Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug.
Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie.
(Cultural encounters and the discourses of scholarship 7)
Münster: Waxmann 2015.
554 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2682-5
Kulturkontakt – Kulturkonstrukte:
In den Chroniken gedeutete Erfahrung auf den Kreuzzügen
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Eine der großen Aufbrüche des Mittelalters und weit darüber hinaus[1] ist die Kreuzzugsbewegung. Es war klar, dass wissenschaftlich eine Wende nötig sei aus dem Dilemma der Interpretationen und Perspektiven: zwischen katastrophaler Sackgasse und der Entlarvung/Fehlinterpretation des Christentums/der Religionen als Legitimation von Gewalt (so vorwiegend die westeuropäische Perspektive) und der positiven Aufnahme als solidarischem Kampf für eine gute Sache bzw. Vorspiel des ‚Kriegs der Kulturen‘ für die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Islam und dem Westen (so vorwiegend die angelsächsische Sicht). Im Forschungskapitel Die Entdeckung des ‚Anderen‘ aus dem Geist der Kreuzzüge? (75-171) stellt die Autorin vor und kritisiert fair Orientalismus, Okzidentalismus, Frage der ‚Toleranz‘, Verständnisschranken, Proto-Ethnographie u.a. in der Forschung. Dass die post-kolonialen Theorien und Methoden einen viel reicheren Zugang erlauben als die bisherigen Perspektiven, haben bisher wenige wahrgenommen, kaum umgesetzt.[2]
Das ändert Kristin Skottki[3] mit diesem einzigartigen Buch, das ein Muster für historische Forschung darstellt: Die postkolonialen Theorien voll integrierend, methodisch präzise die alten, bewährten klug rezipierend, begründet sie eine andere Art der Quellenanalyse. An den sieben wichtigsten Kreuzzugs-historiae macht sie klar, dass jede für sich als Ganztext gelesen und verstanden werden muss, nicht als Ausschnitt, an dem man ein historisches Ereignis rekonstruieren kann („Steinbruchmethode“ 254). Historisches Faktum ist die falsche Frage, (Was hat Urban II. in seiner Predigt gesagt, als er 1095 zum Kreuzzug aufrief?) „Kreuzzugschroniken sind gedeutete Vergangenheit“. Sind „Augenzeugen“ die beste Quelle, je näher am Ereignis, desto besser die Erinnerung? Nein, auch die Betonung der Augenzeugenschaft ist ein rhetorisches Stilmittel, das etwas eher Unglaubliches zur Wahrheit behauptet. KS führt dafür ein schlagendes Beispiel an, dass Petrus Tudebode eine Prozession der Muslime gesehen habe mit einer Statue des Mohammed.[4] Mit seinen irdischen Augen oculis carnalibus vidit, kein Traum, keine Vision! (PT 14, 4-6: 272f mit lateinischem Text in Anm. 1205). Oder den langjährig in Jerusalem lebenden Fulcher von Chartres zum angeblichen Götzenbild des Mohammed im Felsendom: Text in Anm. 1344. Diese spezifischen Fragen erörtert KS in großer Umsicht und Kenntnis für mittelalterliche Historiographie insgesamt, ohne sich je zu weit vom Gegenstand Kreuzzugshistorie zu entfernen (172-251). Während wir über die Performanz solcher Historiae noch wenig wissen, liegt eine der großen Stärken der Forschung von KS in der Frage nach der Rezeption der Texte. Nachdem KS selbst einige Handschriften untersucht hat, erklärt die Zusammenstellung mit anderen Texten in der gleichen Handschrift, mit welchem Interesse und Ziel sie so nebeneinander gestellt wurden. Selten die Bemerkung eines Lesers am Rande, dass die Auffindung der Heiligen Lanze bei Raimund von Aguilers als Beweis Gottes, bei Fulcher im gleichen Codex dagegen als dreiste Fälschung bewertet wird. Während die klassische Handschriftenforschung auf der Suche nach dem ältesten und besten Text den der Wahrheit am nächsten, „ursprünglichen“ Text ganz nah zu kommen glaubte, macht KS klar, dass auch dieser Text nur gestaltete Deutung sein kann, die im Fall der Kreuzzugschroniken (nicht als clash of civilizations, sondern) als clash of interpretations nicht zur ‚wirklichen‘ Geschichte zusammengeführt werden kann. In der Analyse der sieben (wichtigsten) Historiae stellt KS auf 170 Seiten (S. 252-420) wichtige Passagen (lateinischer Text je in der Anmerkung) paraphrasierend vor, die Selbstaussagen des ‚Autors‘ (als Teil einer Gruppe, die diese Deutung als für sie bedeutsam ins Gedächtnis schreiben will), woran erkennt man (manchmal sogar eher die Feinde erkennen) das Handeln Gottes im Kreuzzug, wie belohnt, bestraft Gott die fides (Treue, Vertrauen/Glauben) der Seinen? Wie wird Alterität hergestellt? Geben die Chroniken subaltern voices, die Stimmen der Unterworfenen, wieder? Etwa wenn Muslime Kritik an den Kreuzfahrern äußern: „In der mittelalterlichen Geschichtsschreibung kommt nicht unbedingt derjenige zu Wort, der dort angeblich spricht, sondern er wird vom Chronisten dazu benutzt, Eigenes als Anderes auszugeben, um es nicht als unbequeme eigene Wahrheit stehen lassen zu müssen“ (428). Die Behauptung, dass längerer Kontakt zu mehr Toleranz führe, hat KS gegen die Monographie von Christoph Schwinges zu Wilhelm von Tyrus überzeugend widerlegen können 149-171. Da könnte man für diese, der sich als einziger autobiographisch dargestellt hat (Buch 19, 12, erst in der Edition, ed. Huygens, CCM p. 879), noch versuchen zu widersprechen. Das Argument gegen die These Kontakt = Wissen = Toleranz erarbeit KS (gegen Verena Epp) aber besonders an Fulcher von Chartres, der zwanzig Jahre im Orient lebte (411f). Das Islambild bleibt teils stereotyp (“Erstgeburt des Teufels” verwendet der gleiche Autor sowohl für Mohammed wie für den verhassten Patriarchen von Jerusalem!), teils sehr differenziert zwischen Fatimiden, Schiiten und Sunniten. Meist gelten die Muslime als Heiden, selten als (christliche) Häresie (zusammenfassend 414-419; 488f). Scharfe, berechtigte Kritik an Amin Maalouf, der angeblich arabische Quellen zusammenstellt, aber im Wesentlichen auf den gleichen lateinischen Quellen beruht (431f; 495).[5]
KS ist auf dem neuesten Stand der Forschung; die Entdeckung der neuen Quelle in Cambridge (Anm. 845) hat sie aufmerksam notiert. Sie hat selbst Manuskripte in der Bibliothèque nationale Paris untersucht und auf ihre Rezeption hin ausgewertet (auch das ist neu!). Sie hat die postkoloniale Theorie nicht nur wahrgenommen, sondern auf den Gegenstand exzellent angewendet. Das zeigen noch einmal die Tiefenschnitte des Kapitels 5 zu gar nicht gewollten, aber des Berichtens werten Konversionen, zu Kannibalismus der Tafurs als demonstratives Handeln staged cannibalism und seiner Rationalisierung (Hungersnot) 431-446, zur gemeinsamen Abstammung der Türken und der Franken/Franzosen aus Troja. Das ist historische Forschung, wie sie angemessen ist für die Fragen des Kulturkontakts, der Globalisierung. Ein Muster für Verflechtungsgeschichte/entangled history (S. 482)! Man sieht, wie sich so der Horizont öffnet. Das ist Religionswissenschaft und Geschichtswissenschaft vom Feinsten. Die Forschung ist an vielen Punkten enorm weiter gekommen.[6] Ein Meisterwerk!
Bremen, 1. September 2016 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Die Kreuzzugsbewegung geht weit über die ‚Epoche der Kreuzzüge‘ hinaus, die in den Geschichtsdarstellungen auf die Zeit begrenzt werden vom Kreuzzugsaufruf Urbans II. 1095 bis zum Verlust der letzten Besitzung im Orient, dem Fall von Akkon 1291. Während sie für Kolumbus 200 Jahre später noch eine zentrale Motivation darstellt, ist die spätere Rezeption nach der Aufklärung zweigeteilt: einerseits die Christentums-/Religionskritik findet in den Kreuzzügen ihr Objekt, warum Religion zu Gewalt führe. Andrerseits werden die Kreuzzüge zum positiven Vorbild des Kolonialismus (Protokolonialismus) bis in die Gegenwart. Amerikanisch/englisch hat crusade hat einen anspornenden Apell, wie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der amerikanische Präsident Woodrow Wilson einen crusade for democracy ausrief. Und Präsident George W. Bush den Irak-Krieg ein (einziges) Mal als Kreuzug benannte, dann als war against terrorism ausrief. Dazu Felix Hinz (Hrsg.): Kreuzzüge des Mittelalters und der Neuzeit. Realhistorie – Geschichtskultur – Didaktik (Historische Europa-Studien 15). Hildesheim: Olms 2015.
[2] Der Rezensent hat in seinem Kreuzzugsbuch Irdische Wege und himmlischer Lohn 2002 schon eine plurale Perspektive mittels der jüdisch-christlich-muslimischen Traditionen der Religionsgeschichte (mittelalterliche Eschatologie) eröffnet. Bislang ist es trotz der neuen Fragestellung aufgrund der Globalisierung und einer pluralen Kultur noch keinem gelungen, die Fragen nach „Alterität“ methodisch zu bewältigen: Meine Rezension zu neuen Kreuzzugsbüchern [Rez] Kreuzzüge: Diese Geschichte ist nie abgeschlossen. Sammelrezension zu den Büchern von Thomas Asbridge, Jonathan Pillips, Martin Völkl, Gia Toussaint, Christiane Sutter, Klaus Herbers und Nikolas Jaspert, in: https://blogs.rpi-virtuell.de//buchempfehlungen/wp-content/uploads/sites/31/2012/12/Kreuzz%c3%bcge-Rezensionen-2012.pdf. [Rez] Thomas Haas, Geistliche als Kreuzfahrer. Zeitschrift für Religionswissenschaft 22(2014), 414f. Und die große Untersuchung zu anderen Religionen im Mittelalter [Rez] Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.-12. Jahrhundert). 2 Bde., Berlin (Akademie Verlag) 2013 mit meiner Rezension in: francia recensio. http://www.perspectivia.net/content/publikationen/francia/francia-recensio/2014-4/MA/goetz_auffarth http://www.perspectivia.net/resolveuid/f82ed09a6d6c7ed096f73e6bdff1e917
[3] Im Folgenden abgekürzt mit den Initialen KS. Dass dies die Erstlingsarbeit sei, kann man kaum glauben. Geschichtswissenschaft und Religionswissenschaft bilden die methodischen Grundwissenschaften. Was ein Graduiertenkolleg (Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs, Universität Rostock) mit der Kompetenz vieler beteiligter Forscher an intellektueller Atmosphäre erzeugen kann, das hat KS aufgesogen und integriert.
[4] Auffarth, Die Anbetung Mohammeds: Bilder von den Muslimen im Europäischen Mittelalter, in: Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte. (Religionen in der pluralen Welt 1) Münster: LIT 2007, 79-101.
[5] Auch Cobb wird dem Anspruch nicht gerecht, s. meine Rezension auf dieser Seite [Rez] Paul M. Cobb: Der Kampf ums Paradies. Eine islamische Geschichte der Kreuzzüge 2015, in: http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2016/02/01/paul-m-cobb-der-kampf-ums-paradies/ (1.2.2016).
[6] Hervorheben will ich nur das berüchtigte Zitat, dass die Kreuzfahrer bei der Eroberung Jerusalems knietief im Blut der muslimischen Verteidiger wateten (RA 20, Zitat in 299, Anm. 1287). Das sagt nur Raimund von Aguilers und deutet das als Reinigungsritual (KS „Bluttaufe“ 300; 410). Oder die Klärung, warum Raimund die Levante als Hispania bezeichnet: S. 287-290. Oder den Emir von Jerusalem, Al-Afdal, als Clemens (also den Gegenpapst) zu bezeichnen 346-350.