Multikonfessionalität im Alltag – Speyer

Daniela Blum: Multikonfessionalität im Alltag.
Speyer zwischen politischem Frieden und Bekenntnisernst (1555-1618).

(Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 162)
Münster: Aschendorff Verlag, [2015].
X, 411 Seiten

 

 

Minderheitenschutz im Dienst städtischen Friedens:
die Konfessionen in der reformierten Stadt Speyer

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Spannende Konflikte in der lutherisch reformierten Stadt Speyer mit den Vertretern der katholischen und calvinistischen Minderheiten auf dem Weg zu einem spannungsarmen alltäglichen Leben.

Ausführlich: Eine außerordentlich spannende Fragestellung für die Dissertation an der Universität Tübingen: Auch wenn jetzt vor dem Reformationsjubliäum 2017 das Wort Reformation wieder in aller Munde ist, auch der Wissenschaftler, so ist die An­nahme der reformierten Religion nicht einfach eine Entscheidung des Landesfürsten, des Rats der Stadt, jedes Einzelnen – und dann ist es Realität. Nein, das Umstellen auf das neue Leben, die neuen Formen des Gottesdienstes sind noch das Einfachste, nicht mehr um die toten Seelen Sorge zu treffen in Gestalt von Seelenmessen, nur noch die Regeln der lex Christi, also des Neuen Testamentes anzuwenden, usf. Deshalb hat die Wissenschaft seit Ernst-Walter Zeeden die Vorgänge mit dem Begriff ‚Konfessionalisierung‘ beschrieben,[1] um das Prozessuale der Veränderungen in den Bräuchen, Institutionen herauszustellen.[2] In der fruchtbaren Atmosphäre eines Gradu­iertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa, 800-1800“[3]  konnte Daniela Blum[4] das umfangreiche Material zur Stadtgeschichte, zu den einzelnen Kirchen, zum Bistum bearbeiten unter der Fragestellung der Multikonfessionalität. Ein überraschendes Wort angesichts der vielen Städte und Herrschaften, die voll­ständig auf die eine oder andere Konfession überwechselten und andersgläubige vertrieben. Festgeschrieben im Augsburger Religionsfrieden 1555 (cuius regio, eius religio Wes die Herrschaft, dessen Religion müssen seine Untertanen annehmen – Wer sich dem nicht unterwirft, hat das ius exilii, das Recht zum Auswandern).

Um so spannender der Fall der Stadt Speyer, wo alle drei Konfessionen Anhänger fanden und ihre Religion ausübten! Nach einer ausführlichen (1) Einleitung (S. 1-56, dazu am Ende) untersucht DB in Fallstudien folgende Konflikte: (2) in St. Ägidi­en etabliert sich die calvinistische Abendmahlspraxis (57-94). Die Kirche vor den Toren gehört zum Territorium des Kurfürsten von der Pfalz – und der hatte um 1560 die calvinistische Reformation in der Kurpfalz eingeführt. 1572 setzte er an Stelle des amtierenden lutherischen Pfarrer einen Calvinisten ein.[5] Doch schon der Nachfolger Friedrichs III. kehrte wieder zurück zur lutherischen Lehre. Dem Prediger blieb nur die Abreise. – (3) Lutherische Pre­digt in der Kirche der Dominikaner 1569 (95-158). 1569 lässt der Rat die Dominikaner-Kirche öffnen, die Schlösser austauschen, weitere Bänke in die Kirche bringen, damit am folgenden Sonntag ein lutherischer Prediger dort predigen kann. Im anschließen­den Rechtsstreit begründen die verschiedenen Seiten das als Recht oder Unrecht.[6] Der Rat verlangt, weil Raum für die Lutheraner fehle, die Kirche in ein Simultaneum zu wandeln: Zwei Konfessionen in der gleichen Kirche, räumlich und zeitlich getrennter Gottesdienst. Die lutherische Predigt mit Abendmahl und Taufen im Kirchenschiff mit festen Bänken; die Domini­kaner könnten ungestört beten im Chor am Altar.  Der Rat begründet, die Kirche sei von Bürgern gestiftet und zur Gottes Ehre und für die Gemeinde gebaut; die Domi­ni­kaner verlangen ihr Hausrecht. DB verweist auf all­gemeinere Raumkonzepte von Öffentlichkeit und Sakralität. Ihr ist allerdings entgan­gen, dass Kirchenräume semi-öffentlich sind. Das hat Renate Dürr (Mitglied im Gremium der ProfessorInnen dieses GraKo!) in ihren Fragestellungen und Ergebnis­se zur Konfessionalisierung von  Hildesheim und seinem gemischt-konfessionellen Landgebiet herausgearbeitet.[7] – (4) Der Dom mit den Kaisergräbern der Salier als Ausdruck überkonfessioneller städtischer Identität? (159-294). DB arbeitet heraus, wie schon im 15. Jh.[8] eine Entfremdung einsetzt zwischen Erzbischof (der seine Residenz auf der anderen Rheinseite bauen lässt)[9] zum Domkapitel auf der einen, Rat und Bürgern auf der anderen Seite. Zur Bürgerkirche wird St. Georg (s.u. Kapitel 6). Diese Tendenzen ver­stärken sich mit der Reformation, ja die Beziehungen zwischen Domkapitel und Rat seien mit dem Begriff „Angst“ zu charakterisieren. Auch die rituelle Differenzierung ist zu beobachten, wenn der Severinstag jetzt in der Stadt, die Memoria der Kaiser aber im Dom gefeiert wird.[10] Erst spät ist der Dom so weit, dass eine Messe nach Tridentinischem Ritus durchge­führt werden kann und ein theologisch gebildeter Priester Seelsorge und Predigt ‚reformiert‘ (Nachlässigkeit der Priester: 249-255). –
(5) Das Jesuitenkolleg – ein Kristallisationsort katholischer Konfessionalität 295-334. Früh schon bemühte sich das Domkapitel darum, einen aus der Speerspitze der katholischen Reform zu gewinnen, einen Jesuiten, mehr noch, eine Jesuitenschule zu gründen. Sofort schrillten die Alarmglocken beim Rat. Wie verhasst den Protestanten die Jesuiten waren, zeigt der Vorfall (S. 320), als ein Kürschner seinen Sohn verbläut, weil der in der Jesuitenschule lernen will. Das Projekt gelingt und wird ein Erfolg.[11] Interessant die Nachfrage nach dem von den Jesuiten angebotenen Krankenbesuch mit der ‚letzten Ölung‘ bei evangelischen Fami­lien (312-324). – (6) St. Georg – ein Kristallisationsort evangelischer Konfessionalität (335-365). Auch an der Ratskirche überrascht, dass zwar 1561 ein evangelischer Prediger vom Rat eingesetzt wird, aber die Pfründner weiterhin ihre Seelenmessen lesen. Über die Besetzung der Kaplans-Stelle am Katharinen-Altar kommt es 1595/97 zum Konflikt bis hin zu einem Prozess vor dem Reichskammergericht. Aber merk­wür­­di­ger­weise bleibt der Protest gegen den Abbruch einiger der 22 Seitenaltäre im Jahre 1606 aus (358-361). – (7) Fazit 367-374. Personen- und Orts-, kein Sachregister.[12] Das Buch ist sehr gut gebunden mit Fadenheftung.

DB ist ein Buch gelungen, das vor allem in der Aufarbeitung, den längerfristigen Ursachen, Anlässen und Verlauf von Konflikten aus verschiedenen Perspektiven sehr lebendig die Konfessionalisierung in dieser multikonfessionellen Stadt zeigt. Das ist ausgezeich­net aus den Quellen erarbeitet. Schon z.Z. des Augsburger Religionsfrieden war die Stadt mehrheitlich evangelisch. Zum Ende des 16. Jh.s rechnet man mit einem Anteil unter den Bürgern von 0,5% Calvinisten und 0,5% Katholiken, aber 17% der Bevölke­rung bestand aus (katholischen) Klerikern.[13] Ich vermisse die Vergleiche mit anderen multikon­fessio­nellen Städten, etwa das Vorbild für die Konfliktlösung bzw. die stadtinternen Grenzaus­handlungen vor 1555: Der Hammelsburger Vertrag für Erfurt 1530, an dem sich alle späteren Vereinbarungen orientieren.[14] Die Theorie-Diskussion zu Religion, Wissen und Raum[15] führen wenig hin zu dem prallen Leben, das dann in den Konfliktfällen ausgebreitet wird.

 

 Februar 2016                                                                                   Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Programmatisch Ernst Walter Zeeden: Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutsch­land im Zeitalter der Glaubenskämpfe. In: Historische Zeitschrift 185 (1958), 249-299. Zu Zeeden: Markus Gerstmeier (Hrsg.): Ernst Walter Zeeden (1916-2011) als Historiker der Reformation, Kon­fessions­bildung und „deutschen Kultur“: Relektüren eines geschichtswissenschaftlichen Vordenkers. Münster: Aschendorff [2016]. DB kritisiert 5-8 bei Zeeden die Voraussetzung einer konfessionellen Identität.

[2] Diskutiert in den vier Bänden der Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Heinz Schilling (Hrsg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der „Zweiten Reformation“. SVRG 195. 1986. Hans-Christoph Rublack (Hrsg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland (SVRG 197), 1992. Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Die katholische Konfessionalisierung (SVRG 198) 1995. Kaspar von Greyerz [u.a.] (Hrsg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. (SVRG 201) 2003.

[3] An der Universität Tübingen von der DFG gefördertes GraKo 1662 https://www.uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/graduiertenkollegs/gk-religioeses-wissen.html (4.10.2016).

[4] Im Folgenden abgekürzt DB.

[5] Hier ist ein Anstoß von außen nicht bemerkt: Die Fürsten-Familie Nassau initiierte sowohl 1572 in Nassau-Dillenburg also auch in den Niederlanden als auch in Bremen die calvinistische ‚Zweite Reformation‘. Der Abendmahlsstreit entzündet sich zwischen Bernhardt aus dem nassauischen Siegen und dem lutherischen Prediger im Beisein des Nassauischen Rates 58 mit A. 5.

[6] Falsch ist hier der Verweis auf Ketzerprozesse: Diese waren ausgesetzt worden. Vgl. Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswir­kung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“. Tübingen: Mohr Siebeck [2016], 78.

[7] Renate Dürr: Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landge­meinden 1550-1750. (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 77) Gütersloh 2006. Dazu meine Rezension in: Jb niedersächsische Kirchengeschichte 104(2006 [2007]), 358-360.

[8] Eine wichtige Diskussion zur „Nullpunkt“-Muster (mit einen bestimmten Reformationsereignis ändert sich alles schlagartig) bei den Chronisten der Zeit, s. S. 222 Anm. 278.

[9] Das Buch kommt ganz ohne Karten und Bilder aus. Eine Karte des Bistums bei Erwin Gatz: Atlas zur Geschichte und Gegenwart: Heiliges Römisches Reich – Deutschsprachige Länder. München: Schnell & Stei­ner, 2009, Karte 68, S. 132. Eine Karte von Speyer im Pfalzatlas Karten-Band 2(1994), Karte 97: Karl Ru­dolf Müller: Die Reichsstadt Speyer um 1525. Textband 3(1987). Stadtkarte Andreas Rock­stein https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Stadt_Speyer#/media/File:Speyer_Stadtentwicklung.jpg.

[10] 260f. Einerseits die Abgrenzung der Dom-Immunität von der Stadt durch eine Kette, andererseits die Häuser (curiae) der Domkapitulare inmitten städtischer Häuser ist jetzt für Bremen untersucht von Hans-Christoph Hoffmann: Der Bremer Dom im 17. und 18. Jahrhundert. Stade: Landschaftsverband der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 2015.

[11] Hier wäre die Karte notwendig, um die Lage zu verdeutlichen. Wenn die Schule an dem Ort der späteren Jesuitenkirche erbaut wurde, dann ganz nahe an der protestantischen Hauptkirche St.Georg.

[12] Das Wort Rachtung kommt im Kapitel 5 (ab S. 296) häufig vor, erklärt ist es aber nur 58 Anm. 3.

[13] DB 3 mit Anm. 15.

[14] Vom Vertrag existiert keine neuere Edition. Dazu (bes. Anm. 16) Birgit Emich: Zwei Wahrheiten in einer Stadt? Erfurt und die Kultur der Bikonfessionalität im 16. Jh. In: Kontroverse & Kompromiss. Der Pfeilerbilder­zyklus des Mariendoms und die Kultur der Bikonfessionalität im Erfurt des 16. Jahrhunderts. Hrsg. Eckhard Leuschner. Dresden: Sandstein 2015, 267-281. Die altgläubige ‚Festung‘ im Erfurter Dom und die Vereinbarung zum Zusammenleben mehrerer Konfessionen in der gleichen Stadt ist gut doku­men­tiert im eben genannten Katalog Kontroverse & Kompromiss. 2015. – DB kennt natürlich die Forschung zur multikonfessionellen Stadt (bes. 7 Anm. 24), aber wendet sie kaum zum Vergleich an.

[15] DB kritisiert 42 Anm. 175 das Konzept des GraKo, führt aber mit „Transzendenz“ einen noch schä­r­fe­ren Begriff als „Offenbarung“ ein. Religionswissenschaftlich muss man ohne das auskommen, s. Auffarth/ Hubert Mohr: Religion, in: dies. (Hrsg.): Metzler Lexikon Religion. Band 3(2000), 160-172. DB verweist ja selbst mit Recht auf Berger/Luckmann‘s Wissenssoziologie Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit. Dann ist auch Transzendenz nur als Diskurs-Element zu beschreiben.

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