Martina Steinkühler: Die Mädchenbibel
Mit Illustrationen von Angela Gstalter
Hardcover, Pappband,
320 Seiten,
Mit Lesebändchen
durchgehend 4-farbig gestaltet
Gütersloher Verlagshaus 2021
ISBN: 978-3-579-06215-0
24 Euro
Die Mädchenbibel
Eine Rezension von Manfred Spieß
„Es wird Zeit, die Bibel aus ihrer Sicht zu erzählen“ – Dieses Leitmotiv prägt die „Mädchenbibel“ von Martina Steinkühler.[1] Von Frauen und Mädchen berichten die Geschichten der Bibel zwar gelegentlich, jedoch kommen sie nicht so oft als Handelnde oder Betroffene zu Gehör, wie es bei Männern der Fall ist. Es gibt in den biblischen Büchern immer wieder Lücken und Leerstellen, die zum Rück- und Hinterfragen und Weiterdenken anregen. Um diese kümmert sich die Autorin auf ganz besondere Weise. Nicht nur bekannte Frauengestalten wie Sara, Mirjam, Ruth und Maria kommen zu Wort, sondern auch nur knapp erwähnte und namenlose Frauen und Mädchen. Weitere werden hinzugedacht. So entsteht eine Erzählbibel ganz besonderer Art.
Die Magd als Erzählerin
Ganz bewusst verwendet Martina Steinkühler die Perspektive der so genannten „Magd“, nicht „Sklavin“ oder „Dienerin“. Zwar waren die Mägde zu biblischen Zeiten Eigentum von Herren oder Herrinnen, jedoch waren sie auch zum Hausstand gehörig und fungierten als wichtige Helferinnen bei unzähligen Gelegenheiten (vgl. die Sacherläuterung S. 8). Der erste große Erzählkreis ist Saras Mägden gewidmet. Sie erleben die Höhen und Tiefen der Ereignisse um Sara und Abraham mit, schalten sich auch mit gutem Rat und guten Taten ein. Manchmal sind sie auch wie „Schwestern“ angesehen, das kann sich aber auch brutal rasch ändern!
Dramatik pur
„Alle guten Geschichten beginnen am Brunnen“ – dies trifft für viele Begebenheiten zu. Mit großer Dramatik hören wir von Hagar und Ismael, von Isaak und Rebekka, Jakob, Esau, Rahel und Lea – immer aus der Perspektive der Mägde. Ein besonders beeindruckendes Beispiel dafür ist die Geschichte von der drohenden Opferung Isaaks, Genesis 22. Eine Magd schildert ihre Beobachtungen, sie ist „dicht dabei“ und nimmt die Lesenden in das Geschehen mit hinein (23-25). Der Schrecken wird mitgefühlt, so auch in den weiteren Geschichten, etwa wie Mirjam, Moses Schwester, den Tanz um das Goldene Kalb erlebt (132-134) und die schlimmen Folgen wahrnehmen muss! Die Bibel erzählt auch schreckliche Geschichten, und Mädchen und Frauen sind besonders grausam davon betroffen. Martina Steinkühler führt uns zu biblischen Erlebnissen, die man sonst fast nie liest oder in Kirche bzw. Religionsunterricht erzählt bekommt, wie etwa die Vergewaltigung von Dina, der Tochter von Jakob, und die mörderische Racheaktion der Brüder.
Neue Schwerpunkte
Das ungewohnt Andere dieses Buches zeigt sich auch in der Erzählung von Ruth. Vermutete Hintergründe aus dem Leben der wandernden Frauen Ruth und Noomi werden breit entfaltet, der spätere Ehemann Boas wird am Rande auch erwähnt (222). Die Rangfolgen sind anders gewichtet!
Bei David und Michal wird es – neben den kriegerischen Ereignissen – auch romantisch. Der Musiker David berührt mit Harfenklängen die Seele der (erzählenden) Michal und erquickt sie u.a. mit Psalmgesängen.
Nach den Geschichten von Michal springt der Erzählstrang direkt ins Neue Testament. Mit der großen und der kleinen María – einer Schwester von Jesus – stehen Frauen aus den Familien von Jesus sowie Elisabeth, Zacharias und Johannes im Mittelpunkt. Um sie herum gruppieren sich die Geschichten von Johannes und Jesus, jedoch so, dass die Sichtweise der berichtenden Frauen die vorherrschende Perspektive ist.
Ein interessanter Anschluss an die hebräische Bibel, christlich auch das Alte Testament genannt, findet sich bei den Erzählungen von Elisabeth. Hier erfahren die Leserinnen und Leser, in welcher Annäherung – aber auch kritischen Abgrenzung – zu den bekannten Geschichten von Sarah, Simsons Mutter und Hanna die NT-Überlieferung gestaltet ist. Diese Elisabeth strahlt eine große Souveränität aus!
Jesus im Zeitraffer
Die Jesusgeschichten werden wie im Zeitraffer komprimiert dargeboten. Wieder aus dem Blick der Frauen. Was die biblischen Evangelienschreiber so ausführlich bieten, wird in einer ganz anderen Sichtweise dargeboten. Dadurch ist es nicht weniger gehaltvoll, jedoch erfrischend neu, eben in einer Sprache besonderer Betroffenheit.
Denn, so sagen es „Magda und Maria, Susanna, Helena. Maria, unsere Mutter, und meine Schwester Salome … Wir waren da.“ (311)
Perspektivenwechsel als bibel-didaktisches Prinzip
Eine große gestalterische Freiheit kennzeichnet die Erzählungen der „Mädchenbibel“. Jedoch wird diese so konstruktiv genutzt, dass man dies als passende, oft sogar notwendige Ergänzung zum tradierten Bibeltext empfindet. Das Bemühen um sachgemäße Information wird durch ensprechende Sacherklärungen in jugendgemäßer Sprache unterstützt. Und die theologische Seite kommt auch nicht zu kurz. Die Mägde verstehen es, ihre Gedanken über Gott, die Menschen und die Welt in klaren und tiefen Gedanken wiederzugeben; dabei sparen sie aber auch nicht mit Kritik und Widerspruch!
Martina Steinkühler versteht es, durch geschicktes Arrangement die alten Geschichten nah heranzuholen. Dabei schmückt sie auch kräftig aus.[2] So entsteht eine Erzählperspektive, die sowohl ‚dicht dabei‘ ist, aber auch die historische und weltanschauliche Distanz nicht einfach überspielt. Der Perspektivenwechsel der Erzählungen verschiebt traditionelle Schwerpunkte, lässt anderes zum Vorschein kommen.
Die einzelnen Großkapitel sind auf eine pfiffige Art und Weise anschaulich untergliedert. Und zwar durch Überschriften, die direkt in den Text führen. Das ist ungewöhnlich, doch methodisch attraktiv, denn es schafft und erhält Aufmerksamkeit.
Martina Steinkühler hat mit viel Mut, Phantasie und Fachverstand eine Erzählbibel besonderer Qualität geschaffen. Diese lässt sich nicht einfach in eine didaktische Kategorie einordnen, sondern verschafft der Bibeldidaktik einen neuen Ansatz. Für die Verwendung in schulischen und kirchlichen Zusammenhängen tun sich hier viele Möglichkeiten auf. Jüngere und ältere Leserinnen und Leser benötigen keine Vorkenntnisse.[3] Dieses Buch ist einfach auch ein interessantes Geschenk für schmökernde Jugendliche – natürlich auch für Jungen! – zum Eintauchen in die weitgehend unbekannte Welt der Mädchen und Frauen der Bibel.
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Dr. Manfred Spieß, Oldenburg
14.12.2021
[1] Dr. Martina Steinkühler ist Theologin und Religionspädagogin mit dem Schwerpunkt Bibel und Bibeldidaktik. Autorin und Fortbildnerin. Sie arbeitete als Lehrerin, Dozentin, Vertragslektorin und in der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit an verschiedenen Orten in ganz Deutschland.
Mehr: https://www.martina-steinkuehler.de/aktuelles
[2] Die Geschichten der Mädchen und Frauen kommen so ans Licht; das verändert zwar die Erzählung, aber durchaus in bereicherndem Sinn. Und manchmal wird auch etwas hinzugedichtet, z.B. der Brief Davids an Michal, versehen mit dem Hinweis: „Steht nicht in der Bibel“ (252).
[3] Angegeben ist ein Lesealter ab 12 Jahren