZ eine Gliederung vorgegeben (55): Bestimmung der zentralen Aussage durch einen Titel für die Wunder, eine neue Übersetzung, eine sozialhistorische und eine religionshistorische Erklärung, dann die Auslegung im Kontext der Theologie des jeweiligen Evangelisten, Parallelen und ein Raum für die Rezeption.[4]
Die Einleitungen jedoch sind Handbuchartikel, die grundlegende Fragen für sich behandeln und vor den Einzelkommentaren zu lesen sind. Umsichtig begründet RZ in seiner Hinführung (5-68) den Perspektivwechsel von der (heute nicht mehr denkbaren) „Realität Wunder“ zur Wundererzählung. Erst untersucht RZ die Semantik der verwendeten griechischen Begriffe, v.a. θαῦμα thauma (zu θαυμάζειν „staunen“) und σημεῖον semeion „Zeichen“. Dann wendet er sich literaturwissenschaftlichen Methoden zu. Er fragt in Auseinandersetzung mit Klaus Berger, ob es eine Gattung Wundererzählung gebe,[5] und findet gute Argumente dafür (RZ 24 f), dass die Evangelisten das so sahen. Dem Satz von Detlev Dormeyer ist zuzustimmen: „Gattungen greifen die Lesererwartung auf und lenken sie.“[6] Die Geschichte als Erzählung, also literaturwissenschaftlich die Narratologie, führt die Unterscheidung ein zwischen Erzählung als Realistik oder Fantastik. Zu Recht wendet RZ ein, dass auch Erzählungen als „Realistik“ fiktive Elemente einfügen, Erzählungen sind keine Protokolle.[7] Wundererzählungen sind Erzählungen, die andere derartige Erzählungen kennen, sog. Prätexte.[8] Theißen ergänzte, sie erzählen die Prätexte in gesteigerter Form.[9] Aus der Sicht des Philologen und Religionswissenschaftlers leidet die Perspektive unter ihrer zu engen Fokussierung auf die Wunder Jesu. Weder gibt es ein eigenes Kapitel zu den Wundererzählungen in der Hebräischen Bibel, v.a. Elia und Elischa (im Index beide vielfach genannt, aber nicht im Zusammenhang). Sind die schon der Erzähltradition des Hellenismus zuzuordnen? Oder gibt es eine ältere hebräische Tradition? Aber vor allem ist eben die Tradition der hellenistischen Wundererzählung nicht eigens dargestellt, zu der die Gattung der Wundererzählungen über Jesus als vorauszusetzender Kontext zuzuordnen ist: die Unterscheidung in „Unmögliches“ ἀδύνατα und „worauf man schon nicht mehr zu hoffen wagte“ παράδοξα. Die griechisch-hellenistische Tradition wird immer nur in Abgrenzung scheibchenweise vorgestellt.[10] Nötig wäre eine Darstellung der antiken Erzähltradition und ihrer Gattungen und Medien: Heilungen, Epiphanien, Utopien – Dankinschriften, Heilige Schriften, Biographien von Wundertätern, Karikaturen von Wundertätern, Geschichtsschreibung.[11] Die Inschriften von Epidauros und Kos sind nicht direkt mit der Gattung der NT-Erzählungen zu vergleichen, der beißende Spott des Lukian ist etwas völlig Verschiedenes zu den Erzählungen von der Wunderheilungen des Kaisers Vespasian oder des Apollonios von Tyana.[12] Unter den neuen Forschungen zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit fehlt vieles; die vorzügliche Untersuchung von Florian Steger, wie ärztliche Kunst in der römischen Kaiserzeit nicht gegen Wunder ausgespielt wird, ist einmal explizit verwendet, gehört zu den grundlegenden Arbeiten. Erst wenn die klassisch-antiken Wunder in ihren Gattungen und Medien bearbeitet sind, kann man die Unterschiede (und ihre Gründe) herausarbeiten.[13] Eine Darstellung der Forschung im Rahmen einer Wissenschaftsgeschichte fehlt völlig (Bultmann im Kontext der Religionsgeschichtlichen Schule und als Dialektischer Theologe). Für die Leser dieser Seite ist von besonderem Interesse die Frage: Wie kann man Wunder im Religionsunterricht behandeln? Christian Münch, 140-155 verfällt allerdings schnell, um dem Wunder als Sache und Ereignis zu entgehen, auf ein, wie er sagt, metaphorisches Verständnis. „Blind“ könne eben auch metaphorisch verstanden werden. Ja, das legt etwa Mt 20, 29-34 ausdrücklich nahe („wer ist da blind?“), aber eben erst nachdem Jesus den somatisch Blinden geheilt hat. Der Perspektivwechsel auf die Erzählung hin ist hier nur halbherzig vollzogen. Besser ist da das Kapitel, Wie heute Wunder predigen 156-161.
Unter den Bearbeitungen zu einzelnen Erzählungen ist mir aufgefallen die hervorragende Erklärung von Martin Ebner zum Exorzismus in Gerasa (Markus 5, 1-20). Gut die Geschichte von der Palme, die sich zu Maria herunterneigt, damit sich die Erschöpfte an den Datteln laben kann, die auch im Koran (Sure 19) erzählt ist und sich in Konkurrenz zur Palme von Delos stellt, wo Apollon und Artemis zur Welt kamen (Silke Petersen). Zu ergänzen ist die Neuerzählung in der Kreuzfahrerzeit bei Arnold von Lübeck, wo sie mit einem Straf- und Heilungswunder verbunden ist.[14]
Immer noch behindert ein scheinbarer Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und antikem Weltbild das Hören der Wundererzählungen. Die katholische Definition bei der Heiligsprechung fordert von einem Heiligen ein Wunder, das contra naturam geschehen sei. Ein durchaus modernes Wunderverständnis ermöglicht aber eine andere Deutung. Obwohl ich weiß, dass ein Arzt mit Medikamenten die Krankheit geheilt hat, ist die Gesundheit für mich ein Wunder: Das Wahrnehmen, nicht der Krankheit, nicht dem Zufall ausgeliefert zu sein, sondern Hilfe zu erfahren und über den Alltag hinaus zu schauen. Und das in dem Bewusstsein, dass auch der Tod, der unweigerliche physische Tod nicht das letzte Wort hat.
Ein ganz wichtiges Buch sowohl in den Einzelauslegungen wie in den Grundsatz-Einleitungen. Es gehört in jede Bibliothek, auch jeder Lehrer sollte es zur Hand haben. Religionswissenschaftlich ist die Engführung auf die neutestamentlichen Wundererzählungen zu beklagen. Aber auch so ist es ein wichtiger und weiter Schritt aus der unbrauchbaren sog. Entmythologisierung heraus, die die Texte und Erzählungen nicht mehr ernst genommen hat.
5. März 2014 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft, Universität Bremen
[1] Im Folgenden meist abgekürzt mit den Initialen RZ (wobei öfter das Team der Herausgeber gemeint ist, das das Konzept erarbeitet hat).
[2] Meine Rezension hier im RPI-Virtuell: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2008/06/29/kompendium-der-gleichnisse-jesu-herausgegeben-von-ruben-zimmermann/
[3] Eine vollständige und differenzierte Typologie bei Gerd Theißen: Urchristliche Wundergeschichten. (StNT 8) Gütersloh: GVH 1974, 61990, 94-120.
[4] Die letztere Frage hatte bei den Gleichnissen gefehlt, ebenso wie eine narratologische Analyse.
[5] Klaus Berger befand in seiner Formgeschichte des NT. Heidelberg 1984, 305, dass eine solche Gattung ein modernes Konstrukt sei und nicht mit antiken Auffassungen zu begründen sei. RZ antwortet, Gattungen sind immer in einem gewissen Umfang Konstrukte, aber schon in der Antike sind sie so konstruiert.
[6] Dormeyer 2004, 132; RZ im Kompendium 2013, 24.
[7] In der Geschichtswissenschaft debattiert in Auseinandersetzung um Hayden White, Auch Klio dichtet. (1986). Die Diskussion müsste allerdings die wesentlich weitere Dimension aufgreifen, einmal den Schleier der Erinnerung, den Johannes Fried (München: Beck 2004) eindringlich vorgestellt hat. Zum andern aber die Vorstellung vieler Historiker, man könne (mit Leopold von Ranke) letztlich zu dem vordringen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Zur Illusion der „Fakten“ Otto Gerhard Oexle: Die Wirklichkeit und das Wissen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, 691-833.
[8] Prätexte zu lat. textus Text und prae vorher. Diese Texte liegen nicht auf dem Schreibtisch des Autors, sondern sie können auf vielfältige Weise bewusst oder unbewusst beim Schreiben im Kopf des Autors (und seines Publikums) präsent sein: dazu hat die Literaturwissenschaft das Modell der „Intertextualität“ entwickelt.
[9] RZ’s Modifikation, beim Wiedererzählen werde „unweigerlich“ das faktuale Erzählen durch fiktionale Elemente angereichert (40 f), ist zu einfach. Auch das Umgekehrte, etwas weniger unrealistisch zu erzählen, muss bedacht sein. Und weiter ist der implizite Zweifler Teil der Gattung (J.Z. Smith).
[10] Die Klassiker Otto Weinreich (im Literaturverzeichnis nur Antike Heilungswunder 1909) und Richard Reitzenstein Hellenistische Wundererzählungen (1906) seien überholt (25); dagegen wird Rudolf Herzog 1931 (Die Wunderheilungen von Epidauros 1931; nicht seine Koische Forschungen 1899) vielfach zitiert. Die neue Forschung ist kaum rezipiert. Auch die Gruppe um Christoph Markschies, die Forschungen zum Zusammenhang von Heil und Heilung in der christlichen Antike, insbesondere zu den Dämonen unternimmt, ist nicht rezipiert; dazu zuletzt: Heil und Heilung. Inkubation – Heilung im Schlaf. Heidnischer Kult und christliche Praxis. Sonderheft der Zeitschrift für Antikes Christentum 17, 2013.
[11] Dazu gut, aber nur auf diese Frage konzentriert Dormeyer 69-78.
[12] Enno Edzard Popkes 85: Die NT-Erzählungen hätten die hellenistischen Wundererzählungen „adaptiert und modifiziert (das gilt auch für Erzählungen von Wundertätern wie Philopseudes, Alexander von Abunoteichos, oder Apollonios von Tyana).“ Warum fehlt hier, ebenfalls von Lukian, Peregrinos Proteus? Dazu Jan Bremmer: Peregrinus‘ Christian Career, in A. Hilhorst, E. Puech, E. Tigchelaar (eds.), Flores Florentino. Dead Sea Scrolls and Other Early Jewish Studies in Honour of Florentino Garcia Martinez. Leiden: Brill, 729-747. Besser differenziert bei Bernd Kollmann 129 und v.a. Merz 113.
[13] Religionswissenschaftlich ausgezeichnet ist der (auch verwendete) kleine Aufsatz von Jonathan Z. Smith: Good News is no News, in: JZS: Map is not Territory. Chicago: UP 172-189. – Am nächsten kommt dem Desiderat das einführende Kapitel von Annette Merz, Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter, 108-123. Weitgehend ohne die komplexen Diskussionen zu Magie und Schamanismus in Religionswissenschaft und Ethnologie bei Bernd Kollmann, Die Wunder Jesu im Lichte von Schamanismus und Magie, 124-139.
[14] Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum 7,8, ed. Georg Heinrich Pertz. MGH-SrG. Hannover 1868, 270, Zeile 18-48.