Jerusalem

Jerusalem II: Jerusalem in Roman-Byzantine Times.

Edited by Katharina Heyden and Maria Lissek with the assistance of Astrid Kaufmann. 

(COMES 5)
Tübingen: Mohr Siebeck 2021.

593 Seiten. Leinen 154 €.
ISBN 978-3-16-158303-2

 

Wie Jerusalem entheiligt und dann die Heilige Stadt erst für Römer,
dann für Christen und schließlich für Muslime wurde:
Brüche und Kontinuitäten

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ein Sammelband zu Jerusalem in römischer und spätantiker Zeit. Theolog:innenen (Patristiker:innen, der Liturgiewissenschaftler), Archäolog:innen, Althistoriker:innen, die Islamwissenschaftlerin, jüdische wie christliche, präsentieren ihre Forschungen auf höchstem Niveau.

Ausführlich:

Jerusalem ist und war eine aufregende Stadt, die Stadt aus Steinen und die utopische Stadt als Vision. Der vorliegende Band beschreibt in gelehrten Kapiteln Aspekte der Stadt und seiner näheren Umgebung in der römischen Kaiserzeit und in der Spätantike. Eigentlich sind es drei Städte aus Stein, um die es sich hier handelt: (1) Die Stadt ohne den Tempel, den die Römer im Jahre 70 n.Chr. zerstörten bei dem großen jüdischen Krieg, und damit die jüdische >heilige< Stadt desakralisierten, noch gravierender aber als Kaiser Hadrian den Juden verbot, hier noch zu wohnen, und die Stadt zu einer römischen Stadt (Colonia) machte, deren neuer Name jede Kontinuität zur jüdischen Stadt auslöschen sollte: Aelia Capitolina. Der Abstieg zu einer unbedeutenden Provinzstadt, vor allem von Militärs bewohnt, änderte sich, (2) als Jerusalem zur christlichen Stadt wurde. Während bis dahin das Ziel der Christen das himmlische Jerusalem war, wurde allmählich, dann aber intensiv das Heilige Land und die Heilige Stadt Ziel für Pilgerfahrten und Ansiedlung auf Dauer. Besonders Witwen und adelige Damen stifteten Kirchen und Klöster. Als die Kaisermutter Helena Jerusalem und Bethlehem aufsuchte und ihren Sohn Konstantin dazu bewog, die Grabeskirche (griechisch: die Auferstehung, Anástasis), die Geburtskirche und die Himmelfahrtskirche (Eleona) zu bauen, boomte die Stadt. Rom wurde unsicher, besonders seit sie einmal von den Goten erobert und geplündert worden war (410 n.Chr.). Noch in die Spätantike zählt (3) die Islami­sierung der Stadt.[1]

Katharina Heyden und Maria Lissek[2] haben einen Band komponiert mit Kapiteln der jewei­ligen Fachleute. In ihrer Einleitung stellen sie klug Fragestellungen zusammen, die den Band strukturieren. Max Küchler fasst die Baugeschichte der Stadt in der Epoche zusammen, die er in dem hervorragenden Handbuch umfassend beschrieben hat.[3] Christoph Markschies und Ute Verstegen erklären die Christianisierung der Stadt. Dabei stellt sich das Problem: Wonach suchen Forscher:innen, wenn sie ›Christianisierung‹ erforschen wollen: Nach Kirchengebäuden, nach geheiligten Orten (Sakrallandschaft),[4] nach Frömmigkeit, nach dem Aufbau kirchlicher Strukturen, der (höchst hypothetischen) Zahl von Christ:innen, nach Zeichen und Symbolen, die Christ:innen benutzt haben (können)? Verstegen beschreibt archäologisch (fixe) Orte und (bewegliche) Objekte. Markschies, des Problems bewusster, stellt gegeneinander die Grabeskirche und den leeren, gerade nicht christianisierten Tempel­berg. Aber auch die Grabeskirche (im Westen so genannt als Märtyrer-Verehrung; im Osten Anastasis ›Auferstehung‹ als Gottwerdung des Pantokrator Christus) sei kein Steinmonu­ment der Formel der Konzils von Nizäa. Die grundlegendere Frage, warum für Christ:innen das irdische Jerusalem zum heiligen Ort wird, nicht mehr (nur) der Himmel, ist erwähnt, aber nicht erklärt.– Eine besondere Leistung findet sich in der Darstel­lung der Liturgie in Jerusalem: Harald Buchinger fasst seine Forschungen zusammen und stellt in umfangreichen Tabellen die Befunde der Quellen dar (auf 70 Seiten). Die Internatio­nalität und die universale Bedeutung Jerusalems für die Christenheit wird deutlich darin, dass die Erschließung der Jerusalemer Liturgie vor allem auf dem Armenischen und den beiden Georgischen Lektiona­ren beruht – neben der ausführlichen Beschreibung, die die Pilgerin Egeria gegeben hat, die aus Nordspanien/Südfrankreich sich auf die lange Reise machte (etwa 381-384 n.Chr.).[5] Das mimetische Nachspielen der Heilsgeschichte an den verschiedenen Stationen in und nahe der Stadt spielt eine zentrale Rolle, bevor dann die Heiligenverehrung (in Jerusalem der ›Erst-Märtyrer‹ Stephanus) den Kalender mit fast täglichen Gottesdiensten füllt. Die Ent­wicklung der Grabeskirche ordnet der Spezialist Jürgen Krüger in die Tradition kaiserlicher Grabbauten ein. Die Bauforschung ist (endlich) im Gange, so dass neue Ergebnisse zu erwarten sind.[6] Im zweiten Teil geht es zunächst um die römische Aelia Capitolina. Die sehr schwer zu rekonstruierende Topographie und besonders ihrer Heiligtümer (Lag das Iupiter-Heiligtum/Capitol auf dem Tempelberg oder direkt an der Grabeskirche oder doch eher unter der evangelischen Erlöser-Kirche? Wo gab es den Venus-Tempel?) diskutiert mit großer vergleichender Kompetenz Nicole Belayche.[7] Der schwierigen Frage, ob und seit wann Juden wieder in Jerusalem lebten und an Stätten jüdischer Erinnerung beteten, geht Hagith Sivan nach. Das Verbot, in Jerusalem (und hundert Meilen im Umkreis) zu wohnen ist verbunden mit der Gründung der römischen Colonia. (Der Hofhistoriograph Konstantins, Eusebios, hielt die Gründung für das Ergebnis, Jan-Willem Drijvers für den Anlass zum Bar-Kochba-Aufstand [mit Cassius Dio 69,12-14] und datiert auf 130 n.Chr. Ob Juden nur zum Jahrestag der Zerstörung (am 9.Av) zur Klage­mauer durften (wie Hieronymus hämisch berichtet) oder ob bzw. seit wann es wieder eine jüdische Gemeinde gab, ist nicht sicher zu klären. Bedeutende, aber kurzfristige Unterstüt­zung erhielten die Juden durch Kaiser Julians Projekt, den Tempel wieder aufzubauen, und dann durch die Sassaniden, als diese ein paar Jahre die Stadt in ihren Besitz brachten, bevor dann die Muslime die Stadt eroberten. Für diese erneute Wendung, die islamische Stadt, stehen zwei Beiträge am Schluss. Das ist ein Lieblingsthema von Angelika Neuwirth, wie Jerusalem zur ersten Gebetsrichtung der Monotheisten Arabiens schon in Mekka war, also die Utopie der Stadt schon sehr präsent war, bevor die Muslime sie eroberten.[8] Boaz Shoshan blickt von den heutigen Konflikten um die Heilige Stadt dreier monotheistischer Religionen aus auf die Islamisierung der Stadt. Dabei nimmt er sich Abhandlungen über die „Verdienste‹ Jeru­salems‹ von muslimischen Autoren im 8. Jh. vor. Sie nennen die Stadt weiterhin vorwiegend mit ihrem römischen Namen Ilya, verwenden aber auch die koranische Umschreibung al-Quds. Für das christliche Jerusalem sind noch hervorzuheben die Beiträge zu den Pilger­fahrten (Ora Limor),[9] von Andreas Müller, der sein Buch über die christliche Armenfürsorge weiterschreibt,[10] und über das Netzwerk der Kirchenhierarchie von Lorenzo Perrone.

Es ist nicht vermeidbar, dass sich Informationen wiederholen, aber gegensätzliche Aussagen wären doch durch Querverweise in Beziehung zu setzen.[11] Den Herausgeberinnen ist ein wertvoller Band gelungen, in dem die neuen Befunde der Archäologie und die aktuellen Forschungen zur Romanisierung, Christianisierung, Islamisierung und zur jüdischen Präsenz umfassend diskutiert werden: eine sehr aktuelle Bestandsaufnahme mit vielen neuen Erkenntnissen. Einmal mehr ist auch der Verlag zu loben für die Qualität von Druck, Fadenheftung und Leineneinband: eine selten gewordene Qualitätsarbeit für eine lange und intensive Verwendung dieses wertvollen Bandes.

Inhalt Introduction Katharina Heyden/Maria Lissek: Jerusalem: Shape, Life and Claims.
Part One: Shape of the City: Topography and Buildings. Max Küchler/Markus Lau: Topographie und Baugeschichte Jerusalems in römischer und byzantinischer Zeit – Christoph Markschies: Die Christianisierung Jerusalems und ihre Auswirkungen auf die Urbanisierung – Ute Verstegen: Die christliche Sakralisierung Jerusalems von Konstantin bis Heraklios – Harald Buchinger: Liturgy and Topography in Late Antique Jerusalem – Jürgen Krüger: Die Grabeskirche: Entstehung und Entwicklung bis in frühislamische Zeit.
Part Two: Life in and around the City: Economics and Religions. Jon Seligman: The Economy of Jerusalem from the Second to Seventh Centuries – Ronny Reich: The Cultic and Secular Use of Water in Roman and Byzantine Jerusalem – Nicole Belayche: The Religious Life at Aelia Capitolina (ex-Jerusalem) in Roman Times (Hadrian to Constantine) – Hagith Sivan: The Making of Memory: Jerusalem and Palestinian Jewry in Late Antiquity – Ora Limor: Jewish and Christian Pilgrims to Jerusalem in Late Antiquity – Andreas Müller: Jerusalem als Zentrum von Wohltätigkeit in der Spätantike – Brouria Bitton-Ashkelony: Monastic Net­works in Byzantine Jerusalem
Part Three: Claims on the City: Emperors, Bishops and Monks – Jan Willem Drijvers: Jerusalem – Aelia Capitolina: Imperial Intervention, Patronage and Munificence – Lorenzo Perrone: Jeru­salem als kirchliches Zentrum der frühbyzantinischen Reichskirche – Christoph Brunhorn: Die Bedeutung Jerusalems für das Mönchtum der Judäischen Wüste: Monastische Topo­graphie im hagiographischen Corpus Kyrills von Skythopolis
Epilogue: The City in Early Islamic Period – Angelika Neuwirth: Al-masjid al-aqṣā: The Qur’anic New Jerusalem – Boaz Shoshan: The Islamic Conquest: Continuity and Change. Anhang: Antike Quellen, Bibliographie (fast 80 Seiten), Index of Passages, Index of Names, Places and Index of Subjects.

 

Bremen/Wellerscheid, Mai 2022
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Das Thema der Völkerwanderung, das an anderen Regionen des Römischen Reiches massive Verän­derungen schon seit langem verursacht hatte, vermehrt aber seit der Schlacht von Adrianopel (im Jahre 378), ist von Mischa Meier (München: Beck 2020) umfassend aufgearbeitet und dargestellt. Den Krieg zwischen Römern und Sassaniden zur Zeit des (ost-) römischen Kaisers Herakleios und dem Sassaniden-König Chosrau II. nennt James Howard-Johnston: The Last Great War of Antiquity. (Oxford University Press, Oxford 2021). Zum Problem, ob man für den Islam von »Mittelalter« sprechen kann, s. Thomas Bauer (München: Beck 2020). Angelika Neuwirth plädiert dafür, dass der Koran im »Denkraum der Spätantike« (2010) entstanden ist (s. meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ )

[2] Katharina Heyden *1977 in Berlin (DDR) ist seit 2019 Professorin für Historische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern. Ihre Habilitationsschrift beschäftigte sich schon mit Themen des vorliegenden Bandes. Orientierung. Die westliche Christenheit und das Heilige Land in der Antike. Münster: Aschendorff 2014. – Die Dissertation von Maria Lissek ist gerade erschienen Sich selbst durch andere verstehen. Die Kontroversdialoge von Gilbert Crispin und Petrus Alfonsi (Encounters between Judaism and Christianity 1) Leiden; Paderborn: Schöningh 2022.

[3] Das Buch erschien Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007. Es umfasst die Baugeschichte der Stadt von der vorjüdischen Zeit bis zur Gegenwart, ist aber vorwiegend archäologisch ausgerichtet. Die zweite Auflage 2014 ist um ein Drittel gestrafft (statt 1266 Seiten nur noch 816 Seiten); ich bevorzuge die erste Auflage. Ronny Reich, der in diesem Band zu dem Problem der Wasserversorgung in der Bergstadt Jerusalem schreibt, war ein Mitautor an dem Handbuch. Die archäologischen Befunde waren schon in dem dreibändigen Werk von Bieberstein/Bloedhorn (1994) und der dazugehörigen Karte exzellent aufgearbeitet worden. Hinzu kommen die archäologischen Forschungen von G. Avni (2017) und A. Kloner (2000-2003), die teilweise auf Hebräisch geschrieben sind.

[4] »Keine ›Sakraltopographie‹« Verstegen S. 97.

[5] Die Pilgerfahrt der Egeria (bzw. Aetheria) ist zweisprachig zugänglich in der Tusculum-Reihe, hrsg. Kai Brodersen. Berlin: De Gruyter 2016; und in den Fontes Christiani von Georg Röwekamp, Freiburg: Herder ³2018.

[6] Der sehr gut bebilderte Band des Autors zur Grabeskirche (Regensburg: Schnell+Steiner 2000) erfährt bedeutende neue Einsichten. Die neueste Bauforschung ist aber noch nicht publiziert.

[7] Von ihr das Handbuch Iudaea-Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Second to Fourth Century (Religion der römischen Provinzen 1) Tübingen: Mohr Siebeck 2001.

[8] Zu Koran, Sure 17 jetzt der umfangreiche Kommentar von Neuwirth, dazu meine Rezension »Der Kampf um Jerusalem: Historische und ideologische Eroberungen, gespiegelt im Entstehungsprozess des Koran“, zu Angelika Neuwirth; Dirk Hartwig: Der Koran 2.2: Die spätmittelmekkanischen Suren. Berlin: Suhrkamp 2021«. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/21/neuwirth-spaetmittelmekkanische-suren/ (21.3.2022).

[9] Dazu meine Besprechung des Buches von Vlastimil Drbal: Pilgerfahrt im spätantiken Nahen Osten. Mainz 2018, das Limor nicht kennt, hier:
https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/05/28/pilgerfahrt/

[10] S. das Publikationsverzeichnis (Prof. Dr. theol. Andreas Müller — Theologische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (uni-kiel.de) 25.05.2022), 2009, 2013, 2014, 2017.

[11] Verstegen wiederholt die These von der Geburtskirche/Grabeskirche/Himmelfahrtskirche als »ein Glaubensbekenntnis in Stein« (97); so auch Krüger (202), gegen die Markschies gerade (82) gute Gegenargumente präsentiert. Drijvers meint, dass die Grabeskirche nicht mit der Auffindung des Kreuzes verbunden ist (378), während Krüger sogar den genauen Tag der Fundamentlegung und Weihe bestimmt. Es ist von einer Tagung (die es für andere derartigen Bände gegeben hat) die Rede (v), aber man sieht nicht, wie solche Thesen diskutiert und aufeinander Bezug nehmen. Unglücklich ist, dass die Legende zur Madeba-Karte (Abb. 1, S. 23f) nicht gegenüber der Karte zu sehen ist, sondern auf der Rückseite. Die Karten am Schluss 591-593 sind klein und Karte 2 anders orientiert als die anderen beiden Karten. Keine Karte, die Bethlehem, die Kathisma-Kirche oder die Monastic Networks zeigen.

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